Ko-Evolution von Gesellschaft und funktionalem Staat
(Zusammengefaßte Übersicht zum Buch von Böhret/Konzendorf)
1. Einleitung *
2. Phasen der bundesdeutschen Systemgeschichte *
3. Von der Industriegesellschaft zur transindustriellen Gesellschaft *
4. Entwicklungssteuerung für den Übergang durch einen funktionalen Staat *
5. Erkenntnisgewinne *
Kommentar: *
Die Verfasser kritisieren den Pragmatismus und die Ratlosigkeit gegenwärtiger Politik gegenüber steigender Arbeitslosigkeit, zunehmender Internationalisierung von Ökologie und Ökonomie und Folgen der demographischen Entwicklungen, analysieren die Entwicklung der BRD von 1950 bis heute und suchen nach theoretischen Zusammenhängen dieser Entwicklung mit dem Ziel, daraus Schlußfolgerungen für die Gestaltung zukünftiger Politik zu ziehen.
Den Untersuchungen werden folgende 6 Hypothesen zu Grunde gelegt:
Liberal-pluristische Leistungsgesellschaft mit Minimalstaat
In den Jahren 1950 bis 1965 waren freie Marktwirtschaft und reaktives Eingreifen des Staates charakteristisch. Zunehmender Wohlstand ließ soziale Gegensätze zurücktreten. Der Staat trat wenig regulierend in Erscheinung und leitete seine Aktivitäten zunehmend aus den Interessen der Wirtschaft ab. Die Demokratie war eingeschränkt auf eine Kanzlerdemokratie (unter Adenauer), die zwischen den Wahltermin im wesentlichen autark operierte. Die Zustände der Weimarer Republik wurden restauriert. Gegen Ende dieser Periode geriet die Marktwirtschaft in eine Krise. Wirtschaftliche Stagnation und zunehmende Arbeitslosigkeit führten zu der Forderung nach einer stärkeren Globalsteuerung durch den Staat, um aus den Schwierigkeiten heraus zu finden. Politische Konzepte der SPD gewannen an Kraft und führten zur Großen Koalition.
Sozial-liberaler Pluralismus und aktiver Staat
Durch stärkere Einbeziehung gegensätzlicher Kräfte und steuernde Eingriffe des Staates in die wirtschaftliche und technische Entwicklung (Keynesianismus) kam es in den Jahren bis 1975 unter Führung der SPD wieder zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und weiter wachsendem Wohlstand, verbunden mit einem weiteren Ausbau des Sozialstaates. Zunehmende Staatsverschuldung konnten nach 1975 die erneute Stagnation aber nicht verhindern. Neue soziale Bewegungen entstanden, welche die wachsende Macht des Staates problematisierten und eine weitere Liberalisierung forderten.
Spätpluralistische Gesellschaft mit Verhandlungsstaat
Die nach 1980 immer offensichtlichere Stagnation der Wirtschaft wurde nun auf zu starke Eingriffe des Staates in die freie Marktwirtschaft zurückgeführt und der Staat zog sich immer mehr aus einer Einflußnahme auf die Wirtschaft zurück. Die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände verloren an Einfluß und an Mitgliedern, Pluralismus und Individualisierung nahmen stark zu und der Staat konnte immer weniger eine globale Steuerungsfunktion wahrnehmen und überließ die Marktwirtschaft der Selbstregelung. Die zunehmende Komplexität der Probleme wurde immer unüberschaubarer und zur Einflußnahme auf gesellschaftliche Konflikte verlegte sich der Staat immer mehr auf Verhandlungen mit den Konfliktpartner und konnte immer weniger durchsetzen. Die sozialen Verwerfungen nahmen zu, angesichts der Unfähigkeit des Staates, wichtige Probleme zu lösen, breitete sich zunehmend unter der Bevölkerung Politikverdrossenheit mit ständig sinkender Wahlbeteiligung aus. Die Politik wurde eigenartig alternativlos und der Parteieneinfluß auf den Staat nahm zu, ohne dass jedoch wesentliche Politikalternativen angeboten werden konnten. In den Verhandlungsrunden mühsam errungene Kompromisse wurden ständig wieder unterlaufen. Trotz hoher Renditen kann die Arbeitslosigkeit nicht wirksam bekämpft werden.
