Teil 1: Das Weltbild der Evolutionstheorie
Der im Buch von Gerhard Schurz gebotene Überblick wird hier in 7 einzelnen Teilen zusammengefasst, die eine Einordnung in die gewählte Systematik der Website ermöglichen, wobei die Kapitelnummerierung des Buches beibehalten ist, so dass man die Teile auch in der ursprünglichen Reihenfolge lesen kann.
Teil 1: Das Weltbild der Evolutionstheorie
Teil 2: Die moderne biologische Evolutionstheorie
Teil 3: Das anthropische Prinzip in der Kosmologie
Teil 4: Prinzipien der verallgemeinerten Evolutionstheorie
Teil 6: Bewusstseinsentwicklung
Teil 7: Theoretische Grundlagen und Modelle der Evolution
Wesentlicher Ausgangspunkt für die realistische Einschätzung und Gestaltung unserer Zukunft ist ein möglichst richtiges Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild, in das die modernsten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse einfließen müssen. Dabei kommt es weniger auf Detail- und Spezialkenntnisse an, sondern auf die Integration interdisziplinär breit gefächerter Erkenntnisse zu verallgemeinerten Aussagen, auf deren Grundlage Grundzüge einer zukünftigen Entwicklung und realistische Handlungsanweisungen ableitbar sind. Als aussichtsreichster Ausgangspunkt für ein derartiges Vorhaben bietet sich derzeit eine verallgemeinerte Evolutionstheorie an, deren Grundzüge in dem vorliegenden Buch dargestellt werden. Dies wird im ersten Kapitel des Buches verdeutlicht, in dem gezeigt wird, wie sich die Vorstellungen über die Erschaffung und Entwicklung der Welt unter dem Einfluss immer neuerer Erkenntnisse der Wissenschaften vom Altertum bis zur Neuzeit selbst entwickelt und präzisiert haben, bis wir heute von einem wenn auch nicht von allen und überall in der Welt anerkannten, so doch aber von einem weitgehend übersichtlichen und zutreffendem modernen Weltbild sprechen können, das in groben Zügen verstanden wird und an dessen Einzelheiten derzeit in vielen Forschungsrichtungen noch gearbeitet wird. (WeiterTeil 2: Die moderne biologische Evolutionstheorie)
Teil 6: Bewusstseinsentwicklung
Mit der universellen Akzeptanz der modernen Evolutionstheorie werden mehrere traditionelle Weltanschauungen außer Kraft gesetzt, was der Durchsetzung ersterer entsprechenden Widerstand entgegensetzt.
· Die statische Welt wird durch eine evolvierende ersetzt, was alle religiösen Weltbilder und den Materie-Geist-Dualismus untergräbt.
· Die kosmische Teleologie wird zurückgewiesen und nicht mehr angenommen, dass es eine der Natur immanente Zielorientierung zur Höherentwicklung gibt, damit werden sowohl Spencers Sozialdarwinismus als auch der Fichte-Hegel’sche dialektische Idealismus und der Marx-Engels’sche dialektische Materialismus in Frage gestellt.
· Der Anthropozentrismus wird unhaltbar, der Mensch hat Sinn und Ziel seiner Tätigkeit selbst zu finden und festzulegen, ohne dass er beliebig über die Natur regieren oder sich völlig von Naturzwängen befreien kann.
· Das zentrale Paradigma der Geistes- und Sozialwissenschaften, das mit seinem handlungstheoretischen Erklärungsmodell machtvollen Herrschern die Schuld an geschichtlichen Fehlentwicklungen zuweist, wird gestürzt.
· Scheinbare Zweckmäßigkeit genuin zielgerichteter Prozesse wird auf zufällige Prozesse reduziert, die sich nur statistisch in Populationen durchsetzen und einen Konflikt des darwinistischen Weltbildes nicht nur mit der religiös fundierten, sondern auch mit der aufgeklärten humanistischen Moral heraufzubeschwören scheint.
