Rationales Entscheiden

Nach Horst Kreschnak: Rationales Entscheiden in Geschichte und Gegenwart




Einleitung... 1

1. Zum Untersuchungsgegenstand... 1

2. Praktische und theoretische Vernunft. 2

 3. Rationalität – historisch bedingt. 4

3.3. Historische Ausweitung von Entscheidungsräumen... 5

3.4. Herrschaft und Rationalität. 5

3.5. Profit und Rationalität. 6

3.6. Ist umfassend rationales Entscheiden möglich?.. 7

4. Die gegenwärtige Ausweitung des Entscheidungsraumes.. 8

5. Diagnose-Therapie-Modelle.. 9

6. Kooperatives Entscheiden... 11

6.2 Entscheiden in der Zukunft – meist kooperativ und dezentral. 12

6.3. Ökonomische Rationalität als Einheit des relevant Wünschbaren... 12

Einleitung

Zu unterscheiden ist theoretische und praktische Vernunft. Theoretische Vernunft bemüht sich um Wahrheit in wissenschaftlicher Arbeit und in der Aufklärung vorhandener Möglichkeitsräume für rationale Entscheidungen. Praktische Vernunft zeigt sich im Ausnutzen aller vorhandenen Möglichkeitsräume beim rationalen Entscheiden und Handeln.

Während in einfachen Systemen die Konsequenzen getroffener Entscheidungen noch absehbar sind, ist dies bei hochkomplexen Systemen nicht mehr der Fall. In einfachen Systemen kann das Treffen einer Entscheidung noch von deren Ausführung getrennt werden, um ein effektives und rationales Ergebnis zu erhalten. In solchen Systemen sind Entscheidungen einer Machtzentrale rational, die von untergeordneten Strukturen zu realisieren sind. Solche Entscheidungen erfordern ein Herrschaftsverhältnis zwischen den beteiligten Institutionen und Personen, um die Realisierung der Entscheidungen durchzusetzen. In hochkomplexen Systemen funktioniert das nicht mehr. Während der Realisierung entstehen neue Möglichkeiten und die getroffenen Entscheidungen müssen verändert werden. Das erfordert den Abbau von Herrschaftsbeziehungen und das eigenverantwortliche Verändern von Entscheidungen während ihrer Realisierung. Die ungenügende Beachtung dieser Umstände war einer der Gründe für das Scheitern des sozialistischen Zentralismus. Ähnlich katastrophale Auswirkungen hat das Festhalten des Neoliberalismus an der einseitigen Zielvorstellung der Profitmaximierung. Die Vernachlässigung anderer wünschenswerter Ziele wird den Entwicklungsanforderungen eines hochkomplexen Systems ebenfalls nicht gerecht. Die Vorbereitung rationaler Entscheidungen in solchen Systemen erfordert  die theoretische Entwicklung von komplexen logisch-mathematischen Entscheidungsmodellen, die der realen Situation mit ihrer mehrdimensionalen Zielwertstruktur  Rechnung tragen und den Einsatz von Computern zur Lösung der Probleme ermöglichen.

Die Theorie rationaler Entscheidungen muss folgende Hauptprobleme berücksichtigen:

·             Unsicherheiten in der Kenntnis der Ausgangssituation führen zu Risiko

·             Starke Differenzen zwischen individuell und gesellschaftlich Wünschbarem

·             Unterschiede und Beziehungen von praktischer und theoretischer Vernunft

·             Historische Entwicklung der Trennung von Entscheidung und deren Realisierung

·             Neue Erkenntnisse der Dynamik komplexer Systeme

·             Widersprüchliche Tendenzen der Arbeitsteilung in kapitalistischen Produktionsprozessen

·             Möglichkeiten, bei deren Realisierung individuell Wünschbares zugleich gesellschaftlich Wünschbares bewirkt

 

1. Zum Untersuchungsgegenstand

Rationales Entscheiden umfasst die Aktivitäten des Erkennens einer Situation, die Aktivitäten zur Wertung der Wünschbarkeit einer Ergebnissituation oder Zielsetzung und die Absichten zur Realisierung der Entscheidung.

Rational ist eine Entscheidung, wenn alle verfügbaren relevanten Erkenntnisse und begründeten Meinungen berücksichtigt werden, die Möglichkeiten ihrer Realisierung unter den gegebenen Bedingungen vorhanden sind und alle relevanten Wünschbarkeiten nicht unbedingt untereinander, aber in sich konsistent sind. Eine rationale Entscheidung muss nicht emotionslos sein.

