Die Evolution der Psyche

Nach Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie

Inhalt

Einleitung

In dem Buch "Grundlegung der Psychologie" bemüht sich Klaus Holzkamp, die Methodik der Psychologie einer Kritik zu unterziehen und diese auf einer konsequent dialektisch-materialistischen Grundlage neu aufzubauen. Ein großer Teil seiner Ausführungen ist deshalb einer Neubestimmung der in der Psychologie verwendeten Kategorien gewidmet, die er dem Gegenstand psychologischer Untersuchungen angemessen definieren will. Von dieser Position aus kommt er dann zu einer Kritik der bürgerlichen Psychologie. Diese Seite interessierte mich weniger und wird deshalb im Folgenden weitgehend unbeachtet gelassen. Daneben beschreibt Holzkamp aber als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen die phylo- und ontogenetische Entwicklung der Psyche der Lebewesen einschließlich der des Menschen, was wiederum einen sehr starken Bezug auf die Evolutionstheorie aufweist und in diesem Zusammenhang hier ausgewertet werden soll. Insofern unterscheidet sich die hier dargelegte Betrachtung grundlegend von der von Stefan Meretz vorgenommenen.

Desweiteren hat Annette Schlemm eine ganz hervorragende Darstellung der Menschwerdung und des Menschseins aus der Sicht der Kritischen Psychologie ins Internet gestellt.

Die Herausbildung der Grundform des Psychischen

Die Grundform des Psychischen wird erreicht, wenn der Organismus die Fähigkeit verliert, Nahrung unmittelbar durch die Körperoberfläche aufzunehmen, und Sinnesorgane herausbildet, welche die Auswertung von Umweltsignalen übernehmen, um über Frühformen eines Zentralnervensystems Ortsveränderungen des Organismus auszulösen, um an Nahrung heranzukommen. Der phylogenetische Prozess der Herausbildung des Psychischen erfolgt in 5 Schritten:

 

Funktionsebenen des Psychischen

  1. Auf der untersten Ebene des psychischen erfolgt lediglich eine Gradientenorientierung, die Konzentrations- und Energiegefälle feststellen und unspezifisch für eine Hin- oder Wegbewegung auswerten kann. (Geruchs- und Geschmackssinn, Temperaturgefälle, Hell-Dunkel-Sehen).
  2. Auf der zweiten Ebene ist eine Distanzermittlung möglich, die im Zusammenwirken von Licht- und Tonsignalen mit gerichteter Bewegungsaktivität eine räumliche Orientierung gestattet. Auf dieser Ebene verselbständigt sich die Orientierungsaktivität zu einer parallelen Informationsauswertung mehrerer Sinnesorgane mit bedeutend höheren Anforderungen an das Nervensystem zur Identifizierung räumlich entfernter Gegenstände und ihrer Aussonderung aus der übrigen Umwelt.
  3. Auf der dritten Ebene erfolgt eine Differenzierung unterschiedlicher Gegenstände und eine artspezifische Zuordnung von Bedeutungen wie Freßfeind = Weglaufen, Beute = Angreifen, Nahrungsmittel = Verzehren, Sexualpartner = Kopulationsaktivität. Dadurch werden an das Nervensystem Anforderungen zur Merkmalskombination gestellt. Diesbezügliche Fähigkeiten werden durch größere Lebenssicherung der betreffenden Individuen und erhöhte Fortpflanzungswahrscheinlichkeiten artspezifisch selektiert, sind reine Instinkthandlungen und haben noch keinen individuellen Lernbezug.
  4. Auf der nächsten Ebene ordnet sich zwischen Feststellung der Bedeutung und Ausführung der zugeordneten Aktivität eine emotionale Bewertung anhand des inneren Zustandes des Organismus ein. Die betreffende Handlung wird dann nur ausgeführt, wenn ein innerer Bedarfszustand vorliegt.
  5. Jeder inneren Bedarfsdimension kann nunmehr eine Bedeutungseinheit zugeordnet werden, bei deren Zusammentreffen die zur Behebung der Bedarfssituation erforderliche Handlung ausgelöst wird. Durch ein Geflecht emotionaler Bewertungen wird die Dringlichkeit unterschiedlicher physiologischer Bedarfszustände geordnet und ggf. Aktivitäten ausgelöst, auch wenn physiologische Bedarfszustände noch nicht vorliegen, in der Umwelt aber zuordenbare Bedeutungseinheiten festgestellt werden. Emotionalität wird damit zu einer Gesamtwertung der Bedeutungskonstellation, die über die reine Verrechnung von Sinnenreizen hinausgeht.
  6. Auf der nächsten Ebene übernimmt die emotionale Gesamtwertung eine orientierungsleitende Funktion, die zu einer ungerichteten Suchaktivität führt, bis in der Umwelt die Bedeutungseinheit gefunden wird, die den vorliegenden Bedarfszustand beheben könnte. Dann erst kann die Handlungsaktivität ausgelöst werden.
  7. Die Entwicklung der Psyche wird somit vor allem durch die Auswertung neutraler Signale zu Bedeutungseinheiten vorangetrieben. Da die Selektion entsprechender Fähigkeiten über genetisch gekoppelte Populationen erfolgt, wird gleichzeitig die Erkennung sozialer Bedeutungseinheiten selektiert, die für die Erhaltung der Population positive Effekte haben und auf sozialer Kommunikation beruhen. Es gibt deshalb viele Tierarten, die in dieser oder jener Form Sozialverhalten zeigen und Sozialstrukturen bilden.