Alle kulturell überlieferten Moralvorschriften begründen soziale Regeln, welche den Egoismus der Individuen zugunsten sozialer Kooperation eindämmen sollen. Durch den Autoritätsverlust religiöser Weltbilder muss zwar auf die Gott zugeschobene Begründung verzichtet werden, die jedoch durch die menschengemachte Moral des Modernen Humanismus mit den Normen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu ersetzen ist. Insbesondere ist es der Gleichheitsgrundsatz, der Konflikt potential enthält, durch Evolutionsprozesse unterlaufen wird und hinterfragt werden muss. Dabei ist zu beachten, dass Spencers Sozialdarwinismus auf einer Höherentwicklungsthese beruhte, die ohnehin nicht mehr Grundlage der modernen Evolutionstheorie ist und von letzterer abgelehnt wird. Damit entfallen auch alle Vorwürfe von Rassismus, die zwar den Sozialdarwinismus mit der daraus abgeleiteten Rassenlehre und Rassenhygiene treffen, nicht aber die moderne Evolutionstheorie. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass sich menschliche Rassen evolutionär und damit auch genetisch unterscheiden, dennoch sind ihre Individuen aber gleichberechtigte Menschen, auch wenn geringfügige Unterschiede im durchschnittlichen Intelligenzquotienten festzustellen sind. Rassenvermischung ist zudem evolutionär kein Nachteil, sondern ein Vorteil, der die Variationsbreite vergrößert.
Diskussionswürdig, aber zweifellos nicht von vornherein als inhuman abzulehnen, ist die gentechnische Verbesserung menschlicher Erbanlagen zur Elimination von Erbkrankheiten, während die medizinisch mögliche Behandlung von Krankheiten, die unter natürlichen Umständen durch Verringerung der Fitness der Betreffenden zu deren Eliminierung beigetragen hätten, nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, sie behindere etwa die natürlichen Evolutionsprozesse. Im Gegenteil sind diese kulturell möglichen Maßnahmen Beiträge zur allgemeinen Evolution. Problematisch indessen ist, wenn man genetisch behinderten Menschen, die permanenter Betreuung bedürfen, auch die Möglichkeit bietet, schwerbehinderte Kinder zu zeugen und damit zukünftige Generationen zu belasten.
Zur Klärung der Beziehungen zwischen Evolutionstheorie und Ethik bedarf es der Begründung einer evolutionären Ethik.
Bislang sind Naturwissenschaften und Ethik durch die These geschieden, dass Tatsachenfeststellungen der Naturwissenschaften keinerlei logische Rückschlüsse auf moralische Imperative ermöglichen. Die faktische Natur der Evolution zwingt uns nicht dazu, diese auch moralisch zu befürworten. Umgekehrt können ethische Wunschvorstellungen nicht die Feststellung von Tatsachen beeinflussen. Trotz Anerkennung dieser Grenzziehung sind aber z.B. angeborene und tradierte Verhaltenstendenzen der Menschen zwar als Fakten zu respektieren, unterliegen aber dennoch einer moralischen Bewertung, die eine regulierende Wirkung haben soll und hat. Dieser Konflikt ist durch logische Sein-Sollen-Brückenprinzipien zu schließen. Als solche Brückenprinzipien formuliert Schurz
· Die evolutionäre Grundnorm: Die Fortdauer der Evolution des Lebens und insbesondere der höheren Lebensformen auf der Erde für eine möglichst lange Zeit stellt einen obersten Wert dar.
· Das Sollen-Können-Prinzip: Was geboten ist, muss auch faktisch realisierbar sein
· Das Zweck-Mittel-Prinzip: Ist A geboten (qua Fundamentalnorm) und B ein faktisch notwendiges Mittel für die Realisierung von A, dann ist auch B geboten (qua abgeleitete Norm)
· Ethische Regelsysteme haben unter anderem der Förderung sozialer Kooperation zu dienen.
Damit wird die Bedeutung der Wirkung von Kooperation für die Evolution hervorgehoben, unabhängig davon, ob sie auf echtem Altruismus oder wechselseitig befördertem Egoismus beruht, die sich gegenseitig bedingen und für evolutionäre Dynamik und Gruppenbildung sorgen.
