Im freien Fall

Kommentar zum gleichnamigen Buch von Joseph Stiglitz

 

Als Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung und früherer Chefvolkswirt der Weltbank hat Stiglitz eine einzigartige Ausgangsposition zur Beurteilung der Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. Dementsprechend analysiert er detailliert die Ursachen für die Entstehung dieser Krise in den USA und die Fehler im Krisenmanagement der USA-Regierung, die zunächst zur Verzögerung und später zur Verschärfung der Krise führten. Eindeutig erkannte er, dass die Mängel des US-Finanzsystems zu dieser Krise führen mussten und die tieferliegende Ursache in der Gläubigkeit der Mehrheit der Wirtschaftstheoretiker an die selbsttätig regulierende Wirkung freier Märkte zu suchen ist. Die auf der Basis dieser Theorie agierende Zentralbank war faktisch nicht in der Lage, die Finanzmärkte auf dem schmalen Grat zwischen Deflation und Inflation stabil zu steuern und das Entstehen von Finanzblasen zu verhindern. Die amerikanischen Banken waren dadurch in der Lage, den amerikanischen Mittelstand weitgehend zu enteignen. Wesentlich dazu beigetragen haben staatlich sanktionierte Reformen des Banken- und Finanzsystems, die zum Verlust jeglicher Kontrolle über die Finanzmanipulationen der Banken führten. Es fällt heute leicht, die Habgier der Bankenmanager anzuprangern, aber ermöglicht wurden diese spekulativen Geschäfte erst durch die Befreiung der Banken von früher geltenden Kontroll- und Überwachungsvorschriften.

So konnte sich die Immobilienkrise über eine Hypotheken und Kreditkrise zu einer internationalen Wirtschafts- und Staatsverschuldungskrise entwickeln. Von früheren Krisen unterscheidet sich diese Krise vor allem durch ihr gleichzeitiges Auftreten in allen entwickelten Industrieländern und durch die Bemühungen vieler Regierungen ihr durch international abgestimmte Konjunkturmaßnahmen gegenzusteuern, wenn auch bisher nur mit mäßigem Erfolg und ohne zu grundsätzlichen Strukturveränderungen des Finanzsystems zu gelangen. Immerhin wird die Notwendigkeit einer Regulierung dieser freien Märkte heute nicht mehr in Frage gestellt, obwohl es über die zu ergreifenden Maßnahmen diametrale Vorstellungen gibt und die bislang ergriffenen Maßnahmen lediglich das bisherige Finanzsystem retten und zeitweilig stabilisieren können, aber die tiefer liegenden Ursachen der Krise nicht beseitigen werden.

Stiglitz hält deshalb folgende grundlegenden Regulierungsmaßnahmen und Veränderungen für erforderlich:

 

Das auf gnadenlosem Gewinnstreben und Verklärung eigennützigen Verhaltens beruhende kapitalistische Wirtschaftssystem hat nicht den erhofften Wohlstand geschaffen, sondern hat zur weiteren Differenzierung der Gesellschaft in Arme und Reiche, zum Absinken der durchschnittlichen Einkommen und zu einem beispiellosen Verfall moralischer Werte in der amerikanischen Gesellschaft geführt, in der die Verursacher der Misere nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Die Verunsicherung der Lebensverhältnisse erreicht für viele Amerikaner unerträgliche Ausmaße. Stiglitz sieht zwar Wege und Chancen zu einer Veränderung dieser Situation, hat aber berechtigte Zweifel, ob diese Chancen in einer Gesellschaft ergriffen werden können, die hohem Maße korrumpiert  und in der der Sozialismus ein Tabuthema ist. Er sieht die Gefahr, dass die USA angesichts der aufstrebenden Mächte China und Indien ihre Führungsrolle in der Welt verlieren werden.