Werden Voraussetzungen und Schlussfolgerungen einer Entscheidung in der Sprache der Sortenlogik formuliert, so kann die Rationalität einer Entscheidung mit Hilfe von Computermodellen überprüft werden. Verschiedene solcher Computermodelle werden auf einer dem Buch beiliegenden CD zur Nutzung angeboten. Bei der Vorbereitung einer Entscheidung kommt es darauf an, dass die Menge der Voraussetzungen exakt formuliert und vollständig ist, andernfalls die darauf beruhende Entscheidung nicht rational sein kann. Werden die Voraussetzungen durch die betreffende Belegung der Modellvariablen erfüllt, so ist durch deduktive Folgerung auch das Ergebnis der Entscheidung richtig, die Entscheidung damit rational. Allgemeingültige oder kontradiktorische Ausdrücke sind nicht als Voraussetzungen geeignet, aus denen Entscheidungsvarianten ableitbar sind, die stets neutrale Ausdrücke sind, also je nach Belegung wahr oder falsch sind.

 

Jede Entscheidung enthält zugleich Voraussagen für die Zukunft.. In der Menge der zu formulierenden Voraussetzungen befinden sich Aussagen zu den relevanten Zeitbeziehungen der Ereignisse, zu den kausalen Zusammenhängen der Ereignisse und  zu den Bedingungen, die das Ergebnis beeinflussen und die zur Unterscheidung verschiedener Entscheidungsvarianten führen. Für jede Entscheidungsvariante eröffnet sich ein Möglichkeitsraum, in dem die jeweils möglichen Ereignisse liegen.

Da sich Entscheidungen stets auf zukünftige Ereignisse beziehen, sind i. A. die vorhergesagten Ereignisse risikobehaftet.  Deshalb gehören Aussagen zu den zu erwartenden Wahrscheinlichkeiten zu den notwendigen Voraussetzungen der Entscheidung. Punktgenaue Wahrscheinlichkeitsvoraussagen sind aber meist nicht möglich, so dass Wahrscheinlichkeitsintervalle anzugeben sind. Dabei müssen jedoch die bedingten Wahrscheinlichkeitsbeziehungen zwischen einander ausschließenden Ereignissen eines Möglichkeitsraumes beachtet und formuliert werden.

Wenn für eine zu treffende Entscheidung nicht alle zur Vorbereitung notwendigen Kenntnisse zur Verfügung stehen, erhöht sich das Risiko der Entscheidung oder die Entscheidung kann nicht getroffen werden. In letzterem Falle ergibt sich eine neue, weitere Entscheidungsvariante, deren Folgen ebenfalls zu berücksichtigen sind und die einen weiteren Möglichkeitsraum eröffnen.

Die nach einer Entscheidung zu vollziehende Handlung wird von der Rangfolge der Wünschbarkeiten der resultierenden Ereignisse bestimmt. Die Rangfolge wird quantifiziert, indem der Abstand aufeinander folgender Wünschbarkeiten auf den auf 1 normierten Abstand der beiden höchstbewerteten Wünschbarkeiten bezogen wird. Der Erwartungswert einer Entscheidungsvariante wird in den Computermodellen aus der mit den Wahrscheinlichkeiten gewichteten Summe der Wünschbarkeiten der zu dem betreffenden Möglichkeitsraum gehörenden Ereignisse bestimmt. Die Wünschbarkeiten können, aber müssen nicht aus einem objektiven Nutzen abgeleitet werden, sondern können auch individuell subjektiv festgelegt sein. Auf individuell subjektiv festgelegten Wünschbarkeiten beruhende Entscheidungen haben jedoch immer auch gesellschaftliche Auswirkungen. Es ist deshalb in Betracht zu ziehen, ob es sinnvoll ist, für rationale Entscheidungen zu fordern, stets auch gesellschaftliche Wünschbarkeiten einzubeziehen. Hierbei ist aber zu bedenken, dass es kein gesellschaftliches Subjekt gibt, das in der Lage wäre, solche Wünschbarkeiten als objektive zu formulieren. Auch gesellschaftliche Wünschbarkeiten beruhen immer auf mehr oder weniger subjektiv gebündelten Wünschbarkeiten von Individuen. Dabei ist leicht zu zeigen, dass die differenzierte Darstellung der Präferenzen subjektiver Wünschbarkeiten einen großen Einfluss auf die Präferenzordnung der Entscheidungsvarianten und damit auf die rational letztlich  auszuwählende Entscheidungsvariante hat.

 

