Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen.
Zusammenfassender Kommentar zu dem Buch von Sandra Mitchel
Am Beispiel psychischer Depressionen erläutert die Autorin, wie vielfältig in komplexen Systemen verschiedenartige Ursachen zusammenwirken können, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen und wie vielfältig ein komplexes System auf einzelne Störungen reagieren kann, um deren Auswirkungen zu eliminieren. In solchen Fällen ist die traditionelle Suche nach einem einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang aussichtslos und die reduktionistische Methode erfolglos.
Die Welt ist tatsächlich komplex und entsprechend komplex müssen auch unsere Abbildungen von ihr sein. Dies erfordert eine neue Erkenntnismethode mit folgenden Merkmalen:
Pluralismus: die Integration zahlreicher Erklärungen und Modelle auf vielen Erklärungsebenen anstelle der Erwartung, es müsse stets eine einzige, einfache, grundsätzliche Erklärung geben.
Pragmatismus: die Erkenntnis, dass es viele Wege zu einer zutreffenden, wenn auch nur teilweisen Darstellung der Natur auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen gibt. Welche Abbildung am besten funktioniert, hängt von unseren Zielen und Fähigkeiten ab.
Dynamik des Wissens, das sich ständig weiterentwickelt und nie universal ist. Eine sich entwickelnde Welt bringt auch sich ständig weiterentwickelnde Gesetzmäßigkeiten hervor
Keine Beschränkung auf mathematische Darstellungen, die geschlossene Lösungen zulassen. Mit Computerhilfe können Datenmengen verarbeitet werden, wie sie ein einzelnes Gehirn nicht mehr handhaben kann.
Das Bild von notwendigen, allgemeingültigen Gesetzen, mit denen man Ereignisse an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt vorhersagen kann und entsprechend auch erklären, was an jedem Ort und zu jeder Zeit geschehen ist, war ein hehres, vernünftiges Ziel, aber es ist unvollständig. Das Bild der Welt muss ein reichhaltiges, vielgestaltiges, verwobenes Gefüge aus vielen Erklärungen und Erklärungsebenen sein, die integriert werden müssen, um zur Grundlage für effiziente Voraussagen und Handlungen zu werden.
Zweifellos setzen sich komplexe Systeme entsprechend einer Hierarchie von Organisationsebenen aus einfacheren Elementen zusammen. Dies legt es nahe, auch das Verhalten eines komplexen Systems aus dem Verhalten seiner Elemente heraus zu erklären. Diese reduktionistische Strategie zielt nicht in die falsche Richtung, sie ist häufig erfolgreich, aber sie ist unvollständig. Der erklärungstheoretische Reduktionismus lässt chaotischen Determinismus und interaktive Rückkopplung außer acht.
Was ist Emergenz? Die früher übliche und akzeptierte Definition von Emergenz kennzeichnete eine emergente Eigenschaft eines zusammengesetzten Systems durch die erkenntnistheoretischen Merkmale der Nichterklärbarkeit aus den Gesetzen, die für dessen Einzelteile gelten, und der Nichtreduzierbarbeit auf die Eigenschaften dieser Einzelteile. Nach dieser Definition gibt es vom realistisch-materialistischen Standpunkt aus überhaupt keine Emergenz und viele früher als emergent bezeichnete Eigenschaften sind inzwischen wissenschaftlich erklärt (Kim 1999).
Nach neuerem Verständnis von Emergenz wird deren Erklärung auf niederen oder höheren Ebenen nicht ausgeschlossen. Emergenz bedeutet heute, dass die Wechselbeziehungen zwischen den Einzelteilen zu neuen, nicht vorhersagbaren Eigenschaften des Systems führen, die keines der Einzelteile besitzt. Diese neuen Eigenschaften entstehen durch Selbstorganisation und nichtlineare Rückkopplungen. Die Nichtvorhersagbarkeit resultiert aus dem deterministisch-chaotischen Charakter der Selbstorganisation, die unterschiedliche Entwicklungswege einschlagen kann. Die Eigenschaften des Systems beeinflussen das Verhalten der Einzelteile, was reduktionistisch nicht erklärbar ist.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die in der Evolution entstandene Vielfalt stellen die im 19. Jahrhundert formulierten Kriterien für wissenschaftliche Gesetze in Frage, die besagten: Eine allgemeingültige Aussage ist nur dann ein Gesetz, wenn sie universell gültig ist, keine Ausnahmen hat und einer natürlichen Notwendigkeit entspricht. In der Welt der Biologie gibt es nahezu keine einzige allgemeine Aussage, die diesen Kriterien entspricht. Gibt es deshalb in der Biologie keine Naturgesetze?
Mitchel schlägt vor, die übliche Vorstellung von Gesetzen aufzugeben und unter Funktionsgesichtspunkten allgemeiner zu fassen: Auch allgemeine Aussagen, die nicht universell sind und viele Ausnahmen haben, können unter genau definierten Bedingungen die gleiche Erklärungs- und Vorhersagefunktion erfüllen wie universelle, ausnahmslos gültige Regeln. Man sollte sie als pragmatische Gesetze bezeichnen. Solche Gesetze sind stärker kontingent als manche Grundgesetze der Physik und sie sind in der Biologie, aber auch darüber hinaus weit verbreitet.
