Für und wider die "Freie Kooperation"
Was könnte die Jury bewogen haben, gerade die Arbeit von Christoph Spehr auszuzeichnen?
Solange die übrigen 32 eingereichten Arbeiten, oder wenigstens die besten von ihnen, nicht publiziert sind, fällt es natürlich schwer, sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern. Ich will es trotzdem versuchen, obwohl ich bisher nur eine zweite der eingereichten Arbeiten, die von M.R.Richter, kenne.
Vergleicht man diese beiden Arbeiten, so fällt als erstes auf, dass das gleiche Thema von diametral entgegengesetzten Ausgangspositionen aus in Angriff genommen wurde. In gewisser Weise symbolisieren diese Ausgangspunkte die Pole der gegenwärtigen Debatte der Programmdiskussion der PDS. In der Arbeit von Richter spielen die Erfahrungen realsozialistischer Vergangenheit eine wesentliche Rolle und engen den Horizont der Betrachtungsweisen ein, auch wenn sie aus einer kritischen Perspektive erfolgen und keineswegs als rückwärtsgewandt bezeichnet werden können. Man spürt in dieser Arbeit das Gefühl für das Machbare und ein Vorwärtsgehen in kleinen Schritten, wie es für eine evolutionäre Entwicklung in "ruhigen Zeiten" vielleicht typisch ist. Grundlegende Erkenntnisse und Standpunkte materialistischer, marxistischer Theorie werden zwar modifiziert, aber nicht in einer Weise in Frage gestellt, welche die materielle Produktion an zweite Stelle rückt und völlig neue Wege beschreiten will. Das tut aber Spehr. Seine Theorie der Freien Kooperation löst sich vom bisher Hergebrachten und bedeutet einen großen, theoretischen Sprung in eine neue Qualität, auch wenn er die Realisierung in der Praxis nur in kleinen Schritten für möglich hält und selbst viele Fragezeichen setzt. Sein Ausgangspunkt ist aber das absolute Primat von Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums. Es ist das Endziel und wird von ihm in keiner Weise in Frage gestellt, ich würde aber gerade dieses Ziel in seiner Absolutheit hinterfragen wollen.
Akzeptiert man Freiheit und Gleichheit des Individuums uneingeschränkt als höchstes Ziel gesellschaftlicher Entwicklung, so muß man Spehr bescheinigen, das er alle damit zusammenhängenden Fragen auf hohem theoretischen Niveau analysiert und die damit verbundenen Probleme herausgearbeitet hat. Dass er nicht für alle Fragen auch Antworten parat hat, sollte man nicht negativ bewerten, im Gegenteil, allen modernen Erkenntnissen zufolge geht Evolution eben ins ungewisse und wahre Antworten können nicht vorgefertigt werden, denn die Wahrheit unterliegt ebenfalls der Evolution.
Nun kann ich durchaus Verständnis dafür aufbringen, dass die Jury die Arbeit von Spehr zur Auszeichnung ausgewählt hat, denn die Fragestellung war eine rein theoretische und Spehr hat die Frage theoretisch und innovativ in nahezu vollendeter Art und Weise beantwortet. Es ist eine Möglichkeit. Man sollte aber nicht die Schlußfolgerung ziehen, dass man daraus ein realisierbares Parteiprogramm entwickeln könnte. Erstens ist das von Spehr gar nicht gewollt und zweitens ergeben sich sofort Einwände und andere Schlußfolgerungen, wenn man den Prämissen höchster Wertigkeit von Freiheit und Gleichheit nicht folgt. Und man muß ihnen nicht folgen, denn selbst wenn man innerhalb des skizzierten Rahmens der Theorie der Freien Kooperation verbleibt, ist es jedem freigestellt, eine andere Auffassung zu vertreten und andere Regeln aufzustellen und zu befolgen.
Eine andere Auffassung von politischer Freiheit vertritt jedenfalls Richter. Für ihn ist Freiheit stets "politische" Freiheit und kein Zweck an sich. Spehr dagegen nimmt das Wort "politische Freiheit" nur sehr selten in den Mund, für ihn ist politische Freiheit lediglich ein Mittel zur Garantie individueller Freiheit des Handelns für eigene Interessen, während für Richter politische Freiheit das Mittel des Individuums zur Mitgestaltung der Gesellschaft ist. Hier zeigen sich tatsächlich gegensätzliche Auffassungen und es wäre die Frage zu stellen, ob die Jury und mit ihr die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der Auszeichnung der Arbeit hier Präferenzen setzen wollte. Ich kann für mich nicht in Anspruch nehmen, das Werk Rosa Luxemburgs besonders gut zu kennen, aber wenn sie als Gründungsmitglied der KPD betont, politische Freiheit sei immer auch die Freiheit der Andersdenkenden, so kann ich mir nicht vorstellen, dass sie damit etwas anderes gemeint haben könnte als die Freiheit zur Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.