2. Praktische und theoretische Vernunft

2.1. Entscheidungen unter Sicherheit, Risiko und Unsicherheit

Liegen einer Entscheidung bekannte deterministische Gesetzmäßigkeiten zu Grunde, so wird angenommen, die gewünschten Folgen einer rationalen Entscheidung treten mit Sicherheit ein. Es verbleibt jedoch immer ein Risiko, das daraus resultiert, dass niemals alle Bedingungen vollständig berücksichtigt werden können. Liegen einer Entscheidung statistische Gesetzmäßigkeiten zu Grunde, so ist von vornherein klar, dass ein bestimmtes Risiko besteht, dass die gewünschten Ergebnisse nicht eintreten. Bei solchen Entscheidungen unter Risiko ist jedoch zu verlangen, dass für alle relevanten Bedingungen, Wahrscheinlichkeiten und Wünschbarkeiten Schätzwerte angegeben werden, um realistische Erwartungswerte für das Eintreten der gewünschten Entscheidungsfolgen berechnen zu können. Können solche Schätzwerte nicht angegeben werden, so handelt es sich um eine Entscheidung unter Unsicherheit. Auch solche Entscheidungen sind dann notwendig, wenn das Nichttreffen oder Aufschieben einer Entscheidung zu nichtwünschbaren Folgen führt. Eine Entscheidung ist nur dann rational, wenn auch das Ausmaß möglicher Risiken abgeschätzt und angegeben wird. Oft können punktgenaue Schätzwerte nicht angegeben werden. Dann ermöglichen vielfach Intervallschätzungen das Risiko einer Entscheidung zu finden. Solche Intervallschätzungen führen jedoch zu entsprechenden Intervallen in der Angabe von Erwartungswerten für die Entscheidungsvarianten und erzeugen „Kippintervalle“, innerhalb denen die Erwartungswerte der Entscheidungsvarianten nicht unterscheidbar sind und die Entscheidung willkürlich erfolgen muss.

Entscheidungen zu Fragen der Produktionsplanung beruhen immer auf Schätzungen von Wünschbarkeiten zukünftiger Konsumenten und sind mit entsprechenden Unsicherheiten verbunden. In Volkswirtschaften mit starken Mangelerscheinungen sind die Wünschbarkeiten der Konsumenten leicht zentral zu schätzen und durch zentrale Produktionsplanung Grundlagen für Produktionsentscheidungen zu finden. In Überflussgesellschaften ist dies nicht möglich und es wird versucht, durch Werbung die Wünschbarkeiten der Konsumenten nachträglich zu beeinflussen, um die Produktionsentscheidungen zu rechtfertigen.

Das nicht rechtzeitige Erkennen dieser Situation führte zum Zusammenbruch der nach sowjetischen Mustern zentral organisierten sozialistischen Wirtschaftssysteme.

 

2.2. Gesetzmäßige Zusammenhänge und Entscheidungen

Da sich Entscheidungen immer auf Zukünftiges beziehen, hängt das Entscheidungsrisiko von den als Prämissen zu formulierenden Aussagesätzen über gesetzmäßige Zusammenhänge oder wissenschaftliche Gesetze und deren Unsicherheiten ab. Liegen Aussagen über geprüfte Gesetzmäßigkeiten vor, so können daraus durch deduktive Schlussfolgerungen sowohl kausale Erklärungen stattgefundener Ereignisse als auch Voraussagen über zukünftige Ereignisse abgeleitet werden. Gesetzmäßige Zusammenhänge beruhen zwar auf empirischen Daten aus der Vergangenheit, aus ihnen allein können jedoch keine deduktiven Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen werden. Mit Hilfe der in der Mathematik angewendeten Methode der vollständigen Induktion können jedoch wahre Aussagen über Kausalzusammenhänge gewonnen werden, die über den empirisch geprüften Bereich hinausgehen, wenn strenge Beweise durch Schluss von n auf n+1 vorliegen. Der Mangel, dass solche Beweise nicht notwendig auch für n = unendlich gelten, ist bei Entscheidungen irrelevant, da sich alle praktischen Entscheidungen stets auf endliche Vorgänge beziehen. In den meisten Fällen liegen solche strengen Beweise aber nicht vor.

Auch die mit der Methode der unvollständigen Induktion gewonnenen Aussagen können als Grundlage rationaler Entscheidungen dienen. Solche Aussagen sind jedoch im Sinne der klassischen Logik nicht absolut „wahr“, sie sind aber auch nicht falsch. Sie entsprechen den zur betreffenden Zeit jeweils vorhandenen Erkenntnissen und sind deshalb bestmögliche Annahmen für das Treffen rationaler Entscheidungen. Selbst wenn eine so vorbereitete Entscheidung zu den erwarteten Ergebnissen führt, ist dies jedoch keine Bestätigung der Wahrheit der zugrundegelegten Annahmen.

 

2.3.Gesetzeserkenntnis – praktische und theoretische Vernunft

Theoretische Vernunft verfolgt das Ziel, die Wahrheit von Aussagen über gesetzmäßige Zusammenhänge zu prüfen und auf diese Weise Gewissheit über die Prämissen von Entscheidungen zu erlangen. Auf diese Weise gelingt es, immer genauere Kenntnis der gesetzmäßigen Zusammenhänge zu erlangen, ohne jedoch zu absoluter Gewissheit zu gelangen. Es können grundsätzlich nur falsche Allaussagen eliminiert werten, ohne dass dadurch gegenteilige Allaussagen endgültig bestätigt werden. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt, dass jederzeit neue Erscheinungen gefunden werden können, die bislang durch zahlreiche   Experimente scheinbar bestätigte Zusammenhänge widerlegen. Trotzdem gebietet es praktische Vernunft, solche Gesetzeszusammenhänge in den Prämissen für Entscheidungen als wahr anzunehmen, solange sie nicht widerlegt sind. Entscheidungen beziehen sich stets – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Untersuchungen – auf einen Einzelfall in einer besonderen historischen Situation und können nicht auf die Klärung wissenschaftlicher Fragen warten, wenn diese noch nicht gelöst sind. Jedoch erfordert es die praktische Vernunft, für rationale Entscheidungen alle zur Verfügung stehenden Informationen zu nutzen, auch wenn deren Wahrheit in der fraglichen Zeit nicht exakt beweisbar, sondern nur anzunehmen ist. Erfahrungen spielen deshalb bei Entscheidungsprozessen eine ebenso große Rolle wie wissenschaftliche Erkenntnisse.