Die Phylogenese der Lernfähigkeit

Die zweite Qualitätsstufe psychischer Entwicklung wird mit der individuellen, artspezifischen Lernfähigkeit erreicht. Wieder kann man 5 Entwicklungsschritte unterscheiden:

 

Der Übergang zur gesellschaftlich - historischen Entwicklung

Die nächste Qualitätsstufe der phylogenetischen Entwicklung der Psyche ist verbunden mit dem Prozeß der Menschwerdung und wird nur bei den Hominiden erreicht. Am Ende dieser Entwicklungsstufe geht die phylogenetische Entwicklung der Psyche in die gesellschaftlich – historische über und wird von dieser bestimmt.

  1. Ausgangsniveau der Menschwerdung war das Leben der Primaten im tropischen Urwald, das durch Schwing – Hangel – Klettern, aufgerichtete Körperhaltung, Differenzierung von Händen und Füßen und Ausbau der Sozialkontakte geprägt war.
  2. Durch geotektonische Prozesse hervorgerufene Klimaveränderungen verwandelten einen Teil des Urwald in eine Savannenlandschaft, die einen Teil der Primaten zur Veränderung ihrer Lebensaktivitäten zwangen. Zunehmende Informationsverarbeitung komplexer Beobachtungen, Bildung sozialer Großgruppen zur effektiveren Jagd und Verteidigung, großräumiges Territorialverhalten, Spezialisierung sozialer Funktionen (Jäger, Treiber, Jungenaufzucht an entfernten Orten), Benutzung von Gegenständen als Werkzeuge erforderten immer umfangreichere autarke Lernfähigkeiten und führten im Laufe von 15 Millionen Jahren zur erheblichen Vergrößerung des Gehirns und zur Entwicklung der psychischen Fähigkeiten.
  3. Zunächst nur individuell bei eigenem Bedarf hergestellte und später wieder weggeworfene Werkzeuge werden zunehmend im Voraus für späteren eigenen und den Bedarf anderer Sozialpartner hergestellt und im sozialen Verband gemeinsam angewendet. Damit verbunden war eine erhebliche Steigerung der Qualität psychischer Leistungen, die in der vorausschauenden Planung komplexer Handlungen für gemeinschaftliche Ziele der Lebenssicherung bestanden.
  4. Im folgenden gewinnt der Prozeß der Werkzeugherstellung Dominanz und wird durch die Herstellung von Werkzeugen zur Herstellung anderer Werkzeuge bestimmend für die weitere Qualifizierung des gesamten Lebensgewinnungsprozesses. Damit verbunden ist gleichzeitig der Umschlag von der Dominanz des phylogenetischen Entwicklungsprozesses zur Dominanz des übergeordneten gesellschaftlich - historischen Entwicklungsprozesses, der im weiteren die Evolution des Menschen bestimmt. Mit der zentralen Bedeutung der Schaffung von Werkzeugen und Arbeitsmitteln wird nicht nur die gesellschaftliche Kooperation der Menschen auf eine neue Stufe gehoben, sondern es wird gleichzeitig ein gegenständlicher, Generationen überdauernder Erfahrungsfundus geschaffen, der die aktuelle