Schurz, Gerhard: Evolution in Natur und Kultur,

Teil 2: Die moderne biologische Evolutionstheorie

2.    Grundprinzipien der modernen biologischen Evolutionstheorie

Die von Darwin zunächst ohne Kenntnis der Vererbungsmechanismen entwickelte Abstammungslehre aller Lebewesen voneinander erhielt durch die Mendel’sche Vererbungslehre und die im 20. Jahrhundert ausgearbeitete Molekulargenetik eine solide Grundlage. Nach heutigem Erkenntnisstand verändern sich die Gene aller Lebewesen zufällig mit über lange Zeiten konstanter Mutationsrate, woraus günstige und ungünstige Veränderungen ihrer Eigenschaften resultieren. Günstigere Eigenschaften führen zu einer Verbesserung ihrer Fitness, während ungünstigere Eigenschaften die Reproduktionsraten vermindern und zum Aussterben der Art führen. An der Übereinstimmung der Gene und ihren Veränderungen von Art zu Art kann die Abstammung der Arten voneinander und der Zeitpunkt ihrer Verzweigung eindeutig nachgewiesen werden. Die auf diese Weise ermittelten Abstammungsbäume stimmen mit den aus fossilen Funden, geografischen Veränderungen und kladistischen Einordnungen ableitbaren weitgehend überein. Bei sexueller Fortpflanzung und Vererbung können rezessive Allele lange Zeiten überdauern, auch wenn sie nicht sofort zu einer Erhöhung der Fitness des betreffenden Individuums führen. Dadurch können sich mehrere unterschiedliche Eigenschaften entwickeln, die gemeinsam oder erst nach einer Veränderung der Umweltbedingungen zu einer wesentlichen Erhöhung der Fitness und zu einer Veränderung der Art führen. Es besteht heute wissenschaftlich kein Zweifel mehr, dass auch der Mensch ein Produkt der biologischen Evolution der Arten ist und viele seiner Eigenschaften im Verlaufe dieser Evolution und als deren Erbe erworben hat.

 

3.    Evidenzen für die Evolution

Zweifel an den Aussagen der Evolutionstheorie werden noch immer in drei Abstufungen angemeldet:

·       Strenge Kreationisten bezweifeln die Existenz der Evolution überhaupt

·       Liberale Kreationisten postulieren einen Schöpfergott, der die Evolution lenkt, ohne Details der Evolutionsgeschichte in Frage zu stellen,

·       Vertreter des anthropischen Prinzips bezweifeln die zufälligen Aspekte der Evolution und unterstellen eine zielgerichtete, teleologische Evolution

Zweifel an der Wahrheit der biologischen Evolutionstheorie sind durch solche voneinander unabhängigen empirischen Fakten zu widerlegen, die bei Annahme der Evolutionshypothese besser erklärt werden können als mit jeder anderen in Frage kommenden Hypothese. Derartige empirische Fakten werden in ständig steigender Anzahl durch biologische Forschung und Züchtung neuer Rassen und durch Übereinstimmung der geografischen Verteilung der biologischen Arten mit den aus der Geologie der Erde bekannten Kontinentalverschiebungen gewonnen. Der zeitliche Ablauf der Evolution wird durch Fossilfunde in den durch geologische Prozesse zeitlich unterschiedlich gebildeten Ablagerungsschichten ermittelt, wobei zwei völlig voneinander unabhängige Methoden der Altersbestimmung zur Verfügung stehen: Das Mengenverhältnis radioaktiver Isotope von für biologische und geophysikalische Prozesse  wichtige Substanzen und die Mutationsgeschwindigkeit von in der Molekulargenetik typischen organischen Molekülen. Mit Hilfe letztgenannter Methode können auch Abstammungsbäume rekonstruiert werden, ohne die biologischen Klassifizierungsmerkmale zu Hilfe zu nehmen.

Sofern keine der Evolutionshypothese widersprechenden Fakten gefunden werden, die alternative Hypothesen besser erklären könnten, beweist die bayesianische Wahrscheinlichkeitstheorie, dass jede dieser voneinander unabhängigen Fakten die Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen der Evolutionshypothese erhöht. Bei der Menge der bislang gefundenen Fakten liegt die sich daraus ergebende Wahrheits-Wahrscheinlichkeit der Evolutionstheorie nahe bei eins, auch wenn ihre Wahrheit nicht durch eine lückenlose Schlusskette zwingend beweisbar ist. Derart ansteigende wahrscheinlichkeits-erhöhende Evidenzen hat der Kreationismus nicht aufzuweisen.