Physikalische Gesetze haben eine natürliche Notwendigkeit, sie müssen so wie sie sind und universell gültig sein. Der zufällige Charakter der biologischen Evolution hat zur Folge, dass biologische Gesetze keine natürliche Notwendigkeit besitzen und deshalb nicht universell gültig sind. Hätte die Evolution einen anderen Verlauf genommen, würden auch andre biologische Gesetze gelten. Die natürliche Notwendigkeit der physikalischen Gesetze resultiert aus den Bedingungen in den ersten Minuten der Entstehung des Universums und deren Gültigkeit ist deshalb universell und unveränderlich. Sie beschreiben unsere Welt und nicht eine logisch notwendige Welt. Alle Naturgesetze sind Tatsachenbehauptungen und deshalb logisch kontingent. Ihr Wahrheitsgehalt hängt davon ab, ob sie unsere Welt zutreffend wiedergeben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich physikalische und biologische Gesetze nicht, der Unterschied ihrer Kontingenz ist nicht qualitativer, sondern nur quantitativer Natur.
Unser Universum ist kontingent, weil nicht alle logischen Möglichkeiten realisiert sind. In der Evolution des Universums verwirklicht sich auf jeder Ebene jeweils nur eine bestimmte Teilmenge der logisch möglichen Beziehungen und Strukturen, die ins Dasein hätten treten können, es aber nicht getan haben. Die auf den unteren Ebenen realisierten Formen schränken die Möglichkeiten der höheren Ebenen ein. Welche Formen tatsächlich entstehen, wird durch Selektion, entwicklungsbedingte Beschränkungen und Zufall bestimmt. Die biologische Evolution hätte deshalb auch ganz anders verlaufen können. Dies drückt sich auch im kontingenten Charakter der Gesetze aus, deren Kontingenz von Stufe zu Stufe zunimmt und deren Gültigkeitsbereich entsprechend eingeschränkt wird.
Gesetzmäßigkeiten beschreiben Ursache – Wirkungsbeziehungen. Die Kontingenz von Gesetzen bedeutet deshalb auch eine Instabilität von Ursache – Wirkungsbeziehungen und eine Einschränkung deren Gültigkeitsbereiche. Häufig führen mehrere Ursachen zu einer gleichen oder ähnlichen Wirkung. Bei der Erforschung solcher Ursache – Wirkungsbeziehungen ging man traditionell davon aus, dass sich die verschiedenen Ursachen modular verhalten und sich in einzelne unterschiedliche Ursachen und eigenständige Ursachenmodule trennen lassen, die sich gegenseitig nicht beeinflussen. An Beispielen der Gen- und Hirnforschung legt Mitchel dar, dass in komplexen Systemen es nicht immer möglich ist, eine solche Trennung in eigenständige Ursachenmodule vorzunehmen, weil sich die verschiedenen Ursachen gegenseitig beeinflussen. In solchen Fällen muss man neue Methoden der Netzwerkanalyse mit mehreren Variablen anwenden, die den vorliegenden komplexen Kausalstrukturen angepasst sind. Das neue Fachgebiet der Systembiologie bedient sich dabei eines nichtreduzierenden Ansatzes und untersucht das Gesamtsystem, insbesondere seine emergenten Eigenschaften, die man bei der Einzelbetrachtung der Komponenten nicht voraussagen könnte.
Der vielleicht wichtigste Bereich unseres Denkens, in dem ein besseres Verständnis für Komplexität zu Umwälzungen führen kann, ist die Entscheidungsfindung und Strategieentwicklung im gesellschaftspolitischen Umfeld. In Entscheidungsmodellen versucht man Kosten und Nutzen verschiedener Entscheidungsvarianten gegenüber zu stelle, um so optimale Entscheidungen zu finden. Dabei müssen die Risiken und Unsicherheiten zahlreicher relevanter Parameter berücksichtigt werde, die in komplexen Systemen die zu erwartenden Ergebnisse beeinflussen. Oft sind die Unsicherheiten so groß, dass keine begründeten Entscheidungen getroffen werden können. Dann versucht man zunächst die Unsicherheiten durch Gewinnung neuer, zuverlässigerer Ausgangsdaten zu verringern. Die dabei verstreichende Zeit führt oft dazu, dass die Entscheidung zu spät kommt und neue Kosten entstehen, so dass im Ergebnis keine bessere Entscheidung getroffen werden kann. Auch mit Verbesserung des Modells durch Berücksichtigung weiterer Parameter kommt man selten zum Ziel, weil damit auch weitere Unsicherheiten auftreten. In Anbetracht der Unsicherheit in der Dynamik komplexer System ist noch die beste Strategie, jederzeit bereit zu sein, eine einmal getroffene Entscheidung auch wieder zu verändern, wenn nicht die gewünschten Ereignisse eintreten oder wenn sich die angenommenen Ausgangsdaten verändern (anpassungsorientiertes Management).