arbeitsteilige Kooperation in eine vergegenständlichte Kooperationsstruktur überführt. Das in der phylogenetischen Entwicklung dominierende Prinzip der natürlichen Selektion als Entwicklungsfaktor tritt gegenüber der Optimierung verallgemeinerter gesellschaftlicher Vorsorge durch Arbeit immer mehr zurück. Damit wird die weitere Entwicklung der Art nicht mehr durch Genveränderungen, sondern durch Änderungen von Produktionsweisen bestimmt und wesentlich beschleunigt.
  5. Entwicklungsbestimmend für den Gesamtprozeß der Lebensgewinnung ist fortan nicht mehr der von Selektion getragene biologisch - phylogenetische Prozeß, sondern der bis heute nicht abgeschlossene Prozeß zunehmender Vergesellschaftung, der wie jeder andere Entwicklungsprozeß im weiteren Fortschreiten in Bezug auf Progression, Stagnation oder Verfall offen ist. So wie bisher die phylogenetische Entwicklung der Psyche durch die Auseinandersetzung des Organismus mit seiner artspezifischen Umwelt geprägt war, ist durch den Dominanzwechsel nunmehr die weitere psychische Entwicklung durch die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner gesellschaftlichen Umwelt bestimmt. Die ersten Schritte dieser Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt werden noch in der Phase der Menschwerdung vollzogen und finden ihren Niederschlag in genetischen Fixierungen, während später diese Erfahrungen nur noch über autarke Lernprozesse eingeübt und fixiert werden können, also deshalb im weiteren auch vergessen und umgelernt werden können. Im Zuge seiner phylogenetischen Entwicklung tritt die natürliche Umwelt dem Menschen lediglich als vorbestimmte Bedingung gegenüber, er befindet sich in einer Lebenslage, an die er sich anpassen muß. Nach dem Dominanzwechsel tritt an die Stelle der natürlichen Umwelt mehr und mehr die gesellschaftliche Umgebung. Ihr gegenüber befindet sich der Mensch einerseits auch wieder in einer Lebenslage, die von seiner unmittelbaren Kooperationsumgebung vorbestimmt ist und der er sich anpassen muß, andererseits befindet er sich aber in einer durch seine Lebensumstände und seine Individualentwicklung bestimmten Position, von der aus er seine gesellschaftliche Umwelt verändern kann. Primär wird seine Psyche durch seine Lebenslage und durch die erforderliche Anpassung an diese bestimmt, die er im Zuge seiner phylogenetischen undontogenetischen Entwicklung gelernt hat. Sekundär entwickelt sich aber grenzüberschreitender Kontrollbedarf und er versucht, Einfluß auf die gesellschaftliche Umwelt zu gewinnen und diese umzugestalten. Die Möglichkeiten, die ihm hierfür zur Verfügung stehen, hängen jedoch stark von seiner Position und vom Charakter der Gesellschaftsformation ab, in der er lebt und die seine Psyche bestimmt.

