Epigenetik

Erkenntnisse aus dem Buch von Bernhard Kegel

 

1.    Die Menschen aus Överkalix

Ende der 90er Jahre wurde aus Daten der Bevölkerungsstatistik des kleinen schwedischen Dorfes Överkalix die Erkenntnis gewonnen, dass die Lebensumstände der Großeltern väterlicherseits gewisse Krankheiten der Enkel hervorrufen und somit unter bestimmten Umständen erworbene Eigenschaften vererbt werden können, was bis dato für unmöglich gehalten wurde. Weitere Studien zeigten, dass diese Eigenschaften durch das männliche Y-Chromosom genau von den Großvätern väterlicherseits zu den männlichen Enkeln und durch das X-Chromosom von den Großmüttern väterlicherseits nur zu den weiblichen Enkelinnen übertragen werden. Die Übertragung erfolgt damit zweifelsfrei durch die Spermien des Vaters.

 

2.    Das Monster

Bereits seit 200 Jahren sind in der Botanik Pflanzen mit zwei verschieden gestalteten Blüten bekannt, die sich nach den Mendelschen Gesetzen vererben. Bislang wurde angenommen, dass eine Genmutation verantwortlich für die unterschiedliche Form der Blüten sei. Die neuerdings mögliche exakte Bestimmung der DNA-Sequenzen dieser Pflanzen zeigte jedoch keinerlei Unterschiede zwischen den DNA-Sequenzen der angeblichen Mutanten. Dies ist nur erklärbar, wenn es einen weiteren Vererbungsmechanismus gibt, der nicht auf der DNA beruht.

 

3.    HUGO und das große Schweigen

Die ursprüngliche naive Annahme, dass einzelne Gene für jeweils bestimmte spezifische Eigenschaften der Organismen zuständig seien, ist mit der Entzifferung der DNA-Strukturen des Menschen ins Wanken gekommen. Der Mensch besitzt viel zu wenig Gene, die dazu noch in der Mehrzahl mit den Genen vieler Tiere identisch sind. Damit war die Auffassung, dass die Eigenschaften eines Menschen durch sein ererbtes Genom vollständig bestimmt seien, nicht mehr zu halten. Für die Entwicklung des Individuums spielen die Lebensumstände und die Umwelt eine mindestens ebenso große Rolle wie sein Genom. Deshalb muss über Vererbung und Evolution neu und intensiv nachgedacht werden.

 

4.    Gen und Genom

Die Vorstellungen dafür, was ein Gen und ein Genom ist, haben sich grundlegend gewandelt. Ein Gen ist nicht nur ein lokal begrenzbarer Abschnitt des DNA-Moleküls, das die Information für den Aufbau eines bestimmten Proteinmoleküls enthält, zu einem Gen gehören auch die nicht bestimmten Proteinen zuordenbaren DNA-Sequenzen, welche die von den Umgebungsbedingungen in der Zelle abhängigen Herstellungsgeschwindigkeiten des jeweiligen Proteins steuern. Nur etwa 1 % der DNA-Sequenzen codieren Proteine, der weitaus überwiegende Rest dient der Steuerung und Regulierung, wobei dessen Funktionen im einzelnen noch gar nicht aufgeklärt sind. Geblieben ist nur die Vorstellung des Aufbaus eines DNA-Moleküls als lineare Aufeinanderfolge von jeweils drei Basen für die Codierung jeweils einer der 20 Aminosäuren, die zu einem bestimmten Protein gehören, während das Gen nicht als ein definierbarer DNA-Abschnitt lokalisierbar ist, sondern über den gesamten DNA-Strang verteilt sein kann und auch nicht Protein codierende „Introns“ enthält.

Während man bisher das Genom als die Gesamtheit der in den Chromosomen lokalisierten Gene verstanden hat, ist es heute mehr als die Summe aller Gene, es ist eine komplexe Struktur, die den schrittweisen Aufbau des gesamten Organismus und seinen Stoffwechsel in allen Einzelheiten in Abhängigkeit von den Umgebungsbedingungen reguliert.

