Selbststeuerung
Die Wiederentdeckung des freien Willens
Kommentar zu dem Buch von Joachim Bauer
1. Die charakteristische Fähigkeit des Menschen zur Selbststeuerung zeigt sich in seiner Fähigkeit, sich lohnenswerte langfristige Ziele zu stellen und zielstrebig auf deren Verwirklichung hinzuarbeiten. Verzichtet er darauf, überlässt er sich einer Fremdsteuerung. Selbststeuerung ist auf Selbstfürsorge gerichtete Selbstkontrolle. Erfolgreiche Selbststeuerung ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich im Jugendalter durch gute Erziehung und soziale Kontakte mit anderen Menschen.
Selbststeuerung erfordert das optimale neurologische Zusammenwirken des Trieb- und Basissystems mit dem bewusstseinssteuernden Präfrontalen Cortex des Gehirns. Das Basissystem ist die neurologische Grundlage für triebhafte, spontan und überwiegend automatisch ablaufende Verhaltensweisen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse des Menschen, die Ernährung, Fortpflanzung und Verteidigung sichern. Der dem übergeordnete Präfrontale Cortex ermöglicht Informationsverarbeitung, Fokussierung der Aufmerksamkeit, Zusammenfassung unterschiedlicher Sinneseindrücke, Übernahme der Perspektiven anderer Menschen und Zukunftsplanung. Diese Fähigkeiten des Präfrontalen Cortex sind nicht angeboren, sondern entwickeln sich erst im Kindes- und Jugendalter im und durch den Kontakt mit der sozialen Umwelt. Fehlt dieser Kontakt in den ersten 20 Lebensjahren, so verkümmern diese geistigen Fähigkeiten und fehlen im späteren Leben. Der die Selbststeuerung bewirkende freie Wille wird zwar durch die Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt bestimmt, jedoch nicht in einer Art und Weise, die keinerlei freie Entscheidungsmöglichkeiten mehr offen ließe.
Oft wurden die neurologischen Experimente des Hirnforschers Benjamin Libet dahingehend interpretiert, dass jede freie Entscheidung im vornherein durch unbewusste neurologische Vorgänge bestimmt sei und der freie Wille erst im Nachhinein eine bewusste Begründung erfahre. Eine solche Schlussfolgerung widerspricht jedoch neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bedeutsame Entscheidungen, die wir im realen Leben treffen, gehen fast immer aus länger dauernden Abwägungsprozessen hervor, in deren Verlauf wir zur Wahl stehende Möglichkeiten ausloten und am Ende eine teils unbewusste, teils rational bestimmte Entscheidung treffen und in Handlungsplänen fixieren. Die Komplexität solcher Entscheidungen übertrifft bei weitem die den Libet-Experimenten zugrunde liegende einfache Entscheidungswahl. Es kann umgekehrt leicht gezeigt werden, dass Entscheidungen davon beeinflusst werden, ob der Entscheidungsträger davon überzeugt ist, dass er eine freie Wahl hat oder nicht. Der Glaube an die Nichtexistenz des freien Willens ist wie jeder Glaube eine Rechtfertigung für Verantwortungslosigkeit und damit eine Ideologie, die den Evolutionsprozess behindert. Davon zu unterscheiden ist jedoch, dass bei jeder noch so freien Entscheidung zu prüfen ist, ob sie die objektiv vorliegenden Gegebenheiten und Möglichkeiten ausreichend berücksichtigt. Dies jedoch hängt vom Wissen, den Erfahrungen und den Handlungsmöglichkeiten des Entscheidungsträgers ab.2.Selbststeuerung erfordert die Kontrolle des Trieb- und Basissystems durch den Präfrontalen Cortex des Gehirns. Die Fähigkeit dazu muss in den ersten 20 Lebensjahren durch Erziehung, Bildung und Ausbildung erworben werden. Dieser Prozess wurde an 1000 Probanten in einer breit angelegten Universitätsstudie erforscht und nachgewiesen. Dabei zeigte sich eine deutliche Abhängigkeit der Ergebnisse und deren Folgen für das spätere Leben vom Sozialmilieu, in dem die Probanten lebten. Eine konsequente Erziehung in dieser Hinsicht führt zu einem größeren Selbstbewusstsein, zu erfolgreicherer Selbststeuerung und besserer Gesundheit im späteren Leben. Entscheidend für den Erziehungsprozess war dabei die Zuverlässigkeit und Vorbildwirkung der beteiligten Erwachsenen.