Rationale Entscheidungen über Produktionsprozesse können deshalb durch von ihnen getrennte Leitungskräfte nur dann getroffen werden, wenn über die Prozesse durch häufige Wiederholung gesicherte Erkenntnisse vorliegen, wie dies in der industriellen Massenproduktion der Fall ist. Liegen bei flexibler kundenorientierter Produktion solche Erkenntnisse nicht vor , ist die effektive Leitung der Produktion mit Entscheidungen durch die von der Produktion getrennten Leitungskräfte nicht möglich. Einer Entscheidung lediglich die Wünschbarkeit von Maximalprofit zu Grunde zu legen, führt nicht zu dem gewünschten Ergebnis.

 

2.4. Statistische Zusammenhänge

Während auf deterministischen Gesetzmäßigkeiten beruhende Zusammenhänge durch ein gegenteiliges Einzelbeispiel erschüttert werden können, ist dies bei statistischen Zusammenhängen nicht der Fall, obwohl auch diese keine endgültigen Wahrheiten letzter Instanz sind. Wenn Zusammenhänge nicht hinreichend genau bekannt sind und deduktive Schlussfolgerungen nicht gezogen werden können, helfen induktive Schlussfolgerungen mit zu schätzenden Wahrscheinlichkeiten oft weiter. Dabei spielen Erfahrungen, die an Einzelfällen gewonnen werden können, eine größere Rolle. So kann man bei anzunehmenden statistischen Zusammenhängen für Einzelfälle Grenzwerte der Wahrscheinlichkeiten berechnen, innerhalb denen sich die aus den Einzelfällen bestimmbaren Häufigkeiten zu befinden haben, wenn der angenommene statistische Zusammenhang zutrifft. Liegen die experimentell bestimmten Häufigkeiten nicht in dem berechneten Intervall, so ist der angenommene statistische Zusammenhang anhand dieser Erfahrung zu verändern. Sukzessiv gewonnene neue Erfahrungen können so in statistische Gesetzmäßigkeiten eingegliedert werden. Dieses auch als induktives Räsonieren bezeichnete Verfahren ist für rationale Entscheidungen dort ein Erfordernis praktischer Vernunft, wo deterministische Gesetzmäßigkeiten bisher nicht erkannt werden konnten. Während man für wissenschaftliche Untersuchungen im Prinzip die Zahl der Einzelfälle in Experimenten beliebig so groß wählen kann, wie man die statistische Genauigkeit der Gesetzmäßigkeit objektiv haben möchte, sind dem bei Entscheidungen Grenzen gesetzt, die nicht objektivierbar sind. Da bei statistischen Zusammenhängen Einzelfälle im Prinzip beliebig weit außerhalb des statistischen Schwankungskorridors liegen können, unterliegt es reiner Konvention, von welcher Größe der Abweichung an man diese Einzelfälle als nicht mehr relevant ansehen will. Wegen des bei Entscheidungsprozessen immer vorhandenen Zeitdruckes führt die Vergrößerung der Zahl zu berücksichtigender Einzelfälle meist nicht zu einer Verbesserung der Qualität der Entscheidung.

 

2.5. Begriffe, Theorien – praktische und theoretische Vernunft

In diesem Abschnitt versucht der Autor die dargelegte Theorie rationaler Entscheidungen aus den Axiomen der Wissenschaftstheorie abzuleiten und ihre grundsätzliche Einordnung in die einheitliche Entscheidungstheorie Jeffreys als Rahmentheorie zu belegen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es kein zuverlässiges Kriterium für die Wahl eines besten Entscheidungsmodells gibt und deshalb auch kein Verfahren, ein solches zu bestimmen. Jedes Entscheidungsmodell ist abhängig von der jeweils vorhandenen historischen Situation und muss an diese angepasst werden. Daraus ergibt sich ein prinzipieller Unterscheid im Vorgehen bei wissenschaftlichen Untersuchungen zur Aufstellung wissenschaftlicher Theorien  -  theoretische Vernunft  -   und bei rationalen Entscheidungen  -  praktische Vernunft.. Es gibt keine rationale Entscheidung, die zu Recht als die einzig richtige bezeichnet werden könnte.