Kooperation und Konkurrenz , ob zwischen Individuen oder Gruppen, sind die grundlegenden Prozesse der Evolution, die durch eine evolutionäre Ethik zu regulieren sind. Während der Sozialdarwinismus Selektion ausschließlich als Eliminierung des Schwächeren missversteht und damit die Bedeutung der Konkurrenz in den Mittelpunkt stellt, begreift die soziale Evolutionstheorie das Wechselverhältnis von Konkurrenz und Kooperation als eine Einheit, die Evolution erst ermöglicht und mit dieser eine Umgestaltung der Umgebungsbedingungen, die eine Eliminierung der Schwächeren nicht erfordert. Aus der Perspektive einer evolutionären Ethik muss immer ein Gleichgewicht bestehen zwischen der ausgleichenden Verteilungsgerechtigkeit und der motivierenden Leistungsgerechtigkeit, welche die Evolution vorantreibt, sonst wird das Sollen-Können-Prinzip verletzt. (weiter Teil 5: Kulturelle Evolution )
Die biologische Evolution sorgt für die Existenz der Organismen und damit für die Basis, auf der erst die individuelle und die kulturelle Evolution stattfinden können. Die individuelle Evolution ermöglicht es, dass kulturell erworbene Meme durch Lernmechanismen an die nächste Generation übertragen werden können.
Die individuelle Evolution ist nicht unbegrenzt kumulativ, sondern beginnt mit jeder Generation neu, auch wenn die Lernprozesse der neuen Generation auf den Lernergebnissen der Vorgänger aufbaut.
Die individuelle Evolution beruht auf vier Grundtypen des Lernens:
· Die Prägung ist ein einmaliger Lernakt, bei dem eine angeborene allgemeine Verhaltensweise an die spezifischen Umgebungsbedingungen angepasst wird.
· Bei der klassischen Konditionierung wird ein durch Umweltreize ausgelöstes, angeborenes Verhalten unbewusst mit regelmäßig gleichzeitig auftretenden anderen Umweltreizen verknüpft, was eine unbewusste Anpassung an neue Umweltbedingungen ermöglicht. (Umweltinduktion)
· Operante Konditionierung ist ein Evolutionsprozess, bei dem durch Variationen des Verhaltens die Reaktion der Umgebung spontan beobachtet und im Gedächtnis gespeichert wird, wodurch bei wiederholtem Auftreten der gleichen Situation eine Selektion aus verschiedenen Verhaltensweisen erfolgen kann. Diese erst bei Tieren auftretende Fähigkeit ermöglicht es den Tieren, sich den auf grund ihrer Beweglichkeit viel häufiger wechselnden Umgebungen anzupassen, was durch nur genetisch festgelegte Verhaltensprogramme nicht möglich wäre.
· Höheres Lernen durch Einsicht beruht auf der Konstruktion geistiger Modelle. Mit dieser Fähigkeit ist die charakteristische kognitive Ebene des menschlichen Verstandes und einiger hochintelligenter Säugetiere erreicht. Die Anpassung der kognitiven Modelle an die Umwelt erfolgt durch sukzessive Verbesserung, Variation und Selektion, Versuch und Irrtum und ist die Hauptmethode des individuellen Lernens des Menschen.
Die Fähigkeit zu sozialem Lernen als „Kulturgen“ erhöht die Fitness der Individuen in der biologischen Evolution, dabei konkurriert individuelles Lernen durch Versuch und Irrtum bei individueller Evolution mit sozialem Lernen durch die Übernahme der Lernergebnisse anderer in der kulturellen Evolution. Ein Kulturgen wird sich dann bevorzugt ausbreiten, wenn die Fehlerrate individuellen Lernens deutlich größer ist als die Fehlerrate von sozialem Lernen durch Traditionsübernahme. Dies ist dann der Fall, wenn sich die Lebensbedingungen von Generation zu Generation nur langsam und kontinuierlich verändern. Kulturelle Tradition basiert auf sozialem Lernen, also auf Lernen von anderen Personen und benötigt hierfür die individuellen Lernmechanismen, zeigt aber selbst unterschiedliche Arten sozialen Lernens:
· Imitiere deine Nächsten (nachbarschaftsgesteuerte Methode)
· Imitiere die Besten (erfolgsgesteuerte Methode)
· Kombiniere alles Bessere zu einem gewichteten Mittel und imitiere das Ergebnis
Wie in der biologischen Evolution erworbene Merkmale nicht genetisch vererbt werden, werden auch im Allgemeinen individuell erworbene Lernergebnisse nicht direkt kulturell reproduziert, sondern müssen erneut individuell erworben werden. Nur in wenigen Ausnahmefällen werden bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen unmittelbar allgemeines Kulturgut.
