Philosophie der Physik

Kommentar zum Sammelband, Herausgeber Michael Esfeld

Der Sammelband enthält eine Zusammenstellung derzeit gängiger philosophischer Interpretationen grundlegender physikalischer Theorien.

1.    Raumzeit

Zur Raumzeit gibt es 3 philosophische Grundauffassungen:

·       Die relationistische  Sicht spricht der Raumzeit eine selbständige Existenz ab. Materie existiert nur in Form von Teilchen und Feldern. Die Raumzeit ist eine Eigenschaft der Materie, welche die Beziehungen dieser Objekte relativ zu einander beschreibt, aber kein Behältnis für diese Objekte.

·       Die Strukturen der Raumzeit haben Substanzcharakter und existieren selbständig neben der Materie. Masse und Energie bestimmen die Strukturen der Raumzeit und die Raumzeit bestimmt die Bewegungsformen der Materie. Eine materiefreie Region der Raumzeit ist möglich und hat die Konsequenz, dass auch physikalischer Indeterminismus zulässig ist.

·       Aus super-substanzialistischer Sicht ist die Raumzeit die fundamentale Entität. Materie, Teilchen und Felder sind Eigenschaften spezieller Strukturen der Raumzeit, die durch physikalische Forschung zu ermitteln sind. Demnach ist die Frage, ob es eine materiefreie Region der Raumzeit gibt, durch physikalische Forschung zu klären.

 

2.    Quantenmechanik

Die Probleme der Interpretation der originären Quantenmechanik resultieren aus ihrer Ableitung aus drei miteinander nicht zu vereinbarenden Grundannahmen:

·       Die quantenmechanische Wellenfunktion beinhalte eine vollständige Beschreibung der Realität

·       Die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion erfolge nach einer linear-dynamischen Gleichung (Schrödingergleichung)

·       Durch eine Messung werde der tatsächlich vorliegende Zustand des Systems eindeutig angezeigt.

Verzichtet man auf die dritte Forderung, so gelangt man zur Vielweltentheorie. Nach dieser Interpretation existieren alle nach der Theorie möglichen Zustände eines Systems tatsächlich gleichzeitig, aber in unterschiedlichen nicht miteinander wechselwirkenden Parallelwelten. Das Ergebnis der Messung hängt davon ab, in welchem Parallel-Universum sich der Beobachter befindet und die Messung durchführt. Die philosophischen Konsequenzen der Parallelexistenz des Beobachters sind jedoch unzureichend durchdacht.

Der Verzicht auf die zweite Forderung führt zur Kopenhagener Deutung, der zufolge die Wellenfunktion bei Messungen kollabiert. Der Versuch, den Kollaps detaillierter zu beschreiben, führt auf unlösbare Widersprüche und die Unterstellung auseinander hervorgehender blitzartiger Ereignisse.

Da die erste Forderung nicht physikalisch, sondern lediglich philosophisch begründbar ist, liegt der Verzicht auf diese Forderung am nächsten. Hieraus resultiert die Bohm’sche Quantenmechanik, welche die Existenz realer Teilchen annimmt, die über große raumartige Entfernungen im quantenmechanischen Zustandsraum miteinander verbunden sind und durch die Wellenfunktion geführt werden. Die Heisenberg’schen Unschärferelationen und die Bell’schen Ungleichungen ergeben sich dann als statistische Gesetzmäßigkeiten in Übereinstimmung mit den experimentellen Ergebnissen. Dass die Nichtlokalität dieser Theorie im Widerspruch mit den nach der Relativitätstheorie maximal möglichen Wirkungsgeschwindigkeiten im physikalischen Raum steht, ist theoretisch noch nicht eindeutig nachgewiesen, da die Kopplung der Teilchen im hyperdimensionalen Konfigurationsraum der Zustandsvektoren der Teilchen erfolgt.

Philosophisch gibt es drei alternative Möglichkeiten der Interpretation der Wellenfunktion:

 

3.    Teilchen und Felder

Subatomare Teilchen zeigen nicht nur einen inkonsistenten Welle-Teilchen-Dualismus, sondern alle Theorien, die deren Quanteneffekte beschreiben, insbesondere die Quantenfeldtheorien, zeigen untereinander eine Unvereinbarkeit und Widersprüchlichkeit. Philosophisch bedeutet das, dass es diese Objekte in der jeweils beschriebenen Form real gar nicht gibt, es existiert nur das Bündel ihrer Wirkungen. Die verschiedenen Theorien beschreiben nur jeweils einzelne ihrer Wirkungen unter bestimmten Aspekten, der wahre Charakter der Objekte ist integral nicht beschreibbar und daher im Wesen noch nicht erkannt. Klar ist jedoch, dass subatomare Teilchen keine klassischen Teilchen sind, sondern sich lediglich in bestimmten Situationen wie klassische Teilchen verhalten. Der Nachweis ihrer tatsächlichen Existenz gelingt nur durch das Aufzeigen einer von ihnen verursachten Wirkung. (kausaler Realismus).