 

3. Rationalität – historisch bedingt

3.1. Entscheidungsräume

Die Grenzen des Entscheidungsraumes werden von den Grenzen des Handlungsraumes, des Erkenntnisraumes und des Wünschbarkeitsraumes bestimmt. Die Ausdehnung dieser Räume, aber vor allem die des Handlungsraumes, sind historisch bedingt und erweitern sich im Zuge der geschichtlichen Entwicklung und der Steigerung der Arbeitsproduktivität des Menschen in neue Dimensionen. In den im vorigen Jahrhundert entstandenen Spiel- und Entscheidungstheorien wurde dies vernachlässigt oder wenig beachtet und im Wünschbarkeitsraum lediglich die individuelle Wünschbarkeit berücksichtigt, häufig sogar eingeschränkt auf den ökonomischen Nutzen. Im in letzter Zeit häufig zitierten Ultimatum-Spiel zeigt sich aber deutlich die Rolle gesellschaftlicher Wünschbarkeiten bei der Auswahl der Entscheidungsvarianten.  Kreschnak analysiert die experimentellen Ergebnisse des Ultimatum-Spieles und kann an Hand seiner Entscheidungstheorie zeigen, dass bei Berücksichtigung gesellschaftlicher Wünschbarkeiten die bei Beschränkung auf den individuellen Nutzen als irrational erscheinenden Entscheidungen der Versuchspersonen durchaus rational begründet werden können. Dabei zeigt sich, dass gesellschaftliche Wünschbarkeiten nicht auf die auf individuellen Nutzen ausgerichteten Erfahrungen im gesellschaftlichen Umfeld beschränkt werden können, sondern auch biologische Prädispositionen eine Rolle spielen können. Nicht alle möglichen Folgen solcher Entscheidungen sind jedoch auch beabsichtigt. Die Quantifizierung solcher Wünschbarkeiten bildet ein schwieriges Problem bei der Vorbereitung rationaler Entscheidungen.

 

3.2. Fragen nach Herrschaft oder Freiheit

 

Bei Beachtung sozialer Aspekte und gesellschaftlicher Wünschbarkeiten nehmen individuelle Entscheidungen kollektiven Charakter an. Dabei sind drei Typen kollektiver Entscheidungen zu unterscheiden:

·             Bei diktatorischem Entscheidungsmodus werden die Schätzungen der Erwartungswerte der Entscheidungsvarianten von einer einzelnen Person vorgenommen, haben aber Auswirkungen auf eine Gruppe als Ganzes

·             Beim oligarchischen Entscheidungsmodus tritt an die Stelle eines Diktators eine kleine Gruppe oder eine elitäre Herrschaftsschicht. Hier sind auch die meisten der auf Bräuchen oder Gewohnheiten basierenden Entscheidungen zuzuordnen, bei denen die Schätzungen der Erwartungswerte unabhängig von vielen Gruppenmitgliedern erfolgen.

·             Bei Kompromiss- und Mehrheitsentscheidungen werden die Schätzungen zumindest beachtlicher Teile der betreffenden Gruppe berücksichtigt.

 

Die beiden erstgenannten Typen sind Fremdentscheidungen, die nicht unbedingt für die Menschen getroffen werden, die sie verwirklichen. Sie begründen Herrschaftsverhältnisse zwischen den Gruppenmitgliedern. Solche Herrschaftsverhältnisse sind bereits bei Säugetieren zu erkennen, weshalb eine biologische Prädisposition hierfür besteht. Die Formen der Herrschaft sind jedoch Ergebnisse sozialgeschichtlicher Entwicklung und werden durch neue Formen der Arbeitsteilung und die damit verbundene Erweiterung der Entscheidungsräume bestimmt.

Freiheit und Herrschaft schließen sich gegenseitig aus. Die biologische Prädisposition und die Vorteile der Arbeitsteilung werfen die Frage auf, inwieweit Herrschaftsverhältnisse überwunden und Freiheit der Individuen überhaupt realisiert werden können, zumal die Ausweitung individueller Freiheiten auch leicht mit gesellschaftlich Wünschbarem kollidiert.

Es gibt jedoch auch Tiergemeinschaften, die ohne Leittiere funktionieren, die biologische Prädisposition ist also keine unüberwindbare Bedingung. Auf der anderen Seite bietet die Automatisierung der Maschinensysteme die Möglichkeit, den Menschen aus den Zwängen der maschinellen Produktion zu befreien und durch flexible Produktionstechnik die Entscheidungen  wieder mit ihrer Verwirklichung zu vereinigen. Zunehmender Wohlstand ermöglicht es, die Warenproduktion den individuellen Wünschbarkeiten besser anzupassen, wenn die Produktionsentscheidungen nicht zentral, sondern von den Konsumenten getroffen werden. Der Missbrauch individueller Freiheiten auf Kosten gesellschaftlich Wünschbarem ist einzuschränken, wenn im gesellschaftlichen Leben diejenigen Faktoren stark eingedämmt werden, die heute Individuen zu irrationalem Verhalten verleiten. Hierzu gehört vor allem die Entkopplung des Leistungswillens von der Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse.