Die Soziobiologie zeigt, dass gewisse Kulturerscheinungen genetisch bedingt sind. Aber auch kulturelle Errungenschaften können die Selektionsbedingungen für Gene so verändern, dass sich die Häufigkeitsverteilung vorhandener Allele deutlich ändert. Das heißt nicht, dass kulturell Genmutationen erzeugt werden können, aber durch Kultur kann über die sexuelle Selektion die Verteilung biologischer Merkmale in der Population verändert werden (Wilson-Effekt). Des weiteren kann bei Vorliegen einer bestimmten Kulturtechnik die Selektionsbedingung für ein Gen, das die Ausführung dieser Technik erleichtert, so beeinflusst werden, dass sich die biologische Fitness des Genträgers erheblich verbessert.(Baldwin-Effekt)
Dass kulturelle Evolution auch die biologische Evolution behindern kann, zeigt die demografische Schwelle, die ausweist, dass ab einem gewissen Wohlstandsniveau die durchschnittliche Geburtenrate in einer Gesellschaft so weit abnimmt, dass die Reproduktion der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist.
Ein spezielles Problem der kulturellen Evolution ist die invers-korrelierte Reproduktion des Intelligenzquotienten. In Deutschland und in vielen entwickelten Industrieländern ist die Fertilitätsrate in den sozialen Schichten mit dem höheren Intelligenzquotienten niedriger als im Durchschnitt der Bevölkerung. Es ist eine unzweifelhafte Tatsache, dass der Intelligenzquotient ein bedeutsames, aber unterschiedliches charakteristisches Merkmal der Persönlichkeit darstellt, das irgendwie von den Eltern auf die Kinder übertragen wird, ob nun genetisch oder durch Erziehung und Finanzierung von Ausbildung. Beides ist empirisch gut gestützt und führt dazu, dass der durchschnittliche IQ der Bevölkerung pro Generation um 2% sinkt. Gleichzeitig aber wurde festgestellt, dass sich wahrscheinlich durch Intensivierung von Erziehung und Bildung vorwiegend im unteren Bereich der IQ von 1950 bis 1990 um 10 Punkte zugenommen hat. Nur der kulturell bedingte Anteil des IQ, der aber unter 50% liegt, kann durch eine gerechtere gesellschaftliche Verteilung der Bildungschancen erhöht werden, dem genetisch bedingten Absinken des IQ aber müsste entgegengewirkt werden, indem die Attraktivität eines Lebens mit Kindern in den oberen Bildungsschichten durch familienfreundlichere Karrierebedingungen erhöht wird.
Die Unterschiedlichkeit des Intelligenzquotienten der Individuen selbst aber bleibt eine Tatsache, die nicht beseitigt werden kann, deshalb aber auch nicht ethisch bewertet werden sollte, denn die Gesellschaft benötigt alle sozialen und beruflichen Schichten in ausgewogenem Verhältnis. (weiter Teil 7: Theoretische Grundlagen und Modelle der Evolution)
Die Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist eng mit der Evolution der Sprache verknüpft. Erst durch die Sprache kann individuelle Erfahrung in abstrakte Begriffe gefasst und durch Übertragung von Mensch zu Mensch zu allgemeiner Erkenntnis und zu Kulturentwicklung werden. Deutlich zeigt sich dies in der Übereinstimmung der aus genetischen Abstammungslinien abgeleiteten Verwandtschaft der Völker und Ethnien mit dem Abstammungsbaum menschlicher Sprachen und Begriffe und in der Übertragbarkeit abstrakter Erkenntnisse aus einer Sprache in die andere.