Während man in der Quantenmechanik noch davon sprechen kann, dass reale Objekte duales Verhalten, d.h. Teilchen- und Welleneigenschaften zeigen, ist eine solche Interpretation in der Quantenfeldtheorie nicht mehr möglich. Die Objekte der Quantenfeldtheorie sind weder Teilchen noch Felder, sonder bloße Eigenschaften dieser Entitäten, während als fundamentale Entitäten nur Eigenschaften der ersteren wie Masse, Ladung, Spin, Farbe, zusammengefasst als Tropen bezeichnet werden und nur gemeinsam wie Teilchen oder Felder wirken. Tropen sind nichtlokale Entitäten, die aber lokalisierbar sind.

Feinman-Diagramme sind Hilfsmittel zur Strukturierung von Störungsrechnungen für Streuprozesse an subatomaren Teilchen. Ob sie darüber hinaus ein sinnvolles Modell zur Beschreibung realer Prozesse darstellen, ist weitgehend umstritten.

 

4.    Quantengravitation und Kosmologie

Das beste Modell des Universums beruht auf der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins (ART). Es bleibt aber problematisch, weil es sich selbst mit der Anfangssingularität und in den schwarzen Löchern Grenzen setzt. Außerdem begrenzt es den sichtbaren Bereich des Universums, so dass von außerhalb dieser Grenze prinzipiell keinerlei empirische Information vorliegen kann. Trotzdem beruht es auf der spekulativen Annahme einer Gleichförmigkeit und Isotropie des Weltraumes in allen seinen Teilen. Deshalb bleibt es fragwürdig, ob dieses Modell der Realität entspricht.

Die ART beschreibt alle mit der Gravitation verbundenen Probleme sehr gut, während mit der Quantentheorie alle nicht gravitativen  Probleme sehr gut dargestellt werden. In den singulären Bereichen der ART, dem Urknall und den Schwarzen Löchern, stoßen jedoch beide Theorien inkonsistent aufeinander. Die räumlich geringe Ausdehnung dieser Objekte erfordert unbedingt die Berücksichtigung der Quantentheorie, die in der Quantentheorie enthaltene Vorstellung einer absoluten Zeit ist aber mit der relativistischen Raumzeit der ART nicht kompatibel. Deshalb ist eine Quantentheorie der Gravitation unumgänglich.

Versuche zur Erweiterung der Quantenelektrodynamik auf Gravitationsfelder führten jedoch auf nicht auflösbare Unendlichkeiten. Alternative Versuche, die Einstein’schen Gravitationsgleichungen in eine Wellengleichung von der Form der Schrödingergleichung zu transformieren, ergaben aber eine zeitunabhängige Wellengleichung, die ein stationäres Weltall beschreiben würde.

Die Schleifengravitationstheorie konstruiert dagegen von vornherein diskrete Raumzeitquanten, die erst zu einer Raumzeit zusammengefügt werden müssen. Hier ist es aber noch nicht gelungen, den Anschluss an die bekannten Einstein-Gravitationsgleichungen zu finden.

Die Stringtheorie versucht einen Ansatz, alle Elementarteilchen einheitlich aus einer Theorie abzuleiten. Hier ist ein Graviton von vornherein enthalten, aber es muss von einem 11-dimensionalen Raum ausgegangen werden, der die 4-dimensionale Raumzeit der ART in sich enthält.

Daneben gibt es noch eine Reihe neuerer Ansätze, das Problem der Quantengravitation zu lösen, die aber noch nicht weit genug ausgearbeitet sind. Die Auflösung der inkonsistenten Zeitbegriffe scheint ein zeitloses Universum zu fordern, in dem die Zeit nur als eine erste Näherung der Störungstheorie abgeleitet werden kann. Ein zeitloses Universum wäre immer konstant und hätte einen unbedingten Determinismus zur Folge. Es kann sich nichts entwickeln, alles ist bereits durch den Anfangszustand festgelegt und Evolution nur ein virtueller Prozess, der in erster Näherung vorgetäuscht wird und bei Berücksichtigung höherer Näherungsglieder wieder verschwindet.

Die Inkompatibilität von Quantentheorie und Gravitationstheorie resultiert auf den beiden impliziten Grundannahmen:

Da bisher keine übergreifende Theorie auf dieser Basis gefunden werden konnte, versucht man neuerdings, die Gravitation nicht als fundamentale, sondern als emergente Eigenschaft aufzufassen, die erst als kollektive Eigenschaft der in der Quantenfeldtheorie beschriebenen Objekte in Erscheinung tritt. Gravitation und Raumzeit wären dann grundsätzlich nicht zu quantisieren, sondern als intrinsisch klassische Phänomene zu betrachten, die erst durch die übrigen Wechselwirkungen entstehen. Diese Ansätze sind z.Zt. aber noch nicht hinreichend ausgearbeitet.