 

5.    DNA-Methylierung  --  kleine Ursache, große Wirkung

In den Zellen eines Organismus gibt es ein Steuerungsprogramm, das mit Hilfe von Enzymen an bestimmten Stellen der DNA-Sequenzen eine Methylgruppe anlagern oder entfernen kann. Durch Anlagerung einer Methylgruppe wird ein bestimmtes Gen stillgelegt, wenn das zugehörige Protein in der betreffenden Zellenart nicht produziert werden soll. Bei Zellteilungen wird der duplizierte DNA-Strang wieder mit den gleichen Methylierungen versehen. Bei der Embryonalentwicklung aber werden die von den Eltern ererbten Methylierungen zum größten Teil aber wieder entfernt, damit sich aus der embryonalen Stammzelle wieder die Zelltypen der verschiedenen Organe bilden können. Diese epigenetische Programmierung wird wiederum von Regulatorgenen gesteuert, die für die Herstellung der spezifischen Enzyme verantwortlich sind. Durch den Mechanismus der Methylierung wird der Prozess der Zelldifferenzierung und damit der geordnete Ablauf der Embryonalentwicklung gesteuert. Die spontane unplanmäßige Umwandlung einer methylierten Base in eine andere Base der DNA ist die wichtigste Ursache genetischer Erkrankungen beim Menschen.

 

6.    Die Frau, ein Mosaik – die X-Inaktivierung

Da männliche Körperzellen nur ein X-Chromosom, weibliche Körperzellen aber deren zwei besitzen, die Proteinproduktion aller Chromosomen aber aufeinander abgestimmt sein muss, wird in den weiblichen Körperzellen der Wirbeltiere jeweils ein X-Chromosom durch Methylierung stillgelegt. Bei den Beuteltieren wird immer das vom Vater stammende X-Chromosom stillgelegt, bei den übrigen Wirbeltieren entscheidet jede Zelle bereits im Embryonalzustand unabhängig von den anderen Zellen, welches X-Chromosom stillgelegt wird. In den weiblichen Organen finden sich also nebeneinander in zufälliger Anordnung stets gleichartig differenzierte Zellen mit unterschiedlicher Erbsubstanz. Bei weiblichen Tieren sind Klone deshalb nicht identisch mit dem Original.

Das hat auch Auswirkungen bei Gendefekten. Während bei Gendefekten in den übrigen Chromosomen Erbkrankheiten nur auftreten, wenn die Chromosomen beider Eltern den gleichen Gendefekt tragen, hat ein Gendefekt auf dem X-Chromosom für Männer verheerende Folgen, während Frauen beschwerdefrei sind oder einen wesentlich milderen Krankheitsverlauf zeigen. Gendefekte auf dem männlichen Y-Chromosom haben immer verheerende Auswirkungen, werden daher aber meist gar nicht vererbt.

 

7.    Aufgespult  -  Histone und Nukleosomen

Die 46 DNA-Fäden mit Längen von je 1,6 bis 8 cm des menschlichen Genoms sind normalerweise in einem Zellkern von nur wenigen tausendstel mm Durchmesser untergebracht. Dabei sind sie auf einem Proteinstützgerüst von 30 Millionen Nukleosomen derart beweglich aufgerollt, das die DNA-Information jederzeit von Enzymkomplexen zur Aktivierung der Proteinproduktion abgelesen werden kann und zur Vorbereitung der Zellteilung die DNA-Helix verdoppelt werden kann. Jedes Nukleosom besteht aus 8 Histonmolekülen, von denen es 4 Grundtypen gibt. Wie sich die DNA aufwickelt, wird von bestimmten Basenfolgen des DNA-Moleküls bestimmt. Ein fünfter Histontyp verbindet die Nukleosomen miteinander. Die Herstellung der Histonmoleküle wird von speziellen Histongenen gesteuert.

Die riesigen Enzymkomplexe zur Bearbeitung der DNA bestehen aus bis zu 15 spezialisierten Untereinheiten, die den DNA-Strang Nukleosom für Nukleosom durch sich hindurch ziehen und die Methylierung, Demethylierung, Auftrennung und Verdopplung vornehmen. Enzymkomplexe sind auch in der Lage, Methylgruppen und Acethylgruppen als Markierungen an den Histonmolekülen anzubringen oder zu entfernen und damit die Aktivität bestimmter Gene in Gang zu setzen, anzuzeigen oder zu beenden. Das Zusammenspiel der gesamten molekularchemischen Apparaturen ist noch weitgehend unerforscht, insbesondere ist noch unklar, wie die notwendige Übertragung der Markierungen bei Zellteilungen erfolgt. Anscheinend gibt es außer der DNA einen zweiten Code, der die Aktivität der Enzymmaschinerie der Zelle reguliert und der vererbbar ist.

