Wilber und die Evolution des Geistes
Bemerkungen zum Buch "Das Wahre, Schöne, Gute"
Der Liberalismus der Aufklärung hat Gott getötet, dafür aber die religiöse Tyrannei durch die ökonomische ersetzt. GEIST und Seele sind dabei auf der Strecke geblieben. Ken Wilber versucht, den aufklärerischen Liberalismus und seinen Individualismus mit Gott zu versöhnen und die Vorzüge der materialistischen Weltsicht mit den Vorzügen der alten religiösen Weisheitslehren zu vereinigen. Dabei will er alle Erkenntnisse bewahren, indem er von einer dualistischen Weltsicht ausgeht. Sein "integraler Ansatz" bietet dabei eine Reihe neuartiger Perspektiven, die z.T. interessant sind, aber für mich nicht in allen Teilen nachvollziehbar sind. Er möchte einen "liberalen Gott", der in die heutige Zeit paßt, ohne dass die Erkenntnisse der westlichen Wissenschaften entwertet werden müssen. Der Gedanke der phylogenetischen Evolution wird dabei meines Erachtens zu einseitig betrachtet.
Mit seinem "integralen" Ansatz will Ken Wilber die uralten gegensätzlichen Sichtweisen der Philosophen, den Idealismus und den Materialismus miteinander versöhnen. Aus meiner Sicht versucht Wilber zwar hierzu einige neue Ansätze, insgesamt gelingt die proklamierte Absicht jedoch nicht, und es verbleibt letztlich ein idealistischer Gesamtansatz. Vielleicht will er aber auch gar nichts anderes, dann kann ich aber seine Polemik über weite Strecken nicht verstehen. Er selbst zählt sich jedoch nicht zum idealistischen Lager.
Wenn Wilber bereits in der Einleitung schreibt:
"Es scheint, daß der Urknall, was auch immer er sonst noch bewirkte, von den großen philosophischen Haltungen, die dem denkenden Menschen seit jeher zur Verfügung stehen, nämlich Idealismus und Materialismus, dem letzteren den Todesstoß versetzt hat."
so kann ich das in keiner Weise nachvollziehen, es sei denn, ich gehe von vornherein vom idealistischen Standpunkt aus. Es ist nichts gewonnen, wenn er anerkennt, das in beiden Sichtweisen innere Logik enthalten ist, wenn am Ende nur Idealismus übrigbleibt. Wenn der GEIST nur den Anstoß zum Urknall gegeben haben soll, ohne der Evolution gleichzeitig Sinn und Richtung zu geben, dann kann das nicht der GEIST gewesen sein, den Ken Wilber ansonsten hervorhebt.
Als anzuerkennende Leistung sehe ich die vielleicht wirklich erstmalige Darstellung aller Seiten der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in den 4 Quadranten des Antlitzes der Wahrheit:
Dass alle diese Seiten berücksichtigt werden müssen, wenn der Mensch eine richtige und brauchbare Weltsicht entwickeln will, steht meines Erachtens weder in der modernen materialistischen noch in der modernen idealistischen Sichtweise außer Frage. Die Polemik, die Wilber hier entfacht, geht nach dem Muster: Erst unterstelle ich meinem Widersacher die denkbar größte Einseitigkeit, die ich dann um so besser widerlegen kann. Besonders deutlich wird dies in folgender Passage: "Insoweit also Systemtheoretiker beanspruchen, eine moralische oder normative Richtung anzugeben, haben sie aufgehört, Systemtheoretiker zu sein. Sie sind damit von einer beschreibenden Es- Sprache zu einer normativen Ich- und Wir- Sprache übergegangen, und dies sind Begriffe, die die Systemtheorie nicht begreift und nicht begreifen kann."