Betrachten wir das Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit. Während Richter bemüht ist, diese beiden Begriffe auseinander zu halten und soziale Gleichheit als nicht realisierbar nachweist, solange die Menschen unterschiedlich leistungsfähig sind und "Gleichheit in Reichtum" ein im Grunde nicht erreichbares Ziel ist, verwischt Spehr diesen Unterschied und versteht unter Gleichheit beim Verhandeln die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, wobei er unterstellt, genau dies sei soziale Gleichheit. An dieser Stelle entsteht aber gerade soziale Ungleichheit, weil die Individuen unterschiedlich leistungsfähig sind auch im Verhandeln. Die Gleichheit Spehrs ist also auch nur lediglich eine Gleichheit "vor dem Gesetz". Was also versteht die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrer Fragestellung unter "sozialer Gleichheit"?
Kommen wir nun zu den inneren Widersprüchen der Theorie der Freien Kooperation. Dass seine Theorie innere Widersprüche hat, bestreitet ja Spehr gar nicht und benennt sogar einige, und das ist ihm durchaus auch zu Gute zu halten. Dennoch sehe ich weitere gravierende, die für die Theorie auch tödlich sein könnten.
Wenn Spehr zu der Erkenntnis kommt, dass soziale Systeme sehr komplexe Systeme sind, nahezu chaotisch reagieren, deshalb theoretisch schwer zu steuern sind, besonders über lange Zeiten im voraus, und deshalb die vorhandene Gesellschaft, so wie sie ist, als Ausgangspunkt genommen werden muß, so kann ich das durchaus nachvollziehen. Dann muß man aber auch Bedingungen schaffen, die es ermöglichen, das gesamte vorhandene, auf viele Individuen verteilte Wissen und die historischen Erfahrungen für diesen Prozess nutzbar zu machen. Diese Erfahrungen besagen, dass die Evolution, so zufällig und chaotisch sie auch verläuft, dennoch eine eindeutige Tendenz zur Selbstorganisation, zur Bildung immer komplexerer, sich selbstregulierender Systeme zeigt, und Errungenschaften früherer Zeiten nicht wegwirft, sondern in Untersystemen aufbewahrt und in übergeordnete Systeme einbaut. (siehe die gesammelten Texte meiner Homepage.) Die übergeordneten Systeme erwerben die Fähigkeit, ihre inneren Prozesse zu regulieren und die Aktivitäten ihrer Elemente zu lenken und für sich nutzbar zu machen. Deshalb komme ich zu der Auffassung, dass eine Theorie, welche die individuelle Freiheit des Menschen über alles setzt, zu einseitig ist und Erfordernisse der Evolution der Gesellschaft grundsätzlich zu wenig beachtet.