 

8.    Im Kern

Im Zellkern sind die den einzelnen Chromosomen zugeordneten DNA-Stränge in gesonderten Territorien untergebracht. Die Lage und Anordnung der Territorien ändert sich aber, je nach dem, welche Gene gerade aktiviert sind. Die im Zellkern arbeitende Enzymmaschinerie ordnet offenbar auch die Lage der verschiedenen DNA-Stränge so, dass die auf unterschiedlichen Chromosomen und an weit voneinander entfernten Stellen des DNA-Stranges verstreuten Teile eines Genes miteinander in Berührung kommen und die Transcription der DNA-Information in RNA-Moleküle in der erforderlichen aufeinander abgestimmten Geschwindigkeit erfolgen kann. Dabei arbeiten in einem Zellkern etwa 65000 molekulare Übersetzermaschinen gleichzeitig. Bei der gezielten Zerstörung einzelner DNA-Stellen durch Laserstrahlen wurde beobachtet, dass sich die molekulare Maschinerie im Zellkern innerhalb einer Stunde zur Reparatur der Schäden neu organisiert. Der Zellkern ist ein selbstorganisatorisches System mit eigenen Kompetenzerhaltungsinteressen.

 

9.    Zwischenresümee

Der Zellkern ist die Steuerzentrale der Zelle. Von hier aus wird der gesamte Aufbau und der Stoffwechsel der Zelle organisiert. Dabei enthält die DNA nur die für alle Zelltypen des Organismus gleiche ererbte Information. Was daraus wird, bestimmt die Proteinmaschinerie, die in gleicher Weise sowohl von der DNA wie auch von den chemischen Impulsen aus der Umgebung gesteuert wird. DNA und Proteine bilden in Form des Chromatins ein einheitliches System. Die Basensequenzen der DNA enthalten aber nicht nur die Information für den Bau der Proteine und der RNA, sondern durch ihre Reihenfolge gleichzeitig einen zweiten Code für die Positionierung der Nukleosomen. Beim Aufbau dieses Stützgerüstes wird den dessen Bausteine bildenden Histonmolekülen durch Markierungen ein dritter Code aufgeprägt, der in der Folge die Zusammensetzung und Wirkungsweise der Enzymmaschinerie im Zellkern bestimmt. Wie viel von diesem dritten epigenetischen Code nicht nur bei Zellteilungen weitergegeben, sondern auch von Generation zu Generation und auf welche Weise vererbt wird, ist derzeit noch unklar.

 

10.                   Von Mäusen, Menschen und springenden Genen

Die Erforschung der epigenetischen Vererbungsprozesse erfolgt derzeit in zahlreichen Institutionen an Stämmen von Labormäusen, die durch Inzucht genetisch identisch und reinerbig gehalten werden. Dabei wurden für phänotypische Eigenschaften seltsame Vererbungsregeln gefunden, die nicht mit den Mendelschen Gesetzen im Einklang sind. Die Ursache scheint nicht nur darin zu liegen, dass durch die mütterliche Eizelle, die embryonale Ernährung und die Ernährung durch die Muttermilch andere Substanzen als über die väterlichen Spermatozoen übertragen werden, sondern auch darin, dass in der menschlichen DNA auf jedes proteincodierende Gen 100 mobile genetische Elemente entfallen, deren Funktion unbekannt ist und deren Positionierung in der DNA-Sequenz nicht eindeutig festliegt. Diese mobilen Elemente oder Transpons haben sich in der Evolution durch Kopierfehler angereichert, wurden aber nicht durch Selektion wieder beseitigt, weil sie wesentliche Lebensfunktionen nicht beeinträchtigten. Diese „Parasiten“ nutzen die Kopiermaschinen ihres Wirtes und werden mit der normalen DNA-Sequenz dupliziert. Mitunter besitzen diese Parasiten eigene Gene, die Enzyme codieren, mit denen sie sich aus dem DNA-Strang an einer Stelle herausschneiden und an anderer Stelle wieder eingliedern. Es gibt auch Parasiten, die den Code für ein Enzym enthalten, das dafür sorgt, dass die von der Wirtstranscriptase hergestellte RNA wieder in DNA rückübersetzt wird und in den DNA-Strang an anderer Stelle eingebaut wird.