Grundzüge der Produktionsweise
Die großindustrielle Produktionsweise beruhte auf einer gleichförmigen Massenproduktion, die einheitliche Kundenbedürfnisse voraussetzte. Sie verändert sich zu einer individualisierten Massenproduktion von Komponenten in kleineren Produktionseinheiten, die durch moderne Informations- und Kommunikationstechniken und größere Mobilität mit entsprechender Logistik verbunden sind.
Arbeitsteilung
Vollautomatisierte Massenproduktion von standardisierten Einzelteilen und Endprodukten braucht immer weniger Arbeitskräfte. Stattdessen werden immer mehr hochtechnologische Produkte in kleinen Serien mit hochqualifizierten Arbeitskräften hergestellt.
Planung, Rationalisierung und Wissenserweiterung
Die neue Produktionsweise hat zur Folge, das die Produkte immer weniger materieller Art sind und immer mehr immaterielles Wissen enthalten (Software im weiteren Sinne, Erfindungen, Aus- und Weiterbildung, Pflege und Erhaltung, Organisation): Ausbildung und Wissen erhalten immer größere Bedeutung, gleichzeitig veraltet es schnell und erfordert fortwährende Weiterbildung, die infolge der Flexibilisierung der Arbeitsverträge immer mehr den Arbeitskräften überlassen wird.
Lohn- und Normalarbeitsverhältnisse
Tarifvertraglich abgesicherte kontinuierliche Berufstätigkeit verwandelt sich in diskontinuierliche Arbeitsverhältnisse mit individuellen Arbeitsverträgen für kurz- und mittelfristige Projekte. Nur hochqualifizierte Erfahrungsträger werden noch in den Kernbelegschaften benötigt. Wo früher große Unternehmerverbände und Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen aushandelten, gibt es heute kaum noch Interessenvertretungen und der Lohn wird vielfach individuell vereinbart.
Urbanisierung
Die Verstädterung, Folge der großindustriellen Produktionsweise, wird aufgelöst. Wohnen und Arbeiten erfolgt weitgehend an getrennten Orten, für Ansiedlung sind Infrastrukturen und Kultur- und Freizeitangebote wesentlicher als Industriestandorte und kleine Unternehmen lassen sich eher an Wohnstandorten nieder.
Kommunikations- und Transportsysteme
Trotz zunehmender immaterieller Anteile in den Produkten nimmt nicht nur der Informationsaustausch und die Kommunikation über digitale Netze, sondern auch der Transport von materiellen Gütern zu, wegen zunehmender Globalisierung vor allem über zunehmende Entfernungen.
Szenarien des transindustriellen Gesellschaftsmodells
Für die weitere Entwicklung diskutieren die Verfasser drei mögliche Modelle:
- Szenario A: Mit der linearen Fortsetzung gegenwärtiger Entwicklungstendenzen würden einige soziale und politische Dysfunktionalitäten der 3. Phase der Entwicklung der BRD verstärkt. Mit der Entwicklung der Ökonomie als reiner Marktwirtschaft ohne Sozialpflichtigkeit, mit dem Funktionsverlust der Verbände, der sozialen Atomisierung und dem Abbau demokratischer Prinzipien bewegt sich die Gesellschaft an den Rand des gesellschaftlichen Möglichkeitsraumes oder über diesen hinaus. Dies würde zu einem evolutionären Rückfall oder zu einer stationären Phase führen, die wegen der dauerhaft nicht zu lösenden Probleme zunehmend instabil werden und nicht sehr lange erhalten bleiben dürfte.
- Szenario B: Es wäre ein sozialistischer Weg mit Vergesellschaftung der Produktionsmittel und basisdemokratischer Willensbildung denkbar. Ein solches Szenario ist aber unwahrscheinlich, weil in der heutigen historischen Konstellation die gesellschaftlichen Kräfte zu seiner Durchsetzung nicht mächtig genug erscheinen.
