Die Evolution des Gehirns
(nach John C.Eccles)
In den ersten 7 Kapiteln seines Buches beschreibt Eccles auf darwinistisch-materialistischer Grundlage die neurophysiologische und funktionale Entwicklung des Gehirns der Hominiden vom Affen bis zum Neuzeitmenschen und deren Zusammenhänge mit der übrigen biologischen und sozialen Entwicklung des Menschen. Es wird ganz klar herausgestellt, dass die geistigen Funktionen des Gehirn auf chemischen und elektrophysikalischen Vorgängen in den verschiedenen, klar voneinander abgrenzbaren Bereichen des Gehirns beruhen und als Folge der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt evolutionär entstanden sind.
Die gegenüber den Primaten besonders herausragenden Leistungen des Menschen bezüglich des räumlichen Sehens und Vorstellungsvermögens, des Lernens und des Gedächtnisses sowie des sprachlichen Ausdrucksvermögens und der Begriffsbildung haben sich im Verlaufe der letzten 4 Millionen Jahre entwickelt und sind an archäologischen Funden nachweisbar.
Insbesondere das Gedächtnis als Grundlage aller höheren geistigen Aktivitäten beruht auf einer chemischen Verfestigung bestimmter evolutionär angelegter Hirnstrukturen und Nervenverschaltungen, die durch häufigen Gebrauch bis zu einem Grade stabilisiert werden können, dass die Gedächtnisinhalte für das ganze Leben erhalten bleiben und nicht mehr ins aktive Bewusstsein treten.
Die letzten 3 Kapitel beschreiben dann die philosophisch relevanten Probleme der Wechselwirkung zwischen Gehirn und Bewusstsein und verlassen schrittweise materialistische Positionen.
Biologie und Psychologie haben sich in den letzten Jahren vom Behaviorismus befreit und billigen auch den höheren Tieren ein Bewusstsein zu. Bewusstsein ist zunächst nichts weiter als die Integration verschiedener sensorischer Nervenimpulse zu einer Ganzheit, von der aus das Verhalten zur Bewältigung von Umweltproblemen effektiver gesteuert werden kann. Das tritt zweifellos bei Vögeln und Säugetieren auf. Die Emergenz von Bewusstsein ist ein Produkt der natürlichen Selektion in der Evolution. Für Eccles bleibt sie "rätselhaft", solange man sie als einen natürlichen Prozess in einer rein materialistischen Welt betrachtet. Eccles versteht als rein materialistische Welt aber ausschließlich die Poppersche Welt 1, zu der Denkvorgänge als Bestandteil der Welt 2 nicht gehören. Eine derart enge Auslegung des Materialismus ist aber sicher nicht haltbar. Für mich gehören Denkvorgänge, da sie ja real existieren, wie auch die ganze Welt 2, ja sogar die Welt 3, durchaus zu den außerhalb und unabhängig von meinem Bewusstsein existierenden Realititäten. (Leninscher Materiebegriff). Die Welt 1 ist sicher nicht in sich abgeschlossen, denn sie erzeugt über die Welt2 auch die Welt 3 und letztere kann auf gleichem Wege auch wieder auf die Welt 1 zurückwirken. Die Emergenz des Bewusstsein erscheint mir deshalb nicht rätselhafter als jede andere Art von Emergenz auch. Emergenz muss man eben als natürlichen Vorgang akzeptieren. Die Wechselwirkung zwischen Welt 1 und Welt 2 bezeichnet Eccles aber als dualistischen Interaktionismus und betrachtet mentale Vorgänge als außerhalb der Nervenzellen ablaufend (und stellt das auch in einer Grafik so dar).
Im Unterschied zu Eccles hält Litsche (Psychogenese) die Evolution der Psyche nicht für rätselhaft, sondern rekonstruiert ihre Entstehung parallel zur Entstehung des Nervensystems konsequent als Funktion des letzteren.
Experimentelle Untersuchungen zeigen, dass bei Tieren wie bei Menschen eine motorische Muskelreaktion gleichermaßen von der Großhirnrinde ausgeht, die über einen Impuls an das Kleinhirn die Muskelbewegung auslöst. Auch das höhere Tier hat eine Art Welt 2, ihm fehlt aber das Selbstbewusstsein, dass heißt, es weiß noch nicht, dass es ein Bewusstsein besitzt. (Die im Vortrag von Roth beschriebene Auslösung des Willensaktes auch beim Menschen aus dem Unterbewussten war Eccles offenbar 1989 noch nicht bekannt). Das Selbstbewusstsein des Menschen ist eine weitere emergente Entwicklung, die sich aus einem immer komplexeren Bewusstsein ergibt.
Die Einwirkung mentaler Vorgänge auf die Nervenzellen stellt sich Eccles in der Art eines quantenmechanischen (nichtmateriellen) Wahrscheinlichkeitsfeldes vor, zumal die in den Synapsen umgesetzten Energien durchaus in der Größenordnung eines Wirkungsquantums liegen. In dieser Vorstellung brauchen mentale Vorgänge keine Energie umsetzen, sondern nur Wahrscheinlichkeiten steuern, liegen also außerhalb der Welt von Materie und Energie.