 

5.    Statistik, Symmetrien und Gesetze

Die statistische Mechanik bemüht sich in reduktionistischer Weise den 2. Hauptsatz der Thermodynamik aus dem Ergodensatz der Klassischen Mechanik abzuleiten. Logisch einwandfrei beweisen kann man aber nur, dass der 2. Hauptsatz mit großer Wahrscheinlichkeit gilt. Wenn die ausnahmslose Gültigkeit des 2.Hauptsatzes als fundamentales Naturgesetz deklariert wird, ist damit die Zeitumkehrinvarianz und der Ergodensatz der klassischen Mechanik in Frage gestellt.

Betrachtungen zur Geschichte der Physik zeigen, dass allgemeine Prinzipien, wie Symmetriegesetze, das Prinzip der kleinsten Wirkung, das Fermat’sche Prinzip der Strahlenoptik u.a. immer auf Symmetrie- und Extremalprinzipien beruhen und am wenigsten Veränderungen erfahren haben, weshalb ihnen auch gewisse Bedeutung in der Beurteilung des Realitätsgehaltes alternativer Theorien zugesprochen wird.

Ausgehend von den Schwierigkeiten, die sich aus der Definition subatomarer Teilchen ergeben, verfolgt man derzeit eine philosophische Richtung, welche die reale Existenz physikalischer Objekte in Frage stellt und stattdessen physikalische Strukturen als primäre Entitäten betrachtet. Dieser sogenannte Strukturenrealismus betrachtet die in allen physikalischen Theorien enthaltenen Symmetrien als Ausdruck von  real existierenden Strukturen, die zusammen mit intrinsischen Eigenschaften erst Objekte definieren. Verschiedene Unterarten des Strukturenrealismus unterscheiden sich in dem Ausmaß, in dem sie physikalischen Objekten nicht empirisch beobachtbare, reale Existenz zuschreiben.

Naturgesetze sind dadurch charakterisiert, dass sie überall und unter allen Bedingungen ausnahmslos gelten sollen. Wenn sie aber so formuliert werden, dass sie allen Objekten Eigenschaften und Verhaltensweisen als manifeste Tatsachen zuschreiben, müssen gleichzeitig immer auch bestimmte Bedingungen formuliert oder implizit unterstellt werden. Damit verlieren sie aber ihre Universalität als Naturgesetz. In der Physik kann dieses Dilemma umgangen werden, indem man Naturgesetze so formuliert, dass sie allen Objekten lediglich Dispositionen zuweisen, die unter spezifischen Bedingungen manifest werden können. Ein so formuliertes Naturgesetz ist dann universell gültig, gilt aber für ein bestimmtes System nur, wenn dieses System die für die Realisierung der Disposition notwendige Bedingung auch tatsächlich erfüllt.

 

6.    Kausalität in der Physik

Was Kausalität bedeutet, kann zwar unter verschiedenen Aspekten erläutert werden, jedoch gibt es keine einheitliche Definition, was eine „Ursache“ ist. Zentrale Aspekte des Alltagsbegriffes Ursache“ sind wie folgt beschreibbar:

Auch in der Physik findet man keinen einheitlichen Kausalitätsbegriff.

Obgleich die dynamischen Grundgleichungen aller fundamentalen physikalischen Theorien zeitsymmetrisch sind, kann man die Auffassung vertreten, dass ein zeit-asymmetrisches Kausalitätsprinzip eine zusätzliche Beschränkung des physikalisch Möglichen hervorruft, so dass zeitinvertierte Modelle nicht realistisch sind. Es gibt aber auch Auffassungen, die Kausalbegründungen nur als Notbehelfe einer noch nicht endgültig formulierten Theorie und damit als Wegweiser für zukünftige Forschungen betrachten. Andererseits gibt es aber eine  „Theorie der linearen Antwort“ , die unter der Annahme, dass die Reaktion eines Systems linear und zeittranslationsinvariant ist, auf vielen Spezialgebieten erfolgreich zu einer Lösung führt, wenn alle nach den Grundgleichungen möglichen Wirkungen aus in der Zukunft liegenden Ursachen ignoriert werden. Dies rechtfertigt die Annahme der Relevanz eines allgemeinen Kausalprinzips, solange sich dieses als physikalisch fruchtbar erweist. In diesem Sinne geht die gesamte Theoriebildung in der Physik von einer asymmetrischen Kausalannahme aus, die sich darin zeigt, dass zwar die fundamentalen Naturgesetze zeitsymmetrisch sind und eine kohärente Regulierung der Prozesse beschreiben, dabei aber Anfangsbedingungen vorzugeben sind, die entweder kausal streng zu begründen sind oder aber als vollständig probabilistisch anzunehmen sind und damit die Zeitasymmetrie hervorbringen.

 

30.7.2012

Bertram Köhler