- Szenario C: Durch eine umfassende zukunftsgestaltende Reform zu einem entwicklungssteuernden Staates erscheint es für eine längere Zeit möglich, durch eine gesteuerte Ko-Evolution der Subsysteme die Gesellschaft im evolutiven Möglichkeitsraum zu halten und den nach Szenario A unvermeidlich erscheinenden Absturz zu verhindern, zumindestens solange, bis der Übergang zur transindustriellen Gesellschaft abgeschlossen ist und sich neue Konstellationen der gesellschaftlichen Kräfte ergeben haben.
Vorrangig zu steuernde Politikfelder
- Ökonomie und Arbeit mit den Problemen
- Arbeitslosigkeit
- Staatsverschuldung
- Soziale Schere
- Aus- und Weiterbildung
- Globalisierungsdruck
- Regionalisierung
- Globalisierung und Regionalisierung
- Technologie mit den Problemen
- Rückstand in Schlüssel- und Spitzentechnologien
- Wissenschafts- und Forschungsförderung
- Sinkende Innovationsfähigkeit
- Neue Gefahren technologischer Entwicklungen
- Verbrauch fossiler Energieressourcen
- Informations- und Kommunikationstechnik
- Rüstungsproduktion als Friedensgefährdungspotenzial
- Ökologie
- Demographie mit den Problemen
- Alternde Bevölkerungsstruktur
- Internationale Migrationsbewegung
- Fremdenfeindlichkeit
Zu erwartende Sozialstruktur und Interessenvertretung
- Sozialbrache mit nur spontaner, fragmentierter und befristeter Interessenvertretung und niedrigem Machtpotential
- Industriearbeit, traditionell durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände mit hohem und mittlerem, aber abnehmendem Machtpotential vertreten.
- Wissensarbeiter, nur spontan und punktuell organisiert, mit mittlerem bis hohem, aber zunehmenden Machtpotential
- Querschnittsbereiche, je nach auftretenden Dysfunktionalitäten durch Bürgerbewegungen mit unterschiedlichen Machtpotentialen vertreten
Die politischen Organe sind auf verschiedenen Entscheidungsebenen durch demokratische Wahlen unter Zurückdrängung des Parteieneinflusses und Verlängerung der Wahlperioden zu bilden. Auf den einzelnen Ebenen ist durch unterschiedliche "Innovationsbündnisse" aus politischer Führung, Verwaltung und Externen (Wissenschaftsvertreter, Bürgervertretungen, Laiensachverständigen) die Bürgerbeteiligung zu erhöhen. Diese Bürgerbeteiligungsverfahren sind so zu reglementieren, dass schnelle Entscheidungen möglich werden.
Handlungspielräume des Staates
Die Handlungsspielräume des Staates sind so zu erweitern, dass der gesamte evolutive Möglichkeitsraum abgedeckt und ausgenutzt werden kann, um der Zukunftsteuerung des Ganzen ein größeres Gewicht gegenüber partikulären Interessen einzelner und einiger gesellschaftlicher Gruppen zu verleihen. Dies erfordert, jeden Konservatismus zu vermeiden und die Handlungsspielräume laufend nach folgenden Maßstäben neu auszuloten:
- Entlastung von nicht mehr dringlichen und zunehmend außerstaatlich erledigbaren Aufgaben
- Vorrangige Vertretung solcher Interessen, für die noch keine oder zu schwache Verhandlungspartner vorhanden sind
- Wahrnehmung eines prozessualen Monopols für die Steuerung ökologischer Technikentwicklung und der Folgen demographischer Entwicklungen
- Flächendeckende effektvolle Kontrolle der Güte nicht-staatlicher Aufgabenwahrnehmung bis zur Entprivatisierung bereits abgegebener Aufgaben
- Ständige Überprüfung veralteter staatlicher Rechtsnormen und ihre laufende Erneuerung
- Ständige Überprüfung und Regulierung des optimalen Umfangs der Bürgerbeteiligungsverfahren, um Dysfunktionalitäten zu vermeiden
- Flexible Regulierung der Prämissen für staatliches Handeln entweder nach kurzfristigen betriebswirtschaftlichen oder langfristig entwicklungsfördernden Gesichtspunkten
- Vorgabe der Verteilungsregeln für den materiellen und immateriellen Reichtum der Gesellschaft nach sozialen und gegenwarts-zukunfts-bezogenen Gesichtspunkten
Der Staat muß weniger tun, das wenige aber stärker auf Zukunftsentwicklung konzentrieren und durchsetzen.