Wenn der Einbau dieser Transpons mitten in ein Gen erfolgt, kann dieses in seiner Funktion wesentlich gestört werden, so dass der Organismus erkrankt. Es kann aber auch passieren, dass durch den Einbau das Gen so mutiert, dass eine Verbesserung der Funktion bewirkt wird. Ob durch das Wirken dieser Transpons der natürliche Mutationsprozess wesentlich beeinflusst wird, ist wohl noch Gegenstand von Spekulationen.

 

11.                   Vererbt oder nicht – der australisch-amerikanische Mäusestreit

Nachdem bestimmte Forschungsergebnisse an Labormäusen die Vermutung nahe legten, dass die Methylierung der DNA eine epigenetische Vererbung erworbener Eigenschaften ermöglichen würde, gilt nunmehr als erwiesen, dass die Methylierung der DNA-Basen nicht die Ursache dafür sein kann, denn die Methylierungen an der DNA werden bei den ersten Teilungen der befruchteten Eizelle beseitigt und erst später neu angelegt. Ob dies auch für die Methylierungen der Histonmoleküle gilt, ist noch ungeklärt.

 

12.                   Das Fenster zur Welt

Die Zwillingsforschung liefert Hinweise darauf, dass die unterschiedliche Entwicklung eineiiger Zwillinge mit identischer DNA durch unterschiedliche Methylierung und Umwelteinflüsse hervorgerufen werden könnte. So werden mutierte Gene, die Erbkrankheiten erzeugen, offenbar durch Methylierung der DNA unwirksam gemacht. Die Methylierungen werden zwar vererbt, bei der Embryonalentwicklung aber zunächst entfernt und später wieder angebracht. Die Enzymmaschinerie, die das bewirkt, arbeitet aber nicht so zuverlässig wie die Kopiermaschinen für die DNA, so dass die Fehlerrate mit der Anzahl der Zellteilungen zunimmt. Deshalb ist festzustellen, dass der Methylierungsgrad mit zunehmendem Lebensalter allgemein abnimmt und die Anzahl der Fehler ansteigt. Deshalb treten gerade Krankheitssymptome von Erbkrankheiten bei eineiigen Zwillingen in unterschiedlichem Lebensalter auf.

Die Methylierung der Histonmoleküle ist zudem stark licht- und kälteempfindlich. Auf diesem Wege werden die tages- und jahreszeitlichen Schwankungen vieler Lebensvorgänge geregelt, so dass diese Umweltfaktoren Einfluss auf die Entwicklung genetisch gleicher Individuen nehmen können. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass erworbene unterschiedliche Methylierungsgrade auch vererbt werden können.

Bei den Bienenvölkern sind die Gene der Arbeitsbienen und der Königin identisch, die Entwicklung der Maden zu Königinnen wird lediglich dadurch verhindert, dass sie von einem bestimmten Lebensalter an eine Nahrung erhalten, welche die Methylierung bestimmter Gene stark fördert und damit blockiert.

Sowohl bei Ratten als auch beim Menschen wurde festgestellt, dass die mütterliche  Fürsorge als auch das Stressverhalten der Mütter in einer bestimmten frühen Entwicklungsphase des Nachwuchses wesentlichen Einfluss auf die Methylierung und damit Stillsetzung bestimmter Gene ausübt, die wiederum die Stressempfindlichkeit des Nachwuchses während seines gesamten Lebens bestimmen. Auf diese Weise wird Stressempfindlichkeit vererbt. Andererseits führt aber die Veränderung der Umwelt in der sensiblen Entwicklungsphase des Nachwuchses auch zu einer Veränderung der Methylierung und damit zur relativ kurzfristigen Anpassung des Stressverhaltens an die Umwelt im Laufe nur einer Generation. Dieser epigenetische Anpassungsmechanismus wiederum ist eine langfristige Folge der phylogenetischen Anpassung der Evolution. Er ist im Grunde eine vorausschauende Anpassung an die in der nächsten Generation zu erwartenden Lebensumstände. Bei der gegenwärtig zu beobachtenden schnellen Entwicklung des Lebensstandards der Menschen ist die ererbte vorausschauende Anpassung des Embryos an eine zu erwartende Mangelernährung eine Fehlanpassung, die zu Übergewicht und zunehmenden Krankheiten in der kommenden Generation führt.