Die Phylogenese der Psyche im gesellschaftlichen Umfeld

  1. Das autarke Erlernen neuer Orientierungsbedeutungen zur besseren Befriedigung von individuellen unmittelbar lebenssichernden Primärbedürfnissen verlagert sich zur Erlernung von Arbeitsmittelbedeutungen zur kooperativ vorsorgenden Existenzsicherung in zukünftigen Lebenssituationen. Anfangs ist dabei der unmittelbare Zusammenhang der Mittelbedeutung mit der angestrebten Bedarfsbefriedigung für das Individuum noch einsichtig. Der Austausch der Orientierungs- und Arbeitsmittelbedeutungen verlangte und förderte die sprachliche Kommunikation und die Herausbildung von Begriffen. Die Veränderung von Sexual- und Aufzuchtbedeutungen war demgegenüber nur sekundär.
  2. Nach dem Dominanzwechsel bilden sich gesamtgesellschaftliche Kooperationsstrukturen und als Folge gesamtgesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge. Der Zusammenhang individuell erlernter Bedeutungen mit der angestrebten Bedarfsbefriedigung ist für das Individuum nicht mehr direkt einsehbar und erfordert eine erhebliche Kombination von Wissenselementen, die nur gesellschaftlich vermittelbar sind. Während im Zusammenhang mit der Produktion verallgemeinerte gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten entstehen, kann die Existenz des Individuums auch dann gesichert werden, wenn es sich nicht an den gesellschaftlich notwendigen Arbeiten beteiligt. Es verbleibt ein Spielraum für willkürliche Entscheidungen, der das Subjekt von der Gesellschaft isoliert. Mit der Nichtteilnahme an den gesellschaftlich notwendigen Aktivitäten gerät das Individuum in Abhängigkeit von der Gesellschaft, die es nur überwinden kann, wenn es sich durch autarkes Lernen die Bedeutungszusammenhänge aneignet und dadurch gesellschaftliche Handlungsfähigkeit erwirbt, die ihm so zu einem erweiterten Lebensbedürfnis wird. Die Einschränkung auf die Befriedigung sinnlich – vitaler Lebensbedürfnisse bedeutet gleichzeitig eine Einschränkung seiner gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit, einen Verzicht auf die gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen und damit eine Einbuße an elementarer Lebensqualität.
  3. Die in den Abschnitten 3 und 4 ausgewiesenen Funktionsebenen des Psychischen sind auch in der Phase der Menschwerdung in unterschiedlich ausgeprägter Form erkennbar:
  1. "Individuelle Handlungen entstehen als Realisierungen oder als Beiträge zur Änderung von kooperativ – gesellschaftlichen Ziel – Mittel – Konstellationen verallgemeinerter Vorsorge für die je individuelle Existenzsicherung." Der objektive Handlungszusammenhang umfaßt 3 Teilzusammenhänge:

Das Denken dieses dreigliedrigen Handlungszusammenhanges gewährleistet die Motivation individueller Handlungsaktivitäten nur dann, wenn

Während der selektionsbedingten Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen bildeten die 3 genannten Voraussetzungen noch weitgehend eine vorhandene Einheit, während das in späteren Gesellschaftsformationen nicht mehr der Fall zu sein braucht.

Fehlt eine dieser Voraussetzungen, so sind individuelle Handlungen nicht motiviert, erfolgen unter Zwang oder richten sich objektiv gegen die vorwegnehmende Sicherung der eigenen individuellen Existenz.