Nicht anerkennen kann ich die Auffassung Wilbers, die 4 Quadranten wären in keiner Weise auseinander ableitbar, insbesondere erfordere die individuelle und die intersubjektive Sichtweise das Wirken eines geistigen Prinzips, das nicht aus den äußeren objektiven und interobjektiven Gegebenheiten ableitbar sei. Wilber unterstellt der Systemtheorie einen "subtilen Reduktionismus", der nicht geeignet sei, Erscheinungen der individuellen und intersubjektiven Realität zu erklären. Die Systemtheorie hochkomplexer Systeme hat aber längst den reduktionistischen Standpunkt verlassen und anerkennt emergente Eigenschaften übergeordneter Systeme, die nicht aus ihren Elementen ableitbar sind. Wenn man für alle diese Eigenarten ein geistiges Prinzip in Anspruch nehmen will, so muß man auch für die Organisation des Laserstrahles oder der Benardzellen und für jede Art von Selbstorganisation diesen Geist verantwortlich machen, d.h. die ganze Welt könnte nur durch das Wirken dieses GEISTES in Funktion gehalten werden. Damit wären wir beim reinen Idealismus angekommen: Der GEIST erzeugt die Welt.
Umgekehrt kann die evolutionäre Erkenntnistheorie sehr wohl Entstehung geistiger Prozesse und moralischer Verhaltensweisen als Folge der Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt und mit seinen Artgenossen erklären. Aber mit Werken von z.B. Vollmer oder Riedl setzt sich Wilber nicht auseinander und kennt sie wohl auch nicht. Er will offenbar nicht akzeptieren, daß unser Bewußtsein eine rein materiell - physiologische Basis haben könnte, wenn er schreibt: "Man kann es drehen und wenden wie man will, diese empirischen und objektivistischen Darstellungen (analoge und digitale Datenmengen, die durch Informationsnetze huschen, oder Neurotransmitter, die über dendritische Pfade sausen) geben nicht unsere tatsächliche Erfahrung unseres inneren Bewußtseins wieder. Wenn Sie und ich in unser Inneres schauen, finden wir eine andere Welt vor, keine Welt von Bits und Bytes und imaginären digitalen Einheiten, sondern eine Welt von Bildern und Vorstellungen, von Hunger und Schmerz, von Gedanken und Wahrnehmungen, Wünschen und Begierden, Absichten und Abneigungen, Hoffnungen und Ängsten." Er will nicht wahrhaben, dass genau diese Bedeutungen digital codiert werden können und dass die Evolution selbst es ist, die durch Mutation und Selektion, durch Trial and Error diese Codierung vornimmt. Wilber aber sieht in der Evolution, die er durchaus als real anerkennt, lediglich den absoluten und ewigen "GEIST IN AKTION", der mit Hilfe der Evolution sich selbst verwirklicht. Sein integraler Ansatz besteht also lediglich darin, dass er die real vor sich gehende Evolution zwar aus der Sicht der 4 Quadranten betrachtet, sie letztlich aber auf das Wirken des ewigen GEISTES zurückführt.
Aus der integralen Perspektive sieht Wilber eine ontologische Entwicklung des individuellen Bewußtseins, indem er die Erkenntnisse der modernen Psychologie zusammenfaßt mit den großen Traditionen der religiösen Weisheitslehren. Die Ebenen des Bewußtseins entwickeln sich hiernach hierarchisch von der bewußtlosen Materie über den Körper, den Instinkt zum Ichbewußtsein und weiter über das Stammesbewußtsein und das Weltbürgerbewußtsein bis zum transpersonalen und transzendenten Gottbewußtsein. Die Individuen können auf den einzelnen Ebenen stehenbleiben, haben aber jederzeit die Möglichkeit bis zum Gottbewußtsein aufzusteigen. Die in den verschiedenen Lehren unterschiedliche Einteilung der Ebenen bei prinzipieller Übereinstimmung der Gesamtsichtweise erklärt Wilber aus der Aktion des ewigen und absoluten Geistes bei seiner Selbstverwirklichung und anthropologisch aus dem Charakter der Evolution als eines schrittweisen holonischen Aufbaus umfassender Strukturen aus einfacheren. Dabei polemisiert er ausschließlich gegen traditionelle Auffassungen, die den Menschen aus der allgemeinen Evolution ausschließen wollen und seine kulturelle Evolutionsgeschichte nicht wahrhaben wollen, während er sich mit materialistisch geprägten Evolutionsauffassungen gar nicht auseinandersetzt. (Diese sind offenbar von vornherein "böse" und brauchen nicht beachtet werden).