 

13.                   Außer Kontrolle  --  Krebs

Krebs ist mit Veränderungen der Methylierung von Genen verbunden, der Ursache  --  Wirkungsmechanismus ist jedoch noch unklar. In Krebszellen ist die Mehrzahl der Gene untermethyliert, bestimmte Tumorsuppressorgene aber übermethyliert. Man ist dabei, einen Bluttest für Krebs zu entwickeln, der darauf beruht, das ein bestimmtes Gen in Krebszellen in 90% aller Fälle methyliert ist, normalerweise aber nicht

 

14.                   Die RNA-Welt

Während das doppelsträngige DNA-Molekül die gesamte für die Entwicklung eines Organismus erforderliche Information trägt, die bei der Zellteilung übertragen werden muss, sind RNA-Moleküle für die Umsetzung der  Erbinformation bei der Proteinproduktion innerhalb einer Zelle verantwortlich. Diese sind normalerweise einsträngig und kürzer als die DNA-Moleküle und enthalten als mRNA die Information für die Struktur eines einzelnen Proteins, als tRNA die Information für die Produktion der einzelnen Aminosäurebausteine und als rRNA die Struktur für den Protein-Syntheseapparat. Die RNA-Moleküle transportieren die Information aus dem Zellkern in das Zellplasma, wo die Proteinproduktion stattfindet. Neben diesen drei „klassischen“ RNA-Typen wurden in den letzten Jahren eine Vielzahl (Hunderte) anderer noch kürzerer RNA-Typen entdeckt, deren Aufgabe darin besteht, entweder die Herstellungsgeschwindigkeit der einzelnen Proteine zu regeln und gegebenenfalls abzuschalten oder als eine Art interzelluläres Immunsystem artfremde DNA/RNA aufzuspüren und deren Wirksamwerden zu verhindern. Über dieses RNA-System wird auch geregelt, ob sich das mütterliche Gen oder das väterliche Gen  dominant oder rezessiv verhält und ein besonders langes RNA-Molekül deaktiviert auch das überzählige weibliche X-Chromosom.

 

15.                   Eine Theorie für das neue Jahrhundert

 

Die Ergebnisse der Epigenetik legen nahe, dass die Evolutionsbiologie demnächst überarbeitet werden muss. Als Darwin die Theorie der natürlichen Selektion präsentierte, wusste er nicht, wie Vererbung funktioniert und woher die Varianten kommen, aus denen die Selektion die bestangepassten Individuen auswählt. Mit den Erkenntnissen der Genetik, Populations- und Zellbiologie verschmolz die Darwinsche Lehre in der nächsten Generation der Evolutionsforscher unter Führung von Ernst Mayr zur Synthetischen Evolutionstheorie. Mit den Ergebnissen der modernen Molekularbiologie scheint die Zeit gekommen, die Überbetonung der Populationsgenetik in der Synthetischen Evolutionstheorie, wie sie besonders von Dawkins gepflegt  wurde, abzubauen und durch die Erkenntnisse der epigenetischen Vererbung zu ergänzen. Es wird immer deutlicher, dass die Entwicklung vom Genotyp zum Phänotyp eine Kaskade von Ereignissen darstellt, die von der Umwelt wesentlich beeinflusst wird und keine Evolutionstheorie ohne ein Verständnis der Vorgänge auskommt, die sich bei der Bildung von Geweben, Organen und Organsystemen vollziehen. Erste Veröffentlichungen weisen daraufhin, dass eine Erweiterte Evolutionäre Synthese zwar nicht die Grundlagen der Darwinschen Evolutionstheorie umstürzen wird, aber doch  auch den unter dem Einfluss der Umwelt erworbenen Eigenschaften der Phänotypen stärkere Bedeutung für die Selektion eingeräumt werden muss. Es gibt experimentelle Hinweise darauf, dass zunächst rein zufällige Mutationen der Gene nicht unmittelbar zur Selektion der zugehörigen Phänotypen führen müssen, sondern latent nebeneinander durch epigenetische Prozesse in der Population verdeckt vererbt und verbreitet werden, bis zu einem späteren Zeitpunkt durch Veränderung der Umweltbedingungen die mutierten Eigenschaften gleichzeitig bei vielen Individuen hervortreten und wesentlich für die Selektion werden. Dies würde zu einer schnelleren Anpassung der Arten an veränderte Umweltbedingungen führen und eine beschleunigte Evolution ermöglichen und erklären. Variation, Reproduktion und Selektion bleiben weiterhin die Grundprozesse der Evolution, aber der Ursachenkatalog für Variation wird erweitert.

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