3.3. Historische Ausweitung von Entscheidungsräumen

 

In den frühen Gesellschaften hatten die Menschen nur äußerst unzulängliches Wissen über in der Natur wirkende Zusammenhänge. Deshalb wurden sich wiederholende Vorgänge in phantastischer und abergläubiger Weise miteinander verknüpft und notwendigen Entscheidungen zu Grunde gelegt.

Eine erste bedeutende Erweiterung des Handlungsraumes ergab sich durch die auf der neolithischen Revolution begründete Entwicklung der Wissenschaften im Altertum, die zur Entwicklung der theoretischen Vernunft in den frühen Hochkulturen führte.

Die zweite grundlegende Erweiterung des Handlungsraumes erfolgte mit der industriellen Revolution zum Ausgang des Mittelalters, durch die die Errungenschaften der theoretischen Vernunft Eingang in die praktische Vernunft der Entwicklung der Produktionstechniken fand.

Diese Erweiterungen des Handlungsraumes führten zu einer entsprechenden Erweiterung des objektiven Möglichkeitsraumes und ermöglichten damit die Entstehung der Hochkulturen und der heutigen Industriegesellschaften. Diese Entwicklungen bauen zwar zum Teil aufeinander auf, sind aber nicht durch zwangsläufige Gesetzmäßigkeiten miteinander verbunden, sondern erforderten in jedem Falle aktive rationale Entscheidungen in der jeweiligen Gesellschaft. Auch wenn diese Entscheidungen in zunehmendem Maße auf der Erkenntnis deterministischer und statistischer gesetzmäßiger Zusammenhänge beruhen, sind sie mit Unsicherheit und Risiko behaftet, die deren Realisierbarkeit beeinträchtigt und somit die Prognostizierbarkeit ihrer Ergebnisse in Frage gestellt haben und immer in Frage stellen werden. Daraus resultiert die prinzipielle Unvorhersagbarkeit der Zukunft.

Im Nachhinein untersucht Kreschnak jedoch die geografischen, klimatischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die zum Ausgang des Mittelalters den Handlungsraum bildeten, auf dessen Grundlage gerade die Möglichkeiten gegeben waren, die zur Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise in Europa erforderlich und die nirgends wo anders gegeben waren.

 

3.4. Herrschaft und Rationalität

Die biologische Prädisposition zum Führen und Geführt werden entstand im Leben der unmittelbaren Vorfahren der Menschen in relativ kleinen Gruppen. Hier und noch lange Zeit während und nach dem Prozess der Menschwerdung ergab sich ein Vorteil, wenn die erfahrensten Mitglieder der Gruppe als Stammeshäuptlinge Entscheidungen für die gesamte Gruppe trafen. Der Ausbau dieses Prinzips zu Herrschaftssystemen erfolgte da, wo durch Zusammenarbeit vieler Menschen der Bau großer Bewässerungssysteme und damit eine gewaltige Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion ermöglicht wurde. Damit entstanden zugleich die Voraussetzungen zur Bereicherung der Herrschenden und die Herrschaftsprivilegien. Von da an war individuell Wünschbares nicht unbedingt auch gesellschaftlich Wünschbares, auch wenn die Herrschenden oft auch zu gesellschaftlichen Angelegenheiten rationale Entscheidungen trafen.

Bei der Modellierung herrschaftlicher Entscheidungssituationen sind neue Entscheidungsräume zu berücksichtigen. Im Möglichkeitsraum der Wünschbarkeiten sind neben den individuellen  Interessen auch die herrschaftlichen Interessen und die Interessen der Gesellschaft zu beachten. Die hierfür von Kreschnak entwickelten Entscheidungsmodelle enthalten folgende Möglichkeiten:

·             Sichtliche Stärkung, Festigung und Ausweitung der Macht

·             Aufrechterhaltung der Macht

·             Schwächung und Gefährdung der Macht

bei

·             Beträchtlicher Verbesserung

·             Geringer Verbesserung

·             Beibehaltung

·             Geringfügiger Verschlechterung

·             Beträchtlicher Verschlechterung

der Lebensbedingungen der Mehrheit der Beherrschten,

wobei jeweils zwischen

·             Für das gesellschaftliche Zusammenleben günstigen und ungünstigen Umweltbedingungen

·             Starken und schwachen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Herrschaftsverhältnisse durch die Beherrschten

·             Hohem und niedrigem Bildungsniveau bei der Mehrheit der Beherrschten

unterschieden wird.

Betrachtet werden jeweils drei alternative Maßnahmen des Herrschers zur Durchsetzung seiner Maßnahmen und die Möglichkeit ernstlichen Widerstandes der Betroffenen.