Wenn die Unsicherheiten zu groß sind und keine Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Entscheidungsvarianten angegeben werden können, versagen die bewährten Methoden der Prognose und Entscheidungsfindung. Dann verzichtet man darauf, die voraussichtliche Nützlichkeit einer Entscheidung zu maximieren, und untersucht stattdessen ein breiteres Spektrum unterschiedlicher, aber möglicher Szenarien im Hinblick auf die zu erwartenden Folgen einer Entscheidung. Nach dieser „robusten anpassungsorientierten Planung“ (RAP) wählt man dann eine Entscheidungsvariante, deren voraussichtliche mögliche Folgen möglichst wenig von den unbekannten und unsicheren Parametern abhängen. Voraussetzung ist die Simulation einer großen Zahl von Szenarien, von denen jedes eine andere Wahrscheinlichkeitsverteilung zu den relevanten Variablen, ihrem Einfluss und ihren voraussichtlichen Folgen repräsentiert. Ein anpassungsorientiertes Management muss dann eine Entscheidung aktualisieren, revidieren oder ergänzen, wenn sich die Kenntnisse über die Folgen dieser Entscheidung ändern.
Angesichts grundsätzlich nicht vollständig zu beseitigender Unsicherheiten hat es keinen Sinn, den Genehmigungsbehörden die juristische Beweislast für die vollständige Sicherheit neuer technologischer Verfahren dadurch abzunehmen, dass man diese lediglich auf den Entwickler und Hersteller verlagert. Entscheidend ist das Vorsorgeprinzip, dem zu Folge ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein darf, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung schwerwiegender oder bleibender Schäden aufzuschieben. Die Verlagerung der Beweislast und der Kosten der Unsicherheit lediglich von der Gesamtgesellschaft auf denjenigen, der die neue Technologie einführen will, garantiert die Realisierung dieses Prinzips noch nicht. Die Politik muss entscheiden, welche Risiken die Gesellschaft zu tragen bereit ist.
Die Komplexität der Welt erfordert auch komplexe Erkenntnismethoden und komplexe Erklärungen der Welt, die deren Dynamik und deren historischen Charakter widerspiegeln. Mitchel nennt diese Erklärungsmethode integrativen Pluralismus.
Reduktion ist nicht immer falsch, aber Reduktionismus ist dann abzulehnen, wenn er zur einzig möglichen Strategie erklärt wird, denn es gibt auch Erscheinungen auf niederen Ebenen, die durch Ursachen auf höheren Ebenen erklärt werden müssen.
Der Pluralismus bietet die Möglichkeit unterschiedlicher Theorien und Erklärungen für die gleiche Erscheinung, aber das bedeutet noch nicht „Alles ist möglich“. Insbesondere lehnt Mitchel die Auffassung ab, nach der nicht empirische Prüfungen den wissenschaftlichen Wert der wissenschaftlichen Theorien bestimmen, sondern Autorität und Macht in den Wissenschaftsinstitutionen und Fachzeitschriften.
Auch ist Pluralismus nicht nur ein Mittel des Wettbewerbs, um unter vielen konkurrierenden Theorien die richtige und wahre zu finden.
Integrativer Pluralismus heißt gleichberechtigte Anerkennung unterschiedlicher Theorien auf verschiedenen Analyseebenen und Anerkennung ihrer unterschiedlichen Sichtweisen und ihrer gegenseitigen Ergänzung bei der Beschreibung der Natur. Er bedeutet gleichzeitig Anerkennung des historischen und lokalen Charakters verschiedener Theorien, in denen sich der erreichte Stand der Evolution ausdrückt.
Einerseits verlangt die Natur von ihrem Wesen her einen Pluralismus der von uns konstruierten Theorien, Modelle und Erklärungen, andererseits ergibt sich Pluralismus aber auch aus der Art, wie wir Menschen unser Wissen über die Natur gewinnen. Wissenschaftliche Kenntnisse bestehen aus Aussagen über die Kausalstruktur der Welt. Auf der einen Seite steht die ontologische Realität, auf der anderen eine pragmatische Auswahl der Abbildungen, mittels deren wir mit dieser Realität umgehen wollen. Für verschiedene Erklärungszwecke sind unterschiedliche Abbildungen und Spezifizitätsebenen notwendig und nützlich.
Aus der derzeitigen Erforschung dynamischer Systeme kann man die Lehre ziehen, dass die dynamischen Prozesse, die auf Systemebene für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Eigenschaften sorgen, die einfachen Vorstellungen von Ursache und Wirkung in Frage stellen. Wenn man so tut, als gäbe es das alles nicht, übersieht man völlig, was wir genau vor Augen haben: ein in dynamischem Wandel begriffenes, kompliziertes, komplexes, chaotisches und dennoch verständliches Universum.