Nachdenken über Thilo Sarrazin

Kommentar zu seinem Buch: Deutschland schafft sich ab

 

Nachdenken über Evolution erfordert notwendig auch eine Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Die Gedanken, die er darin niedergelegt hat, sind eine logisch konsequente Anwendung der Evolutionstheorie, insbesondere in der Form, wie sie Peter Mersch in seiner Systemischen Evolutionstheorie ausgearbeitet hat. Aber wenn die Perspektiven nicht stimmen und nicht allseitig die Realität beschreiben, sondern einseitig von einem deutsch-nationalen Standpunkt her ausgewählt werden, kann auch das abgeleitete Ergebnis nur eine kleinkarierte einseitige Weltsicht sein. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Evolutionstheorie nicht auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendbar sei, ist sicher nicht gerechtfertigt. Wenn sich Schlussfolgerungen ergeben, die entweder nicht den Grundsätzen gegenwärtiger Politik entsprechen oder humanistischen Idealvorstellungen nicht gerecht werden, hilft es nicht, den Kopf in den Sand zu stecken und die Evolutionstheorie einfach zu ignorieren. Davon scheint man aber aus zu gehen, wenn man die Aufregung betrachtet, die das Erscheinen des Buches in der Öffentlichkeit erzeugt hat. Das Zahlenmaterial, das Sarrazin zusammengestellt hat, beweist ja im Grunde genommen, dass die Evolutionstheorie  in der Gesellschaft wirkt und gemäß der von ihr erkannten Prinzipien die beschriebenen Tatsachen entstehen. Begrüßenswert ist, dass Sarrazin mit Wunschvorstellungen aufräumt, die nicht den Realitäten entsprechen. Aber was ist zu hinterfragen?

Fakt ist, dass die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen geprägt sind von gegensätzlichen Strömungen. Auf der einen Seite wirken Kräfte, die auf den Erhalt der historisch entstandenen kulturellen nationalen Eigenheiten gerichtet sind und eine Unterwanderung der deutschen Kultur durch Migrationsströme unterbinden wollen. Diese Kräfte werden natürlich objektiv durch das Buch unterstützt, aber das Buch ist deshalb nicht falsch, sondern aufklärerisch. Gleichzeitig muss man zur Kenntnis nehmen, dass große Teile der Bevölkerung den darin vertretenen Ansichten anhängen, insofern ist das Buch auch populistisch.

Auf der anderen Seite erfordert der Prozess der Globalisierung das Zusammenwachsen der Nationen. Nur durch Überwindung der Konkurrenz der Nationen und deren solidarische Zusammenarbeit können die aus der Übernutzung der Ressourcen der Erde erwachsenden Gefahren gebändigt und langfristig das Überleben der Menschheit gesichert werden. An Vorschlägen für eine Migrationspolitik, die diese Ziele fördert, hat Sarrazin nichts zu bieten, obwohl die Evolutionstheorie hier auch mit Beispielen für Symbiose, Herden- und Staatenbildung aufwarten könnte. Konkurrenz und Solidarisierung stehen überall im Widerspruch miteinander und sind typisch für jede Theorie der Evolution. In seinem Buch stellt Sarrazin im 8.Kapitel die Konsequenzen alternativer Entwicklungen nur für Deutschland dar. Es fehlt ein 9.Kapitel mit einer Analyse der Folgen für die gesamte Menschheit. Sieht  Sarrazin nicht die Gefahr, dass die führenden Nationen weiter gegeneinander aufrüsten und zurückgebliebene Nationen wirtschaftlich ausbeuten oder hält er das für richtig und gut für Deutschland?

 Letztlich ist das Buch lediglich ein Ausdruck der in der Evolutionstheorie enthaltenen, ungelösten und unlösbaren Widersprüche, die es auch verhindern, in ihrem Rahmen die zukünftige Entwicklung eindeutig vorauszusagen. Wohin sich die Gesellschaft entwickeln wird, bestimmen ihre Akteure von Schritt zu Schritt, so wie dies bisher immer in der Evolution der Fall war. Das Ziel ist nicht voraussagbar, die Zukunft ist offen.