 

4.    Evidenzen gegen das Designargument

Der liberale Kreationismus akzeptiert von vornherein empirische Fakten als gegeben, aber als von einem intelligenten Konstrukteur nach und nach geschaffen und ist deshalb mit den o.a. Argumenten nicht widerlegbar. Statt dessen aber ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein intelligenter Konstrukteur so viele Organismen sehr suboptimal und mit für den „vorgesehenen“ Zweck schlecht geeigneten Organen ausgerüstet hätte. Dies kann nur dadurch erklärt werden, dass diese Organe nicht unabhängig voneinander erfunden wurden, sondern auseinander hervorgegangen sind, wie dies die Abstammungslehre unterstellt. Dies erklärt auch den homologen Aufbau solcher Organe, die im Endeffekt unterschiedliche Funktionen erfüllen, wie z.B. Beine, Flügel und Flossen der Wirbeltiere.

Der Kreationismus wird von dem Argument genährt, dass es bei oberflächlicher Betrachtung äußerst unwahrscheinlich ist, wenn komplexe Organismen rein zufällig entstehen würden. Bei genauerer Analyse erkennt man jedoch einige Prozesse der Evolution, die gerade diese Wahrscheinlichkeit um Größenordnungen erhöhen können.

·       Bei niederen Lebewesen mit nur wenigen Funktionen genügen wenige zufällige Mutationen, um ihre Fitness zu erhöhen, die durch Selektion stabilisiert werden und getrennt weitere Mutationen ermöglichen. Diese niederen Lebewesen sind zuerst entstanden und benötigten große Zeiträume für ihre Entwicklung

·       Durch die sexuelle Vermehrung der höheren Lebewesen werden die in zahlreichen Individuen einer Population auftretenden unterschiedlichen Mutationen miteinander kombiniert, so dass sich die Wahrscheinlichkeit für das gleichzeitige Auftreten zweier vorteilhafter Mutationen um den Faktor der Anzahl der Individuen in einer Population erhöht.

·       Es entwickeln sich Körperorgane, welche die Lebensfunktionen der mutierten Individuen zwar zunächst nur wenig verbessern, aber langfristig erhalten bleiben, bei Veränderungen der Umgebungsbedingungen jedoch Bedeutung erhalten und eine ganz neue Funktion übernehmen können.

 

Die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit dieser Veränderungsprozesse beschleunigte die Evolution erheblich, so dass unter Berücksichtung dieser Effekte die zufällige Entstehung höherer Lebewesen in den dafür zur Verfügung stehenden Zeiten wahrscheinlichkeitstheoretisch durchaus nicht mehr als unmöglich erscheint.

Einen Sonderfall bildet die Erklärung für die Entstehung der ersten Zelle, die eine Erweiterung der biologischen Evolutionstheorie auf präbiotische Prozesse erfordert. Auch hier wurde eine mögliche Erklärung gefunden, wie durch chemisch-physikalische Prozesse organische Moleküle entstehen können, die zunächst durch Autokatalyse zu ihrer eigenen Vermehrung beitragen und durch wechselseitige, kooperative Katalyse die Bildung einer ersten Zelle ermöglichen. Bereits in dieser frühen Phase der präbiotischen Evolution tritt aber das Problem auf, das durch parasitische Moleküle die Kooperation der katalytischen Moleküle gestört wird, so dass durch den Aufbau spezieller Enzyme das Wirken der Parasiten unterbunden werden musste.

Trotz aller rationalen Erklärungsmöglichkeiten der Evolution bleibt aber ohne zu Hilfenahme göttlicher Schöpfungskräfte bei vielen Menschen ein Gefühl  ihrer Unvorstellbarkeit. Diese Unvorstellbarkeit ist jedoch von der gleichen Qualität wie die Unvorstellbarkeit der Zeiträume, die seit der Entstehung der Erde vergangen sind und die für Evolutionsprozesse zur Verfügung standen.

 

Teil 3: Das anthropische Prinzip in der Kosmologie