Schimpansen können viele Aufgaben erledigen, die auch Anforderungen an ihre Intelligenz stellen. Der wesentliche Unterschied zum Menschen zeigt sich aber darin, dass nur Menschen in der Lage sind, sich in andere Menschen „hinein zu versetzen“, d.h. die Welt aus der Sicht eines anderen zu betrachten und zu beurteilen. Diese Fähigkeit konnte sich offenbar nur in Verbindung mit ihrer sprachlichen Kommunikation entwickeln, ist ein wesentliches Kennzeichen sozialer Intelligenz und wird nicht nur durch individuelles Lernen erworben, sondern ist bereits genetisch verankert, wie sich daran zeigt, dass bereits kleine Kinder in dieser Hinsicht erstaunliche Leistungen aufweisen und sogar Babys bald zwischen unbelebten und belebten Objekten unterscheiden können. Während ausgewachsene Schimpansen in den übrigen Intelligenzleistungen das Niveau von Kleinkindern erreichen können, bleibt ihre soziale Intelligenz unterentwickelt.
Menschliche Erkenntnisfähigkeit zeigt sich in vier Stufen.
Evolutionär selektierte kognitive Programme und Module, die genetisch verankert und wenig veränderbar sind, sich aber in der Individualentwicklung frühzeitig herausbilden. Hierzu zählen
Das Modul der zielorientierten geteilten Aufmerksamkeit ab 9 Monaten
Das Modul zur Unterscheidung lebender und unbelebter Objekte ab 6 Monaten
Bedürfnis zum Spracherwerb ab 18 Monaten
Mentale Raummodelle ab 2 Jahren
Wissen über das Wissen anderer ab 4 Jahren
Konventionelle Moralvorstellungen ab 6 Jahren
Modul zur Aufdeckung von Regelverletzungen
Diese kognitiven Module sind auf spezifische Anwendungsbereiche optimiert und schnell verfügbar, führen aber bei Ausdehnung auf neuartige Anwendungsbereiche leicht zu systematischen Fehlurteilen.
Induktive universelle Mechanismen für das individuelle Lernen aus Erfahrungen. Dabei werden aus mit hoher Wahrscheinlichkeit beobachtbaren Wenn- dann- Beziehungen Kausalschlüsse gezogen, die der deduktiven Logik widersprechen, weil sie nicht streng, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit gelten. Die Anwendung dieser Mechanismen auf die Vorhersage von Handlungsfolgen ermöglicht zwar schnelle Entscheidungen, die aber auch zu falschen Schlussfolgerungen führen können. Mit Hilfe dieser Mechanismen sind die Menschen jedoch in der Lage, ihre angeborenen Erkenntnisprogramme zu korrigieren und auf neuartige Anwendungsbereiche zu erweitern.
Die für die kulturelle Evolution essenziellen Mechanismen für das soziale Lernen beruhen auf der Übernahme und Nachahmung des erfolgreichen Handelns anderer Individuen. Die beste Strategie besteht dabei darin, die in verschiedenen Situationen jeweils besten Handlungsstrategien entsprechend den erreichten Erfolgen gewichtet zu mitteln. Mit Hilfe dieser Metainduktion besteht die Möglichkeit, die Erkenntnisse aus individuellen Lernprozessen zu verallgemeinern und zu optimieren.
Die bislang beschriebenen modularen und universellen Lernmechanismen funktionieren weitgehend unbewusst, auch wenn dabei das Bewusstsein die Rolle eines zusammenfassenden Berichterstatters spielt. Aber diese nachträgliche systematische Vernetzung und Überprüfung unserer Denkinhalte ermöglichte eine enorme Steigerung der bewusst-systematischen Verstandestätigkeit, die um Zehnerpotenzen langsamer erfolgt und nicht die schnellen Entscheidungen ermöglicht, die vielfach notwendig sind. Durch die institutionelle Etablierung eines von unmittelbaren Zwängen abgeschotteten Forschungs- und Bildungsbereiches konnte sich dieser bewusste Verstand in unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation in kognitiv überlegener Weise entwickeln und damit den wissenschaftlich technischen Fortschritt der Menschheit ermöglichen, der weitgehend systematische Voraussagen zukünftiger Entwicklungen erfordert.