Die Selbstentfaltung des Menschen, die der Theorie der freien Kooperation zugrunde liegt, darf m.E. nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern stellt die Grundlage dar, auf welcher der Mensch die sozialen Fähigkeiten erwirbt, die es ihm gestatten, die Gesellschaft zu gestalten und zu lenken. Die Theorie der Freien Kooperation ist aber immerhin so offen, dass in sie hinein auch eine Kooperation passen würde, die sich ein Programm zur Umgestaltung der Gesellschaft setzen und nach daran orientierten Regeln leben möchte. Eine Theorie mit so vielen Freiheitsgraden und wahlfreien Parametern kann man aber an fast jeden Sachverhalt anpassen, was ihr jeden Vorschaucharakter nimmt und sie in die Klasse der nicht prüfbaren Theorien einordnet, jedenfalls dann, wenn man die in den Naturwissenschaften anerkannten Kriterien zu Grunde legt. (Zur Prüfbarkeit einer Theorie siehe Popper)
Wird Freiheit und Gleichheit als Zweck und Selbstzweck der Entwicklung des Menschen verstanden, so wird damit die weltanschaulich - philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens in einer eindeutigen Weise beantwortet. Das heißt aber nichts anderes, als das auch dieser Theorie eine bestimmte Ideologie zugrunde liegt. Das streitet Spehr ja auch gar nicht ab, aber er erklärt auch nichts dazu, während Richter die Frage nach dem Sinn des Lebens immerhin diskutiert. Mir scheint, dass Spehr diese Frage bewußt nicht stellt, dabei aber unbewußt von der unterschwellig schon immer vom Menschen vorgefaßten Illusion ausgeht, er sei der Mittelpunkt des Universums und das Universum existiere nur seinetwegen. Der Mensch mußte aber mühsam zur Kenntnis nehmen, wie die Erde vom Mittelpunkt der Welt zu einem kleinen Planeten im Weltall erniedrigt wurde und er selbst von der Krone der Schöpfung, um deren Willen alles andere geschaffen wurde, zu einem vorläufigen Endprodukt einer Evolution der Arten, die noch dazu zufällig verlaufen ist. In gleicher Weise glaubt man heute, die menschliche Gesellschaft existiere um des Menschen willen. Vom Standpunkt einer konsequenten Theorie der Evolution ist diese Auffassung aber überholt, und man müßte die Gesellschaft als ein übergeordnetes Systems akzeptieren, welches sich gemeinsam mit dem Menschen entwickelt und in gleicher Weise Anforderungen an ihn stellt, wie er Anforderungen an die Gesellschaft stellt.
Natürlich ist das auch Ideologie. Aber ohne Ideologie geht es nicht ab, das ist ja auch Spehrs Meinung. Ich würde deshalb nicht Freiheit als Wert an sich sehen, sondern eher die alte, marxistische Interpretation als Einsicht in eine höherwertige Notwendigkeit bevorzugen, die ja auch Richter zu Grunde legt. Allerdings darf man dabei nicht "Notwendigkeit" als feste, unveränderliche Größe unterstellen. Diese Notwendigkeit ist eher eine Möglichkeit, die sich aber im übergeordneten System, dass man ja auch als Kooperation bezeichnen könnte, manifestiert. Mit seinem Eintritt in die Kooperation, auch wenn dieser ganz freiwillig erfolgt, erhält der Einzelne die Möglichkeit der Einflußnahme und Mitgestaltung dieser "Notwendigkeit" in Form der Aufstellung von Regeln (in der Sprache Spehrs), aber er muß diese Regeln dann auch anerkennen und verliert die Freiheit, sich ihnen gegenüber beliebig zu verhalten, wenigstens solange er der Kooperation angehört. Ich kann also der Argumentation von Spehr nur soweit folgen, als er gegen eine abstrakte und als objektiv vorgegebene gesellschaftliche Notwendigkeit argumentiert, nicht aber darin, das er eine in der jeweils konkreten Kooperation kollektiv festgelegte Notwendigkeit prinzipiell nicht für erforderlich hält.
Aus letzterem folgen weitere Widersprüche, die Spehr ja auch z.B. in seinen Ausführungen zu "leadership" erörtert, aber nur sehr vorsichtig formuliert. Meines Erachtens ist es aber gerade eine der Erfahrungen aus der Geschichte der Evolution, dass sich in jedem System Ordnungsparameter ausbilden, welche die Dynamik des Systems inmitten des allgemeinen Chaos bestimmen, dass im Reich der sozial lebenden Tiere in jeder Gruppe Individuen auserwählt werden, die besondere Führungsqualitäten aufweisen und "Leithammel"- Funktionen übernehmen, und genau diesen Weg hat auch der Mensch gewählt, weil es offenbar anders nicht geht. Die unbedingte Forderung nach ständig wechselnder Führung durch alle Mitglieder der Kooperation verkennt die Tatsache, dass die Individuen grundsätzlich unterschiedlich sind und grundsätzlich unterschiedliche Kompetenzen und Eignungen zur Wahrnehmung von Führungsaufgaben haben und dass es viele Menschen gibt, die gar nicht führen können und es auch nicht wollen. An dieser Tatsache sollte man nicht vorbeischauen und sich vielmehr darauf konzentrieren, die geeignetsten Individuen mit der Führungsaufgabe zu betrauen und Instrumentarien zu entwickeln, die immer vorhandene Tendenz der Ausartung von Führung zu Herrschaft zu erkennen und zu bekämpfen. Das wesentliche ist doch, dass nicht Macht, sondern Intelligenz eine Kooperation führen sollte, denn Intelligenz ist die Qualität, die den Menschen vom Tier unterscheidet und bewirkt hat, das der Mensch an der Spitze der Evolution steht. Und Intelligenz ist eben nicht unter allen Menschen gleich verteilt. Schließlich haben auch von den sicher vielen tausend Menschen, die über Freiheit und Gleichheit nachdenken, nur 32 eine Antwort gefunden und eingereicht, und das liegt nicht nur daran, dass die äußeren Umstände, in denen die vielen leben, das verhindert haben. Mit anderen Worten: Spehr selbst ist auch einer mit Führungsqualitäten.