Im Kleinkindalter bis zu 2 Jahren ist dem Kind auf Grund seiner Hirnstruktur noch keine Selbststeuerung möglich. In diesem Alter baut sich erst in einer Beziehung zwischen Kind und einer einzigen Bezugsperson ein Selbstbewusstsein auf, das Ich und Du zu unterscheiden lernt. In der Folgezeit ist nachweisbar, dass sich in der Vernetzungsstruktur des Hirns die Struktur der sozialen Vernetzung des Kindes mit seiner Umwelt widerspiegelt. Auf dieser Grundlage können sich bei entsprechender Anleitung durch die Erwachsenen die Fähigkeiten zur Selbststeuerung entwickeln. Fehlte diese Anleitung, so verbleiben schwere Defizite in der Selbststeuerung, die sich bei 20% der 15-jährigen in der Unfähigkeit der Bewältigung einfachster Alltagsaufgaben, wie z.B. der Lösung der richtigen Fahrkarte im Nahverkehr zeigten.
Über einen freien Willen verfügt nur, wer seine Aufmerksamkeit steuern, mehrere relevante Aspekte gleichzeitig im aktuellen Bewusstsein halten, sich realistische Ziele setzen, den Weg dorthin erkennen und mehrere mögliche Ziele gegeneinander abwägen kann. Unabhängig davon nimmt in der Pubertät die Aktivität des neurologischen Trieb- und Basissystems zu, was zu vermehrten Fehlentscheidungen und verstärktem Risikoverhalten führt.
Die von der Arbeitswelt ausgehenden Veränderungen unserer Gesellschaft erfordern die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Erziehung. Diese sind aber in der breiteren Gesellschaft noch nicht angekommen, was zu erheblichen individuellen Verhaltensmängeln und zu Mängeln im Erziehungswesen führt, die den Ansprüchen nicht gerecht werden. Betreuungseinrichtungen verkommen zu Kinderbewahranstalten und erfüllen nicht ihren Erziehungsauftrag. Die Erziehung zu gelingender Selbststeuerung ist ein anspruchsvoller Prozess, der ein Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Freiräumen sichern muss.3. Gelungene Selbststeuerung darf sich nicht grundsätzlich gegen die lustbetonte Befriedigung der Grundbedürfnisse des Menschen richten, sondern sollte im Gegenteil die Selbstzufriedenheit durch volle Ausnutzung der Möglichkeiten erhöhen, die der individuellen Gestaltung des Lebens im gegebenen sozialen Umfeld verbleiben. Wer nicht in der Lage ist, seine eigene Selbststeuerung ausreichend zu beherrschen, wird immer das negative Gefühl haben, von außen manipuliert zu werden. Es kommt deshalb darauf an, durch Selbststeuerung ständig ein Gleichgewicht zwischen den eigenen Interessen und den äußeren Anforderungen der gesellschaftlichen Umwelt herzustellen. Wenn die Lebensumstände die ausreichende Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht zulassen, wäre es falsch, die entstehenden Defizite durch in großem Umfang von außen angebotene Ersatzbefriedigungen wie erhöhte Nahrungsaufnahme, verstärkte Mediennutzung und den Konsum von potenziell Sucht erzeugenden Genussmitteln ausgleichen zu wollen. Leider bieten aber die gegenwärtig vorherrschenden Strukturen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gerade diese Ersatzbefriedigungen in zunehmendem Maße an. Dies hat zur Folge, wie der Autor mit einer Studie an mehreren Kriterien nachwies, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mangelhafte Selbststeuerung zeigt und diesen Versuchungen nicht zu widerstehen vermag.