  1. Die weitere Entwicklung der Psyche ist dadurch bestimmt, dass sich das gesellschaftliche System verselbständigt und seine innere Selbsterhaltungscharakteristik selbstorganisatorisch reguliert und damit Leistungen langfristiger, verallgemeinerter Naturaneignung, Erfahrungsakkumulation und Lebenssicherung erbringen kann, die der Einzelne in seinen unmittelbaren sozial – kooperativen Bezügen niemals erbringen könnte. Die auf operativer Ebene individuellen Aktivitäten dienen in diesem Zusammenhang der Erhaltung des gesellschaftlichen Systems und nur über dieses vermittelt auch der Lebenssicherung des Individuums.(GdP, S.307) Dieser nur vermittelte und schwer zu durchschauende Zusammenhang hat zur Folge, dass die sich für die Systemerhaltung als notwendig erweisenden Aktivitäten vom Individuum nicht als solche erkannt und akzeptiert werden müssen, sondern vom ihm lediglich als Handlungsmöglichkeit gesehen werden und ihm andere Handlungsalternativen zur persönlichen Lebensgewinnung günstiger erscheinen können. Damit ergibt sich andererseits auch die Möglichkeit, das ihm von seiten anderer Individuen oder von partiellen Herrschaftsinteressen aus Zusammenhänge vorgespiegelt werden, die ihn zu einem Handeln gegen seine objektiven eigenen Interessen motivieren. Die kognitive Durchdringung dieser komplexen Zusammenhänge erfordert in wachsendem Maße den Einsatz rationaler Denkformen zur Gewinnung realistischer emotionaler Wertungen für die vorausschauende Planung seiner individuellen Handlungen, um zu verhindern, dass er sich selbst zum Feinde wird.
  1. Durch den Verlust des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen individueller Handlungsaktivität und individueller Lebenssicherung bleibt das Leben des Individuums auch dann abgesichert, wenn es sich nicht an der gesamtgesellschaftlichen Kooperation beteiligt. Dies führt trotz noch vorhandener interaktiver personaler Beziehungen zu Isolation von der Gesellschaft und Vereinzelung des Individuums. In diesem Zustand ist das Individuum nicht mehr in der Lage, Einfluß auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu nehmen, die ihm dann als naturgegeben gegenübertreten. Will das Individuum dem hieraus entstehenden Zwang ausweichen, kann es nur durch interaktive Kooperation mit anderen Individuen Macht und Handlungsmöglichkeit zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen. Dabei sind die ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten sowohl durch die äußeren Bedingungen und sein Verhältnis zu ihnen als auch durch aus seiner eigenen Vergangenheit resultierende personale Fähigkeiten gegenüber den objektiv vorhandenen Möglichkeiten eingeschränkt. Bei der Gewinnung eines realen Verhältnisses zu diesen eingeschränkten Möglichkeiten spielt das die persönliche Biographie widerspiegelnde Gedächtnis und die denkende Verarbeitung seiner vergangenen Erfahrungen eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung der individuellen Persönlichkeit und ihrer Befindlichkeit im Umgang mit seiner Umwelt.
  1. Einerseits werden die subjektiven individuellen Handlungsgründe immer durch die objektiven Lebensverhältnisse bedingt, denen das Individuum ausgesetzt ist. Dennoch verbleiben objektiv immer noch verschiedene Handlungsalternativen, wie stark eingeschränkt diese auch sein mögen. Trotz der objektiv verbliebenen Entscheidungsfreiheit ist aber auch die >freieste< Entscheidung für das Individuum letztlich aus seinen individuellen Lebensbedingungen heraus begründet. Diese Auffassung von subjektiver Freiheit wird von Holzkamp im Kapitel 7.4 seines Buches ausführlich erläutert. Demnach gehören zu den Prämissen subjektiver Begründungszusammenhänge nicht nur die objektiven äußeren Lebensbedingungen, sondern auch die personalen Bedingungen, die sich als Realisierung menschlicher Entwicklungspotenzen in früheren Auseinandersetzungen realbiographisch herausgebildet haben. Im widersprüchlichen Verhältnis zwischen subjektiver Bestimmung und objektiver Bestimmtheit menschlicher Handlungen kommt zwar der objektiven Bestimmtheit der Primat zu, trotzdem verbleibt dem Individuum auch bei noch so gravierenden Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten immer noch die Freiheit, in seinen Handlungen die gegebenen Möglichkeiten der Verfügungserweiterung zu nutzen oder auf diese zweite Möglichkeit zu verzichten und sich in den gegebenen Handlungsräumen einzurichten. Mit dieser Auffassung von Freiheit wird m.E. der Bestimmung von Freiheit als dem Maß subjektiver Einsicht in die Realisierbarkeit objektiver Möglichkeiten ein äußerst schmaler Variationsbereich geöffnet, der die prinzipielle Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Handlungen begründen soll, während die Rolle des Zufalls unterbelichtet bleibt.