Die integrale Philosophie geht davon aus, dass es 3 Wege zur Erkenntnis gibt. Nur wenn man alle 3 Wege in Anspruch nimmt, kann man die Wirklichkeit richtig erkennen.
Auf allen drei Wegen gelten die gleichen Gültigkeitskriterien
Dabei gilt: empirische Daten können nur empirisch gewonnen oder widerlegt werden, rationale Erkenntnisse können nur logisch bestätigt oder widerlegt werden, mystische Erkenntnisse können nur mystisch bestätigt oder widerlegt werden.
Wie rationale Erkenntnisse nur nach entsprechender mathematischer und logischer Schulung gewonnen werden können, können mystische Erfahrungen nur durch meditative Ausbildung gewonnen werden.
Mystische Erfahrungen können nicht empirisch oder rational gewonnen oder widerlegt werden.
Die integrale Philosophie erkennt diese Behauptungen an, kann oder will sie aber weder beweisen noch widerlegen. Wer wissen will, ob diese Behauptungen wahr sind, muß meditieren und Mystiker werden.
Nach Poppers Kriterien wäre die integrale Philosophie eine nicht prüfbare Hypothese, also ein Glaube. Wilber behauptet zwar, daß auch mystische Erfahrungen durch Meditation bestätigt oder widerlegt werden können. Aber wie kann man eine mystische Erfahrung widerlegen, wenn logische Schlußfolgerungen zur Beweisführung nicht zulässig sind, weil paradoxe Erfahrungen von vornherein erwartet und nicht angezweifelt werden?
Die integrale Theorie der Kunst geht davon aus, dass ein Kunstwerk wie jede andere Entität ein Holon ist, d.h. ein Ganzes, das aus Teilen besteht und gleichzeitig Teil eines größeren Ganzen ist. Das Urholon jedes Kunstwerks ist der ursprüngliche Anstoß des Künstlers, das Kunstwerk zu schaffen. Die Bedeutung des Kunstwerks existiert nicht an sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem Kontext, von dem aus das Kunstwerk betrachtet wird. Da jedes Kunstwerk in eine unbegrenzte Zahl verschiedener Kontexte eingebettet ist, hat es auch ebenso viele unterschiedliche Bedeutungen. (Die bewußte oder unbewußte Absicht des Künstlers, das Kunstwerk an sich, die Wirkung auf den jeweiligen Betrachter im jeweiligen historischen Umfeld usw.) Die verschiedenen Kunsttheorien unterscheiden sich darin, dass sie das Kunstwerk jeweils lediglich aus ihrem eigenen Kontext betrachten und die übrigen als unwichtig vernachlässigen, während die integrale Kunsttheorie alle realen Kontexte als gleichwertig in die Betrachtung einbezieht. Die höchste Bedeutung repräsentiert das Kunstwerk in seiner spirituellen Wirkung auf das geistige Auge des Betrachters, womit es ihm die Transzendenz des ewigen GEISTES offenbart.