Ein Widerspruch ist es auch, wenn Spehr als Voraussetzung für das Funktionieren der Freien Kooperation Bedingungen setzt, wie zum Beispiel die bedingungslose soziale Grundsicherung für Individuen, die aus einer Kooperation ausscheiden wollen. Eine solche Voraussetzung kann nur eine übergeordnete Kooperation garantieren, die nicht nach den proklamierten Grundsätzen der freien Kooperation funktioniert. Hier müssen materielle Voraussetzungen zur Bedürfnisbefriedigung geschaffen werden, die das Funktionieren eines Produktions- und Verteilungsapparates erfordern, den nur eine Gesellschaft betreiben kann, die ihrerseits Forderungen an die Individuen stellt und wenigstens mit moralischem Zwang durchsetzt (oder mit Einsicht in die Notwendigkeit). Alle Probleme der materiellen Produktion bleiben bei Spehr außer Betracht, müßten aber wenigstens hier erwähnt werden. Richter hat dieses Problem erkannt. Nicht weniger wichtig ist es, Institutionen zu organisieren, die langfristige Koordinierungsfunktionen einer modernen Gesellschaft wahrnehmen. Wenn z.B. Wissenschaft und Bildung nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgehandelt werden sollen, so sind langfristige Disproportionen vorprogrammiert, die die Entwicklung der Gesellschaft erheblich durcheinander bringen können. Wer reagiert z.B. wenn Lehrer nicht mit ihrer Bezahlung zufrieden sind und es deshalb immer weniger Lehrer gibt. Und wie lange dauert es, bis dann mehr Lehrer ausgebildet werden und solche Disproportionen ausgebügelt sind.
Ich halte es zwar nicht für unangebracht, daß Spehr in seiner Arbeit ständig mit dem "wir" operiert. Aber das ist ein agitatorisches Instrument, mit dem er versucht, die Meinung seiner Leser in ähnlicher Weise zu manipulieren und auf seine Seite zu bringen, wie Herrschende versuchen, ihre Herrschaft mit Neoliberalismus zu verschleiern, eine Praxis, die er sonst gerade verurteilt.
Um zum Schluß zu kommen: Ich sehe in der Arbeit von Spehr durchaus einen Ansatz, der geeignet ist, alte Fragen von neuen Standorten aus zu betrachten und die Diskussion darüber in vielfältiger Weise anzuregen und zu beleben. Das mag wohl auch die Absicht gewesen sein, welche die Auswahl dieser Arbeit zur Auszeichnung bestimmt hat. Ich kann auch fast allen Ausgangspunkten und Schlußfolgerungen ein ganzes Stück weit folgen. Alle Einwände, die ich hier gegen die Theorie der freien Kooperation vorgebracht habe, beruhen auf einer einzigen Grundthese, die ich anders bewerten möchte, der These, das Freiheit und Gleichheit des Individuum als höchste Werte verabsolutiert und nicht in einen gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt werden, der ihre Bedeutung aus eben diesem Zusammenhang ableitet.
Man könnte es für arrogant halten, wenn ich als Naturwissenschaftler und Techniker mir anmaße, in der hier dargestellten Weise Kritik an einer preisgekrönten gesellschaftswissenschaftlichen Arbeit zu üben. Wenn ich eines aus meiner DDR-Vergangenheit gelernt habe, dann dies: Man sollte sich niemals vor Autoritäten verneigen, wenn man eigentlich anderer Meinung ist.
Ich bin gespannt auf die angekündigte öffentliche Diskussion am 5. März!
25.01.01
Siehe hierzu auch die Bemerkungen von M.R.Richter sowie die systemtheoretischen Betrachtungen zum Verhandlungsmodell des Staates. Unterschiedliche Standpunkte zur Arbeit von Spehr findet man auch auf der Hompage von A.Schlemm.