Erscheinungsformen subjektiver Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft

  1. Die bürgerliche Gesellschaft ist dadurch charakterisiert, dass der oben dargestellte dreigliedrige Zusammenhang zwar objektiv vorhanden, im Interesse partieller Herrschaftsinteressen aber in den gesellschaftlich vorherrschenden Denkformen nicht adäquat abgebildet und demzufolge von der Mehrzahl der Individuen auch nicht adäquat verstanden wird. Demzufolge sind die individuellen Handlungen nicht gesellschaftlich motiviert, erfolgen unter Zwang und richten sich objektiv gegen die langfristige Absicherung der Individuellen Lebensinteressen. Durch ökonomischen Zwang werden die individuellen Handlungsaktivitäten auf die partiellen Herrschaftsinteressen der Kapitalvermehrung gerichtet, wobei durch staatlich/gesellschaftliche Institutionen der Anschein erweckt wird, als würde durch leistungsbezogene Bezahlung eine vollständige Absicherung der individuellen Lebensinteressen erfolgen.
  1. Die Gesellschaft tritt dem Einzelnen nicht allgemein, sondern immer in einer ganz spezifisch auf ihn bezogenen Lebenslage und Position gegenüber, in denen sich die Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten konkret darstellen und durch konkrete Herrschaftsinteressen bestimmt werden. Bei jeder seine Lebenslage beeinflussenden/bedrohenden individuellen Handlung hat sich der Einzelne zwischen den beiden Möglichkeiten zu entscheiden, in dem vorgegebenen Verfügungsrahmen zu verbleiben oder diesen zu Überschreiten und dabei seine personalen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu berücksichtigen. Bei Überschreitung des vorgegebenen Verfügungsrahmens tritt er in Gegensatz zu den bestimmenden Herrschaftsinteressen und muß damit rechnen, das er die ihm für den Fall des Verzichts auf diese Möglichkeit zugebilligte Sicherung seiner Lebensbedingungen verliert. Diesem Risiko kann er nur durch interaktiven Zusammenschluß mit anderen Individuen zu Organisationen ausweichen, die mächtig genug sind, der herrschenden Macht mit Erfolg zu begegnen. Beim Verzicht auf diese Möglichkeit handelt er jedoch objektiv gegen seine eigenen Interessen und wird dies nur tun, wenn er hierfür eine subjektive Begründung hat. Diese Begründung wird ihm einerseits von der herrschenden Ideologie nahegelegt, andererseits "sieht" er Möglichkeiten, auch innerhalb des ihm zugebilligten Verfügungsrahmen seine individuelle Lebenslage zu verbessern. Dies gelingt im allgemeinen nur, indem er seine Handlungsmöglichkeiten auf Kosten der Handlungsmöglichkeiten anderer erweitert und damit in dem vorgegebenen Herrschaftsrahmen verbleibt und diesen sogar noch stützt. Auf diese Weise reproduziert sich das vorgegebene Herrschaftsverhältnis stets aufs neue.
  1. Der Versuch, aus dem Arrangement mit den Herrschenden subjektive Vorteile zu erlangen, führt zur Verstärkung der Macht der Herrschenden und langfristig zur Verschlechterung der eigenen Lebensqualität. Die Mitwirkung an der Verschlechterung der eigenen Lebensqualität kann dem Individuum a priori aber nicht bewußt sein und bildet daher die Grundlage für Verdrängung und Realitätsabwehr und daraus resultierende Neurosen. In Abwehr dieser Konsequenzen führt der ständige Verzicht auf eine Erweiterung der vorgegebenen eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten zum Verzicht auf die kognitiven Potenzen des menschlichen Denkens und zu einem eingeschränkten Denken, welches die Möglichkeiten der Erweiterung des individuellen Handlungsrahmens überhaupt nicht mehr in Betracht zieht. Innerhalb dieses eingeschränkten Denkens ist zum Beispiel eine Veränderung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt nicht mehr "denkbar" und der dreigliedrige Zusammenhang zwischen individuellem Handeln und Absicherung der individuellen Existenz reduziert sich unter Realitätsverlust auf einen zweipoligen unmittelbaren Zusammenhang von individueller Leistung und individuellem Konsum. Derart eingeschränktes Denken bezeichnet Holzkamp als deutendes Denken und unter bürgerlichen Verhältnissen als naheliegend und bedingt nützlich für die Bewältigung der Lebensbedingungen, wenn die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten nicht in Frage gestellt werden sollen. Da es aber nicht der Realität entspricht, wird es immer wieder durch "begreifendes" Denken aufgebrochen. Zu diesem Aufbruch führt aber nicht logisches Denken allein, sondern nur im Verein mit Handlungsaktivitäten, welche die vorgegebenen Einschränkungen durchbrechen, die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen durchdringen und zu weiterführenden Erkenntnissen über ihr Wesen beitragen. Das individuelle Handeln in Übereinstimmung mit den objektiv vorhandenen gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen macht die unter innerem und äußerem Zwang aufrechterhaltenen Handlungseinschränkungen in besonderem Maße bewußt, motiviert damit das grenzüberschreitende begreifende Denken und eröffnet neue subjektive Möglichkeitsräume.