Verwaltungsmodernisierung
Die Durchsetzung der neuen Entwicklungsfunktion des Staates erfordert umfangreiche Reformen der Verwaltungsorganisation, des Personalmanagements und der Verwaltungspolitik des Staates, die im einzelnen beschrieben werden, hier aber nicht von besonderem Interesse sind.
Überprüfung der Hypothesen
Die eingangs erwähnten Hypothesen wurden durch die Untersuchungen bestätigt. Der Übergang von der industriellen Gesellschaft zur transindustriellen erfordert einen Übergang vom Verhandlungs- zum flexiblen, entwicklungssteuernden Staat, wenn größere Verwerfungen vermieden werden sollen. Die Ko-Evolution von Gesellschaft und Staat folgt den aus der Theorie der Evolution bekannten Mustern und ist aus ihnen erklärbar.
Bausteine der politischen Theorie der Ko-Evolution
- Theorie der Ko-Evolution der gesellschaftlichen Subsysteme und des Staates: Auch soziale Systeme befinden sich immer zwischen Stabilität und Wandel, Selbstentwicklung und Entwickeltwerden
- Evolutorische Komplexitätstheorie: Entsprechend den Untersuchungen von Kauffman werden auch gesellschaftliche Teilbereiche an den Rand ihrer Stabilität gedrängt und müssen ihre Fitness in einer Fitnesslandschaft beweisen, ohne dass vollständige Information vorhanden ist.
- Modernisierte Chaostheorie: Ordnung entsteht aus Chaos durch Selbstorganisation, das Verhalten eines Systems ist langfristig nicht vorhersehbar, die Prozesse sind irreversibel.
- Evolutive Zeittheorie: die evolutive Zeit ist nicht nur ein ausschließlich linearer oder zirkulärer Prozess, sondern eine Zeitspirale
- Interdependenz und Interaktion: die System- und Handlungsebenen greifen ständig ineinander und sind durch zufallsbedingte Rückkopplungen miteinander verbunden.
Reichweite der Theorie
Die Theorie der Ko-Evolution bietet eine vertiefte Einsicht in die Systemgeschichte und erlaubt vorsichtige , sehr grobe Prognosen. Es gelingt, zumindest näherungsweise
- Die vielfältige Realität zu ordnen
- Die Beziehungen zwischen einzelnen Phänomenen zu verstehen
- Künftige Entwicklungen abzuschätzen
- Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden
- Wege, Programme und Zielstellungen abzuleiten
Die hier vertretene politische Theorie ist in etwa das Gegenteil der von Christoph Spehr ausgearbeiteten Theorie der freien Kooperation. Dennoch hebt sie sich wohltuend ab von der in "Die Planlosen Eliten" dargestellten Ausweglosigkeit und versucht realistische Alternativen für die weitere Entwicklung zu finden. Ob dieser Weg gangbar ist, muß dennoch zunächst in Frage gestellt werden. Es sieht nämlich über weite Strecken aus wie ein letzter Versuch der Rettung des Kapitalismus. Aber es wird von den Verfassern auch anerkannt, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist und sie akzeptieren vorbehaltlos die aus den Erkenntnissen der Evolutionstheorien zu ziehenden Schlußfolgerungen. Als Lösungsweg für eine Übergangszeit in eine fernere Zukunft wäre diese Variante wahrscheinlich akzeptabel, wenn einige Grundfragen noch weiter präzisiert werden, was die Verfasser in Aussicht stellen.