Im allgemeinen geht die evolutionäre Erkenntnistheorie davon aus, dass der Wahrheitsgrad unserer Erkenntnisse den evolutionären Erfolg bestimmt und sich deshalb der Erkenntnisapparat evolutionär gerade so entwickelt hat, dass wir wahre Erkenntnisse gewinnen können. Diese Auffassung stößt dort an ihre Grenzen, wo Glaube unabhängig vom Wahrheitswert die Psyche des Menschen leistungssteigernd beeinflusst. Ein solcher Einfluss zeigt sich bei psychologischen Studien unverkennbar in folgenden Erscheinungen:
Selbstüberschätzung der eigenen Urteils- und Leistungsfähigkeit
Glaube an die Kontrollierbarkeit von Abläufen, die tatsächlich von Zufallsvariationen bestimmt werden
Egozentrische Selbstgerechtigkeit in sozialen Beurteilungen
Alle drei Placeboeffekte unterliegen einem sozialen Verstärkungseffekt, wenn sie in einer ganzen Gruppe auftreten und werden durch religiöse und andere Weltanschauungssysteme systematisch reguliert und manipuliert.
Religiöse Auffassungen wurden immer wieder wissenschaftlich widerlegt. Dennoch gibt es in allen Kulturen nach wie vor Religionen und es ist nicht erkennbar, dass diese wesentlich zurückgedrängt werden konnten. Die Selektionsgründe für die Entstehung und Beibehaltung religiöser Einstellungen liegen darin, dass infolge von Placeboeffekten das Selbstvertrauen der Menschen konsolidiert wird, wenn sie glauben, dass ihnen ein übermächtiger Schöpfergott in allem beiseite steht und sie führt. Der Glaube an das Jenseits reduziert die Todesangst und stiftet Lebenssinn. Religion trägt dazu bei, die soziale Kooperation zu stärken, indem sie die gemeinsamen Werte und Regeln der eigenen Gruppe durch eine höhere Macht moralisch legitimiert und für altruistische Handlungen eine reziprok-egoistische Belohnung im Jenseits verspricht. So wird ein Gott als Vaterfigur aufgebaut, der das Erklärungsbedürfnis befriedigt und alle unklaren Fragen beantworten kann. Auf grund dieser Effekte wird Religion in der Evolution positiv selektiert, so dass in keiner menschlichen Kultur religiöse Vorstellungen fehlen.
Die große Gefahr aller Religionen ist ihre Tendenz zum Fundamentalismus, zum Absolutheitsanspruch ihres jeweils eigenen Gottes und zur Abwertung der Lehren anderer Religionen als Verfehlungen, die bereits in der Natur der Gottesvorstellung als übermächtige Führer- und Beschützerfigur angelegt ist. Der Fundamentalismus ist nicht erst eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, sondern eine Konsequenz des grundsätzlichen Ausschlusses einer Überprüfbarkeit religiöser Hypothesen. Fundamentalistische Glaubenssysteme gehen von der Unfehlbarkeit und Unkorrigierbarkeit ihrer Lehren aus, deren Begründung zweitrangig ist. Sie streben deshalb nach unhinterfragbarer Macht.
Auch aufgeklärte Rationalität kommt nicht ohne letzte Glaubensgrundsätze aus, aber bei ihr kommt es vor allem auf die richtige Begründung des Glaubens an. Das impliziert intrinsische Selbstkorrigierbarkeit durch kritische Überprüfung aller Erkenntnisse. Das führt zur Anerkennung der Gleichberechtigung unterschiedlicher subjektiver Werteinstellungen und zur Konzeption der Demokratie mit der Tendenz grundsätzlicher Ablehnung kriegerischer Auseinandersetzungen. Dennoch werden damit die Ursachen für die Evolution der Religionen nicht beseitigt. Die Entschleierung des verallgemeinerten Placeboeffektes verhindert nicht seine Wirkung, damit muss rationale Aufklärung rechnen. Es kann deshalb nicht das Ziel sein, die wohltuende Wirkung harmloser Placeboeffekte vollständig aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen, sondern es sind geeignete Kompromisse zu finden.
Die säkularisierten Religionen westlicher Gesellschaftssysteme stellen religiöse Glaubenssysteme und ihre Placeboeffekte zur Verfügung, aber verzichten auf politische Macht, errichten Barrieren gegen die Gefahren des Fundamentalismus und sind damit eine derartige erstrebenswerte Kompromissleistung. Der in Europa Jahrhunderte dauernde Prozess der Aufklärung und Säkularisierung ist jedoch global noch nicht zu Ende und bleibt eine weitergehende Aufgabe in der Evolution der Menschheit.
23.10. 2012
Bertram köhler