Ontogenese der menschlichen Psyche

1. Die phylogenetisch herausgebildeten grundlegenden psychischen Orientierungsaktivitäten bis zur Stufe des subsidiären Lernens zur Differenzierung von primären Orientierungsbedeutungen und Primärbedürfnissen sind in der ontogenetischen Entwicklung angeboren beziehungsweise entwicklungsphysiologisch festgelegt. Damit sind die Voraussetzungen für autarke Lernfähigkeit von vornherein gegeben.

2. In der nächsten Entwicklungsphase des Kindes erfolgt autarkes Lernen durch Probieren/Beobachten in Wechselwirkung mit der Umwelt, wobei die soziale Umwelt in erster Linie durch die Erwachsenen gegeben ist, die das Kind pflegen/unterstützen. In dieser Phase wird auch die soziale Umwelt vom Kind als unbeeinflußbar vorgegeben empfunden und die Kopplung individueller Handlungsaktivitäten mit der beabsichtigten Sicherung der primären Lebensbedürfnisse ist ohne Umwege über nicht überschaubare soziale Handlungszusammenhänge direkt und unmittelbar. Am Ende dieser Entwicklungsphase lernt das Kind zu begreifen, das die Reaktionen der Erwachsenen auf seine Handlungsaktivitäten hin von weiterreichenden Zusammenhängen bestimmt werden, die es aber im Einzelnen noch nicht versteht, und es versucht Einfluß auf diese Reaktionen zu gewinnen. In dem es den bedeutungsgemäßen Gebrauch von Mitteln und Werkzeugen aus seiner Umgebung von den Erwachsenen lernt, hat es noch keinen Begriff von den Aspekten des in sozialen Zusammenhängen Hergestelltseins dieser Gegenstände zu einem vorbestimmten allgemeinen Zweck.

