Schurz, Gerhard: Evolution in Natur und Kultur,

Teil 4: Prinzipien der verallgemeinerten Evolutionstheorie 

6.    Prinzipien moderner Evolutionstheorie

Der Algorithmus der Evolution wird bestimmt durch 3 Module

·       Durch Reproduktion entsteht eine neue Generation eines evolutionären Systems mit den gleichen, vererbbaren Merkmalen

·       Variation verändert bei der Reproduktion vererbbare Merkmale in nicht vorgegebener Weise

·       Durch Selektion werden unter gegebenen Umgebungsbedingungen bestimmte Varianten bevorzugt oder benachteiligt, so dass diese sich schneller oder langsamer reproduzieren können als andere. Dabei bedeutet Selektion zunächst nur eine Verschiebung der Häufigkeiten, mit der unterschiedliche Varianten in einer Population vertreten sind. Erst wenn die Umgebungsbedingungen das Anwachsen der Gesamtpopulation begrenzen, führt Selektion auch zur Eliminierung der benachteiligten Varianten.

Durch rekursive Wiederholung dieser drei Schritte können aus einfachen Grundelementen hochgradig komplexe Strukturen entstehen. Die gegenstandsneutrale verallgemeinerte Darstellung dieses Prozesses gestattet ihre Anwendung auf beliebige sich selbst reproduzierende Systeme.

Die Evolution ist ein gerichteter Prozess, ihre Richtung wird bestimmt von den Selektionsbedingungen der Umgebung, so dass sich ihre Richtung mit den Änderungen der Selektionsbedingungen ändert, Verzweigungen entstehen und die Evolutionsfähigkeit und Evolutionsgeschwindigkeit von der Änderungs-geschwindigkeit der Umgebungsbedingungen bestimmt wird.

Schurz spezifiziert die Grundbegriffe der verallgemeinerten Evolutionstheorie für die biologische, die kulturelle und die individuelle Evolution wie folgt:

Diese Grundbegriffe lassen sich auch auf die Bereiche intuitiv-kreatives Denken, Immunologie und Neuronenwachstum anwenden. In eingeschränktem Umfang sind sie auch auf protoevolutionäre Prozesse anwendbar, bei denen noch keine Reproduktion, sondern lediglich eine Einordnung in eine energetisch optimale Gleichgewichtskonfiguration (Retention) stattfindet, wie z. B. bei der Kristallbildung, der Magnetisierung und der Ausbildung von Planetensystemen.

Nacheinander ablaufende und gleichzeitig ablaufende ineinander verschachtelte Evolutionen müssen sich in ihren räumlichen oder in ihren zeitlichen Größenordnungen um mehrer Zehnerpotenzen unterscheiden, um eigenständige Dynamiken zu entwickeln.

 

 

7.    Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Evolutionstheorie

Beschreibungsgegenstände der verallgemeinerten Evolutionstheorie sind Systeme. Systeme sind in sich stark zusammenhängende Teile der Welt, die zu ihrer Umgebung in vergleichsweise geringerer Abhängigkeit stehen. Aufgrund dieser Tatsache besitzen Systeme eine gewisse Identität in der Zeit, durch die sie von ihrer Umgebung abgrenzbar sind.

Während Naturgesetze überall im Universum gelten, beschreiben Systemgesetze nur Systeme eines bestimmten Typs, der durch die inneren Systembedingungen und die Umgebungsbedingungen charakterisiert ist. Physik und Chemie beschreiben i.A. näherungsweise geschlossene Systeme, bei denen die darauf einwirkenden äußeren Kräfte bekannt sind oder vernachlässigt werden können. Biologie, Sozial- und Geisteswissenschaften behandeln grundsätzlich offene Systeme mit ungenau bekannten Umgebungsbedingungen. Evolutionsfähig sind nur offene Systeme, weil sie zur Reproduktion Stoffe und Energie aufnehmen müssen.