Die bisherige Evolution des Menschen wurde gerade dadurch ermöglicht, dass er mit seinem Gehirn in der Lage war, vorausschauend zu denken und seine Zukunft zu planen und damit sich selbst zu steuern. Diese Fähigkeit zur Selbststeuerung wurde damit auch mehr und mehr zu einem geistigen Bedürfnis, das seine Weiterentwicklung sichert. Diese Weiterentwicklung erfordert immer mehr Vorausplanung der Zukunft. Wer als Individuum diese Vorausplanung nicht durch Selbststeuerung mitzugestalten in der Lage ist, wird immer weniger einen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft leisten können und dadurch immer unzufriedener mit seinem Leben werden. Umgekehrt ist der Glaube an die Möglichkeit der Zukunftsgestaltung eine Voraussetzung für gelingende Selbststeuerung. Zukunftsgestaltung ist immer gesellschaftliche Zukunftsgestaltung. Deshalb muss gelingende Selbststeuerung immer auch Einflussnahme auf die Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung nehmen. Wenn sie das nicht tut, geht der innere Sinn des Lebens verloren und am Ende verlieren die Menschen den Glauben an sich selbst.
Gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen, die infolge wachendem Arbeitsstresses und vorzeitiger Erschöpfung die Selbststeuerung des Individuums behindern und untergraben, haben deshalb die Tendenz, sich selbst zu verstärken. Das muss im politischen Leben stärker berücksichtigt werden, wenn die Selbstzerstörung der Gesellschaft vermieden werden soll.4. Bei weitem nicht alle Sinneswahrnehmungen des Menschen gelangen in sein Bewusstsein, trotzdem entfalten sie unbewusste Wirkungen, die sein Verhalten beeinflussen können. Dies ist ein Einfallstor für Fremdsteuerungen, denen er jedoch begegnen kann, wenn er über diese Möglichkeiten aufgeklärt ist. Ohne eine solche Aufklärung kann sogar das bewusste Verhalten eines Menschen beeinflusst werde, wenn ihm vorher gezielt unbewusste Wahrnehmungen zugespielt werden. Dies wird im gesellschaftlichen Leben häufig absichtlich ausgenutzt, wie Bauer an zahlreichen Beispielen zeigen kann. Aber auch unabsichtlich erfolgt eine unbewusste gegenseitige Beeinflussung durch soziale Kontakte, die automatisch durch Spiegelneuronen bewirkt wird, die unbewusst Gefühle und Stimmungen von Mensch zu Mensch übertragen, wobei aber immer die bekannten fünf Sinne im Spiele sind. Auch ist es möglich, die Selbststeuerung eines Menschen durch suggestive Zuschreibungen oder geäußerte Vorurteile unbewusst zu beeinflussen. Einer freien Meinungsbildung, die der Selbststeuerung zu Grunde liegt, geht immer ein Prozess der Wahrheitssuche voraus. Die Erkenntnis einer absoluten Wahrheit ist jedoch eingeschränkt wenn nicht sogar unmöglich. Als wahr kann nur das anerkannt werden, was auch von anderen Personen als wahr erkannt werden kann. Wissenschaftliche Wahrheit ist immer das Ergebnis eines sozialen Verständigungsprozesses. Insofern ist es unvermeidlich, dass freier Wille und Selbststeuerung immer auch vom sozialen Umfeld beeinflusst ist.
5. Gelungene Selbststeuerung kann die körperliche Gesunderhaltung in zweierlei Hinsicht beeinflussen. Gesunde Lebensführung und Ernährung fördert die Gesunderhaltung unmittelbar. Aber auch die Bekämpfung von Krankheiten wie Herz-Kreislaufschwäche und Krebs ist durch eine optimistische Lebenseinstellung gezielt möglich. Diese 2.Möglichkeit wird derzeit vom deutschen Gesundheitswesen noch sträflich vernachlässigt.