Die Analyse dieser Entscheidungsmodelle lässt folgende Schlussfolgerungen zu:

·             Herrschaftsverhältnisse sind dort rational, wo eine Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Individuen nur gemeinschaftlich erreicht wird, das erzeugbare Mehrprodukt aber nicht ausreicht, der überwiegenden Mehrheit der Gemeinschaftsmitglieder eine hinreichend hohe Bildung zu vermitteln.

·             Herrschaftsverhältnisse werden irrational und brechen zusammen, wenn Umwelt- und Lebensbedingungen sich stark ändern, das Bildungsniveau selbst der Herrschenden nicht ausreichend ist und diese sich nur auf Erfahrungen stützen, das Erwartete aber nicht eintritt.

·             Eine Bevölkerung mit hoher Bildung, die mögliche Folgen von Entscheidungen zu gesellschaftlichen Angelegenheiten aus eigenen Erfahrungen abschätzen kann, zwingt die Herrschenden zu moderaten Maßnahmen, die auch im Interesse der Beherrschten sind, um deren Beherrschung nicht zu gefährden und keinen Widerstand hervorzurufen. Das wirft die Frage auf, ob es nicht an der Zeit ist, mit Herrschaftsverhältnissen völlig zu brechen.

·             Eine hohe Bildung breiter Bevölkerungskreise muss gewährleisten, dass auch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft diejenigen, welche die Entscheidungen treffen, nicht von denen getäuscht werden können, welche die Entscheidungs-konzepte ausgearbeitet haben. Andernfalls ist der Weg zur Rückkehr zu Herrschaftsverhältnissen wieder frei.

·             Theoretische Vernunft einer hohen Bildung ist zwar Voraussetzung, reicht aber nicht aus, um mit den Erfahrungen praktischer Vernunft rationale Entscheidungen treffen zu können. Die praktische Vernunft der Erfahrungen befähigt jedoch die Entscheidungsträger Wissen zu akkumulieren, das für die Rückkehr zu Herrschaftsverhältnissen notwendig und förderlich ist. Dieses Dilemma gilt es zu erkennen und zu überwinden, wenn Herrschafts-verhältnisse überwunden werden sollen.

 

 

3.5. Profit und Rationalität

Profitentscheidungen sind immer Herrschaftsentscheidungen, denn diejenigen, welche die Entscheidungen treffen, sind nicht identisch mit denen, die sie auszuführen haben. Bei Profitentscheidungen ist die Erzielung maximalen Profits die dominierende Wünschbarkeit. Werden andere Wünschbarkeiten berücksichtigt, so nur in so weit als sie indirekt die Erzielung von Maximalprofit fördern. In so fern sind Profitentscheidungen stets eindimensional.

In der ersten Phase der kapitalistischen Entwicklung war die Trennung der Produktionsinstrumente von der Arbeitskraft rational und hat erhebliche Fortschritte in der Produktivitätsentwicklung bewirkt, die profitorientierten Entscheidungen entsprachen damit auch den gesellschaftlichen Wünschbarkeiten. Diese Entsprechung ist heute nicht mehr gegeben. Durch profitorientierte Entscheidungen werden heute nicht mehr die den gesellschaftlichen Wünschbarkeiten entsprechenden Waren hergestellt, sondern solche Waren, die höchste Profite versprechen, auch wenn der Bedarf für diese erst durch aufwendige Werbung erzeugt werden muss. Damit werden profitorientierte Entscheidungen gesellschaftlich irrational. Der Charakter der Profitentscheidungen als Herrschaftsentscheidungen tritt damit wieder deutlich hervor, in dem derartige Entscheidungen auch immer dem Erhalt der bestehenden Herrschaftsverhältnisse dienen.

Bei einfacher Reproduktion werden lediglich die zwischen Konsumtion und Produktion bestehenden Verhältnisse fortwährend reproduziert und es stellen sich Gleichgewichtsverhältnisse von selbst ein. Bei dieser Produktionsweise gibt es jedoch keinen Fortschritt und keine Erweiterung der Entscheidungsräume. Die Erweiterung der Entscheidungsräume hat zwingend erweiterte Reproduktion und damit Akkumulation des Kapitals zur Voraussetzung und das Gleichgewicht zwischen Produktion, Konsumtion und Akkumulation muss dynamisch ständig neu wieder hergestellt werden. Für ein einzelnes Unternehmen rationale Profitentscheidungen sind grundsätzlich nicht geeignet, diese Gleichgewichte herzustellen, weil gesellschaftliche Wünschbarkeiten keine Berücksichtigung finden. Im Gegenteil: Bei einem Überangebot von Waren führt die im Interesse der Profitmaximierung wünschbare Einschränkung der Produktion gleichzeitig zu einer Verminderung der Kaufkraft und zu Arbeitslosigkeit, also zu gesellschaftlich negativen Wünschbarkeiten. Dies ist nur vermeidbar, wenn die eindimensionale Profitentscheidung von einer mehrdimensionalen Entscheidung abgelöst wird, bei der von vorn herein Individuelle Profitwünsche und andere gesellschaftliche Wünschbarkeiten in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden.