Offene Systeme, die eine nachhaltige zeitliche Stabilität besitzen, verdanken diese im Regelfall ihrer Fähigkeit zur Selbstregulation, durch die sie ihre Normzustände aufrechterhalten. Ihre Systemgesetze sind Normgesetze, die Ausnahmen zulassen. Fast alle selbstregulativen Systeme sind evolutionäre Systeme, deren Regulationsmechanismen und damit auch deren Systemgesetze durch evolutionäre Prozesse im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte entstanden sind. Diese gelten und funktionieren normalerweise und halten den Normalzustand innerhalb eines Schwankungsbereiches aufrecht, wenn dies aber nicht gelingt, wird das System zerstört. Diese immer gleiche Funktion zur Aufrechterhaltung des Normzustandes muss und kann auf verschiedene Art und Weise und durch unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten erreicht werden. Man kann folgende Stufen der Selbstregulation offener Systeme unterscheiden:

·       Abschottung und Abwehr unerwünschter Einflüsse

·       Perzeption, d.h. vorwegnehmende informationelle Erkennung von sich annähernden potenziell destruktiven oder vorteilhaften Einflüssen

·       Perzeptionsgesteuerte Fortbewegung, um einer Gefahr auszuweichen oder sich einer Nahrungsquelle zu nähern (angeboren bzw. instinktgesteuert)

·       Konditionierungslernen (wirbellose Tiere)

·       Gedächtnis und innere kognitive Modelle (Wirbeltiere)

·       Kultur und Wissenschaft

 

Die für das jeweilige System relevanten Umgebungsparameter sind immer relativ zur ökologischen Nische, in der das System angepasst ist. Die von der Perzeption eines Systems wahrgenommene Welt ist deshalb eine Auswahl der objektiven Welt aus der subjektiven Perspektive des jeweiligen Systems und seiner ökologischen Nische. (epistemischer Konstruktivismus).

Zur Aufrechterhaltung des Normzustandes erbringen Organe oder Subsysteme erbliche evolutionäre Funktionen, die selektiert wurden, weil deren Effekt in der Historie erheblich zur evolutionären Fitness des Systems beigetragen hat. Oft sind mit solchen Funktionen andere erbliche Merkmale verbunden, die das System charakterisieren, ohne evolutionäre Bedeutung zu haben (Nebeneffekt).

Der wissenschaftliche Gehalt der Evolutionstheorie ergibt sich nicht aus der tautologieverdächtigen Aussage, dass nur die fitteren Systeme unter den gegebenen Umgebungsbedingungen überleben und sich reproduzieren können, weil Fitness gerade über die unterschiedliche Reproduktionsrate definiert wird. Der Gehalt der allgemeinen Evolutionstheorie besteht vielmehr in der Behauptung, dass durch das Zusammenwirken der 3 Darwinschen Module eine Evolution zustande kommt, die in der Realität tatsächlich beobachtbar ist, und zwar ohne dass die zugrundeliegenden Mikroprozesse im Einzelnen spezifiziert werden müssen. Die Überprüfbarkeit dieser Behauptung bestätigt auch das Vorliegen des Vorhersagekriteriums. Die Beobachtung realer Prozesse, die nach diesem Muster ablaufen, bestätigt dann die Anwendbarkeit der Evolutionstheorie auf diese Prozesse. In diesem Sinne ist die allgemeine Evolutionstheorie ein übergreifendes Paradigma für alle höheren Wissenschaften, die es mit offenen evolutionären Systemen zu tun haben, also Biologie, Psychologie Sozialwissenschaften, Geistes- und Kulturwissenschaften, dessen Gültigkeit allerdings in jeder einzelnen Wissenschaft bestätigt werden muss. Durch diese Eigentümlichkeit evolutionärer Systeme erscheint auch die Zurückführbarkeit der Wissenschaften des Lebens auf die physikalischen Wissenschaften in einem neuen Licht. Während man früher noch glaubte, dass eine vollständige Reduktion der Biologie auf die Physik einmal möglich sein werde, beschreibt man deren Verhältnis heute anstelle von Reduktion mit dem schwächeren Begriff der Supervenienz. Supervenienz impliziert nicht vollständige Reduzierbarkeit, sondern beschreibt lediglich die Tatsache, dass alle Entitäten, die Behandlungsgegenstand der höheren Wissenschaften sind, letztlich auf materiell-physikalischen Entitäten beruhen, aus diesen zusammengesetzt und durch diese bestimmt sind, ohne dass dieser Zusammenhang aber aus Komplexitätsgründen in Form einer Ableitung aus Naturgesetzen und Systembedingungen fassbar wäre. Dies schließt nicht aus, dass auf Teilbereichen auch eine vollständige Reduktion auf physikalische Entitäten möglich ist.

Teil 6: Bewusstseinsentwicklung