Die durch Vererbung erworbenen Gene bestimmen zwar im wesentlichen Aufbau und Funktionsweise des biologischen Organismus, ihre Aktivität ist aber in hohem Maße durch die Tätigkeit des Nervensystems beeinflussbar. Insbesondere das Immun- und Abwehrsystem des Körpers wird weit mehr als allgemein angenommen vom Nervensystem gesteuert. Dies zeigt sich vor allem in Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten und Placebos, die wesentlich vom Grad der Aufklärung der Probanden über ihre Wirksamkeit abhängen. Die körpereigenen Heilsysteme sind durch Selbststeuerung aktivierbar, was durch die Schulmedizin bisher noch viel zu wenig ausgenutzt wird. Diese Steuerung erfolgt vor allem durch Hormone, deren Ausschüttung von Gehirnprozessen ausgelöst wird. Diese Steuerung zeigt sich besonders wirksam, wenn der Patient durch wiederholte Anwendung den Erfolg solcher Maßnahmen erleben und dadurch lernen kann. Jeder Mensch besitzt im Großhirn gewissermaßen einen Inneren Arzt, der ihm hilft, seine Krankheiten zu bekämpfen. Der behandelnde äußere Arzt sollte stets versuchen, Kontakt mit dem Inneren Arzt aufzunehmen, um die Behandlungserfolge zu verbessern. Für eine solche Kontaktaufnahme ist es wichtig, das es dem Arzt gelingt, das Vertrauen des Patienten zu erlangen. Die daraus resultierenden Anforderungen an die Fähigkeiten der Ärzte sind, wie die Praxis zeigt, häufig bei weitem nicht gewährleistet.6. Selbststeuerung kann einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der persönlichen Gesundheit und zur persönlichen Zufriedenheit leisten. Dabei muss Selbststeuerung aber aus einem eigenen freien Entschluss heraus wahrgenommen werden. Von der sozialen Umgebung einer Person kann deren Selbststeuerung daher nicht in irgendeiner Weise gefordert, sondern höchstens ermöglicht und gefördert werden.
Körper, Gene und Gehirn stehen in ständiger Wechselwirkung. So wie die Aktivitäten des biologischen Organismus durch die Gene gesteuert werden, wird die Gen- aktivität oder -inaktivität durch biologische Prozesse, Umweltfaktoren und soziale Erfahrungen und Eindrücke ausgelöst. Auf diese Weise kann der Körper Fehlentwicklungen reparieren. Wir können nicht nur durch unser Verhalten krebsverursachende Einwirkungen der Umwelt verhindern, sondern unser Immunsystem kann auch die Umwandlung der Körperzellen in Krebszellen reparieren und so das Krebsrisiko vermindern.
Oft wird der Entschluss, eine gesundheitsgefährdende Lebensführung zu verändern, durch das Verhalten der sozialen Umgebung behindert. Diese Behinderung muss durch freien Entschluss des Individuums überwunden werden, um eine erfolgreiche Selbststeuerung zu realisieren. Joachim Bauer beschreibt einige Methoden, wie eingefahrene Gewohnheiten und äußere Behinderungen einfacher durchbrochen werden können.7. Der mit unserem Bewusstsein verbundene freie Wille ermöglicht es, alle von außen und aus dem eigenen Inneren eintreffenden Reize und Wahrnehmungen einem Verarbeitungs- und Bewertungsprozess zu unterziehen, bevor wir mit einem Verhalten und dem Ausführen einer Handlung darauf reagieren. Nur in den Fällen, in denen unsere unbewusst gesammelten Erfahrungen uns nahe legen, hierzu keine Zeit zu haben, reagieren wir auf solche Reize unbewusst im Affekt.
Bertram Köhler
März 2017