3. Durch spielerisches Malen und Bauen lernt dann das Kind, dass die Gegenstände, Mittel und Werkzeuge "hergestellt" werden können und nicht nur von ihm selbst, sondern auch von anderen gebraucht werden und gerade zu diesem Zweck hergestellt werden. Dadurch bekommt es einen Begriff von sozialer Kooperation auf der operativen Ebene. Die dadurch erweiterten Sozialbeziehungen des Kindes bleiben aber im wesentlichen fremdbestimmt und das Kind lernt, die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten zu akzeptieren, gleichzeitig werden ihm aber die Einschränkungen bewußt und es versucht, die Einschränkungen zu durchbrechen, was ihm in dieser Phase aber noch nicht gelingen kann. Die daraus resultierenden Bedrohungen seiner Handlungsfreiheit sind die Ursachen seiner kindlichen Angst und es empfindet die einschränkenden Handlungen der Erwachsenen als gegen seine Person gerichtete Willkür, die ihm sein Abhängigkeitsverhältnis besonders deutlich macht und eine Motivation in Richtung auf "Erwachsenwerden" erzeugt, weil es glaubt, damit und nur so diesem Abhängigkeitsverhältnis entkommen zu können.

4. Auf der nächsten Stufe der Entwicklung kommt das Kind mit dem außerhäuslichen Leben der Erwachsenen in Berührung und lernt soziale Bedeutungs- und Handlungszusammenhänge kennen, auf deren Grundlage ihm klar wird, daß es auch als Erwachsener nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten haben wird, auch wenn sie den häuslichen Rahmen bei weitem überschreiten. Gleichzeitig entwickelt sich das Kind aus Verhältnissen, die ausschließlich als eine durch häusliche Pflege/Unterstützung abgesicherte Lebenslage charakterisiert sind, in eine soziale Position, von der aus im Prinzip ein Handeln in sozial – kooperativen Zusammenhängen möglich ist. In den auf Erziehung/Bildung ausgerichteten Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft werden zwar auf Grund der vorherrschenden deutenden Denkformen verfügungsüberschreitende Handlungsweisen unterdrückt, dennoch versuchen Heranwachsende in dieser Situation durch soziale Zusammenschlüsse Machtpositionen zu begründen, die ihnen grenzüberschreitende Handlungsaktivitäten ohne Risiko negativer Rückwirkungen auf ihre Lebenslage ermöglichen sollen. Im Zuge der Realisierung dieser Möglichkeiten wachsen Jugendliche aus den nur direkt vermittelten Zusammenhängen von individuellen Handlungsaktivitäten und Lebenslage im Elternhauses in die objektiv dreigliedrig vermittelten gesellschaftlichen Zusammenhänge hinein, die auch für alle Erwachsenen gelten, wodurch sie vor die gleichen Entscheidungen bezüglich einer Überschreitung der durch Fremdbestimmung eingeschränkten Verfügungsmöglichkeiten oder des Verzichts auf diese Überschreitung gestellt werden. Diese "Unmittelbarkeitsüberschreitung" charakterisiert den Eintritt in das Erwachsenenalter und ihre konkrete Form beeinflußt als Kindheitserfahrung den Charakter und die weitere Biographie des Erwachsenen. Insbesondere können sich unreflektiert in der Kindheit fremdbestimmt vollzogene Handlungsweisen dahingehend auswirken, dass auch im Erwachsenenalter verfügungsüberschreitende Handlungsaktivitäten mit ihren sozialen Risiken überhaupt gar nicht erst in Betracht gezogen werden und die Denkformen auf "deutendes Denken" beschränkt bleiben. Diese Denkungsart ist dann nur überwindbar, wenn dem Einzelnen die Beschränktheit und Fremdbestimmtheit seiner Kindheit später bewußt wird und er in der Lage ist, ein kritisches Verhältnis zu seiner Vergangenheit zu finden. (siehe hierzu auch "Denken")

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