Wilber schließt psychische und spirituelle Entwicklung unmittelbar aneinander an und stellt fest, daß die Form dieser Entwicklung stufenförmig und auf jeder Stufe die gleiche ist. Auf jeder Stufe wiederholt sich, daß eine Struktur höherer Ordnung - die komplexer und deshalb einheitlicher ist - durch Differenzierung der vorangegangenen Struktur niederer Ordnung auftaucht (sich entwickelt). Diese Struktur höherer Ordnung wird dem Bewußtsein vorgestellt und das Bewußtsein identifiziert sich über kurz oder lang mit jener auftauchenden Struktur und löst seine Identifikation mit der vorhergehenden Struktur. Die vorhergehende Struktur, die ein Ganzes war, wird durch diesen Vorgang zu einem Teil des Ganzen und wird vom Subjekt zum Objekt und die neue Struktur wird Subjekt. Das erfolgt in mindestens folgenden Stufen:
Das Selbstbewußtsein durchwandert der Reihe nach alle Stufen des Bewußtseins und identifiziert sich jeweils mit der Stufe, in der es sich gerade befindet. Auf die niederen Stufen kann es von der erreichten Stufe aus einwirken. Mit der gerade erreichten Stufe ist es in einer Weise verbunden, die seiner Erkenntnis entzogen ist (das verbundene Unbewußte). Indem es versucht, diese Stufe zu erkennen, transzendiert es in die nächst höhere Stufe.
Die Entwicklung des Bewußtseins folgt einer Reihe von Entwicklungslinien, die parallel verlaufen und deren Entwicklungszustände durch notwendige, aber nicht hinreichende Beziehungen miteinander verknüpft sind. Zu den verschiedenen quasi - unabhängigen Entwicklungslinien zählen u.a.:
Diese Linien entwickeln sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und erreichen bei den Individuen unterschiedliche Ebenen. Ihre Beziehungen sind von der Art, daß z.B. die moralische Entwicklung nicht der interpersonalen vorauseilen kann, und diese nicht der kognitiven Entwicklung, aber umgekehrt schon. Das Selbst System manipuliert und koordiniert diese Linien, das Bewußtsein selbst befindet sich dabei auf der Ebene, auf der das Handeln ist.
Durch Meditation kann die Geschwindigkeit auf einzelnen Entwicklungslinien beschleunigt werden, aber die Verknüpfungsbedingungen der Entwicklungszustände werden nicht verändert. Durch Meditation ungleichmäßig beschleunigte Entwicklung kann sich negativ auf den Bewußtseinszustand auswirken. Nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung erreicht die höheren Stufen des Bewußtseins.
Wilber vertritt die Ansicht, dass das Bewußtsein seinen Sitz nicht im Organismus hat, sondern es ist über alle 4 Quadranten verteilt. Die entstehende "Wissenschaft des Bewußtseins" macht zu seiner Beschreibung folgende Ansätze:
Wilber hält alle diese Ansätze für gleich wichtig und für einen Ausdruck der Tatsache, daß Bewußtsein nicht auf einen der 4 Quadranten konzentriert, sondern auf alle Quadranten gleichmäßig verteilt ist. Läßt man einen Quadranten weg, so zerstört man jegliches Bewußtsein.
Evolution ist der GEIST in Aktion. Der GEIST bringt das Vehikel für seine eigene Selbstverwirklichung evolutiv hervor. Der Mensch kann sich bis zu dem Punkt entwickeln, an dem sein Bewußtsein überbewußt wird und sich selbst erkennt. Dieser Punkt liegt aber nicht am Ende seiner Evolution, sondern er kann jederzeit aus dem Zyklus von Zeit und Evolution heraustreten, indem er sein Selbstbewußtsein abwirft und sich als reiner Zeuge sieht.
Im letzten Kapitel seines Buches stellt Wilber das endlose Streben des Menschen nach Erkenntnis als "die große Suche" nach Gott dar. Die große Suche ist aber sinnlos. Solange man sucht, findet man nicht. Das gilt auch für die spirituelle Praxis, die nichtduale Meditation, die auch nur eine Form der großen Suche ist und deshalb auch nicht zum Ziel führt. Die große Suche endet nur, indem man das Ich-Bewußtsein aufgibt und sich selbst mit dem GEIST identifiziert.
In diesem Kapitel wird ganz deutlich, daß eine duale Philosophie nicht in sich schlüssig ist und letztlich in eine rein idealistische Philosophie mündet. Der Widerspruch zwischen Idealismus und Materialismus wird nicht aufgelöst, sondern verdrängt, wie schon immer. Wer nicht auf der großen Suche nach Gott ist, dem bleibt nur der Materialismus oder die Selbstaufgabe.