Während Struktur und anatomischer Aufbau der beiden Hälften des Gehirns anscheinend keinerlei Unterschiede aufweisen, entwickelt sich nur bei den Hominiden eine ausgeprägte funktionale Asymmetrie. In der linken Hälfte des Gehirns entwickeln sich die sprachlichen, arithmetischen und begrifflichen Funktionen, in der rechten das räumliche Vorstellungsvermögen und das Musikverständnis. Inwiefern das Selbstbewusstsein auf beide Gehirnhälften verteilt ist, konnte noch nicht eindeutig geklärt werden, weil der rechten, untergeordneten Hälfte die sprachliche und begriffliche Ausdrucksfähigkeit fehlen, emotionale Reaktionen wegen der tieferen Verbindungen beider Gehirnhälften über das ungeteilte limbische System bisher aber nicht hinreichend getrennt werden konnten. Man nimmt jedoch an, dass das Selbstbewusstsein, in der dominanten linken Hälfte seinen Sitz hat.
Die unterschiedlichen Funktionen der beiden Hälften sind in den phylogenetisch am spätesten ausgebildeten Regionen der Hirnrinde konzentriert und bilden sich ontogenetisch erst im Kindesalter aus. Deshalb gibt es auch die seitenumgekehrte Asymmetrie und bei Hirnschäden im Kindesalter kann die andere Hirnhälfte die Funktionen der geschädigten Seite übernehmen. Auch die im frühen Kindesalter noch offene und spätere Festlegung ausgeprägter Fähigkeiten und Neigungen verweist auf diese Tatsachen. Durch die funktionale Asymmetrie konnte die Potenz der Hirnrinde des Menschen gegenüber dem Schimpansen auf das 5,4-fache gesteigert werden bei einem Anwachsen des Volumens auf das nur 3,2-fache.
Das Selbstbewusstsein mit seinem Sitz in der Großhirnrinde ist der zentrale Teil der menschlichen Person. Es ist nicht ein bloßes Subjekt, es enthält ein lebhaftes Bewusstsein davon, ein handelndes Ich zu sein, ein Zentrum der Aktion. Es verdankt diese Ichheit weitgehend der Wechselwirkung mit anderen Personen, mit dem Ich anderer und mit der Welt 3.
Welt 3 wurde im Laufe der kulturellen Entwicklung des Menschen geschaffen. Sie entwickelte sich erst ganz langsam und dann immer schneller.
Das Neugeborene besitzt ein menschliches Gehirn, aber seine Welt 2 Erfahrungen sind ganz rudimentär und Welt 3 ist ihm unbekannt. Die Entfaltung des Selbstbewusstseins (Welt 2) erfolgt durch fortgesetzte Interaktion mit Welt 3. Die biologische, genetische Evolution des Menschen ist zu Ende. Eventuelle weitere genetische Mutationen werden durch den weltweiten Kontakt von Milliarden Menschen verdünnt und unwirksam. Die weitere Evolution des menschlichen Bewusstseins erfolgt durch die Evolution der Welt 3.
Mit dem Begriff des Geistes hat Eccles jedoch einige Schwierigkeiten. Er zitiert einige sich materialistisch definierende Philosophen und meint, dass diese eigentlich mit ihm übereinstimmen und dualistischen Interaktionismus vertreten. Die emergente Bindung des Geistes an das Gehirn will er nicht so recht wahrhaben.
Ein wesentliches Merkmal des menschlichen Bewusstseins ist der Zeitbegriff. Erst mit ihm können frühere Wahrnehmungen Erinnerungen werden, mit denen man operieren und in die Zukunft denken kann. So macht die erlebte Vergangenheit einen wesentlichen Bestandteil der Persönlichkeit aus.
Zwischen zwei grundlegenden Attributen des Geistes, Intelligenz und Vorstellungsvermögen, muss deutlich unterschieden werden. Intelligenz kann als rasche Auffassungsgabe, Gründlichkeit des Verstehens, Klarheit des Ausdrucks und Einsichtsfähigkeit quantitativ beurteilt werden. Schöpferisches Vorstellungsvermögen ist eine Eigenschaft des Gehirns, die von überragender Bedeutung ist, sich aber nicht quantitativ abschätzen läßt. Kreativität enthält ein Stück Zufall, die schöpferische Freiheit unterliegt aber eindeutig den Beschränkungen aller drei Welten. Insofern kann auch Willensfreiheit nur im Rahmen dieser Einschränkungen gegeben sein.
Im letzten Abschnitt behauptet Eccles in einem für mich nicht nachvollziehbaren Stilbruch:
"Da unsere erlebte Einmaligkeit mit materialistischen Lösungsvorschlägen nicht zu erklären ist, bin ich gezwungen, die Einmaligkeit des Selbst oder der Seele auf eine übernatürliche spirituelle Schöpfung zurückzuführen. Um es theologisch auszudrücken: Jede Seele ist eine neue göttliche Schöpfung, die irgendwann zwischen Empfängnis und der Geburt dem heranwachsenden Fötus eingepflanzt wird."
Mit diesen Worten gibt er den bis dahin von ihm vage vertretenen dualistischen Interaktionismus auf und landet im objektiven Idealismus.