 

3.6. Ist umfassend rationales Entscheiden möglich?

Kautsky, Marx, Engels und Lenin erkannten die Unzulänglichkeiten der eindimensionalen Profitentscheidungen und ihre in den auf ungleichen Eigentumsverhältnissen beruhenden Ursachen, fanden aber nicht die richtige Lösung.

Die bisherigen Sozialismusversuche scheiterten, weil es nicht gelang, die durch Herrschaftsverhältnisse bedingt nur partiell rationalen Fremdentscheidungen durch etwas besseres zu ersetzen. Die der modernen industriellen Produktion zu Grunde liegende Arbeitsteilung ist eng mit der Problematik der Fremdentscheidungen verbunden. Durch sein Eigentum und sogar nur durch die Aufnahme eines Kredites erwirbt der Unternehmer die Entscheidungsgewalt über fremdes Arbeitsvermögen. Dieses Herrschaftsverhältnis wurde in den bisherigen Sozialismusversuchen nicht verändert. Nur durch Aufhebung dieser knechtenden Arbeitsteilung ist es möglich, zu umfassend rationalen Entscheidungsstrukturen zu gelangen. Durch Staatseigentum an Produktionsmitteln wurde die auf der Trennung zwischen den die Entscheidung Treffenden und denen, die diese zu realisieren haben, nicht aufgehoben. Lenin und Gorbatschow erkannten die grundsätzliche Bedeutung dieser Problematik und machten 1918 bzw. 1986 den Versuch, durch Wählbarkeit der Betriebsleiter diese Trennung zu überwinden, erkannten aber bald, dass die derzeitige Organisationsform der industriellen Produktion das nicht zuließ und kehrten zum Prinzip der Einzelleitung und Einzelverantwortung zurück. Welche gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um eine solche Trennung zu überwinden, wurde im Abschnitt 3.4. angedeutet. Die Grundlage der irrationalen Entscheidung ist nicht die ungleiche Verteilung der hergestellten Produkte, sondern die Entfremdung, die Trennung der Entscheidungsträger von den Ausführenden, die die moderne Arbeitsteilung fordert und ständig reproduziert. Um zur Überwindung dieser Umstände zu gelangen, ist der Förderung und Vervollkommnung der Entscheidungsfähigkeit der Einzelnen wesentliche Beachtung zu schenken. Zentrales Planen und Leiten fördert hingegen die Ausbildung eines bürokratischen Verwaltungsapparates und behindert die Entwicklung der Entscheidungsfähigkeit der Individuen. Eine solche kann nicht in der Schule gelehrt werden. Sie kann sich nur ausbilden, wenn jeder Einzelne die Folgen seiner eigenen Entscheidungen selbst zu spüren bekommt. Hochkomplexe Systeme, wie es lebende Organismen und die moderne menschliche Gesellschaft sind, können nicht von einem Zentrum aus gesteuert werden, sondern müssen sich auf allen Ebenen selbst steuern und organisieren. Dann sind sie auch in der Lage, ihre Fehler selbst zu korrigieren, wozu Herrschaftssysteme häufig nicht fähig sind. Insbesondere sind Herrschaftssysteme nicht in der Lage, sich selbst zu beseitigen und  herrschaftsfreie Verhältnisse herzustellen.

Die bisherigen historischen Erfahrungen lassen den Schluss zu, dass die Bildungsunterschiede in der Bevölkerung  derzeit noch zu groß sind, um qualifiziertes Mitentscheiden aller und damit eine herrschaftsfreie Entscheidung zu ermöglichen.

Der Übergang von bloß partieller zu umfassender Rationalität scheint nur möglich durch einen evolutionären, historischen Prozess. Sollen die eindimensionalen Profitentscheidungen durch mehrdimensionale Entscheidungen ersetzt werden, die auch gesellschaftliche Wünschbarkeiten berücksichtigen, so entsteht  die schwierige Frage nach dem Bewertungssystem  und der relativen Bewertung der einzelnen Wünschbarkeiten, die zudem als von den Umweltbedingungen und von historischen Zeitfaktoren abhängig betrachtet werden müssen. Diese Problematik wird im Teil 2 des Buches behandelt. (Die begrenzten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu rationalen Entscheidungen wird von Kreschnak nicht betrachtet. Siehe hierzu Kahneman)

 

4. Die gegenwärtige Ausweitung des Entscheidungsraumes

 

4.1 Die gegenwärtige Ausweitung des Handlungsraumes

Grundlage für die gegenwärtige Erweiterung des Handlungsraumes ist der  breite Einsatz von Werkzeugmaschinen und Maschinensystemen bei der Durchführung der Produktion. Der Antrieb dieser Maschinen erfolgt nicht mehr durch menschliche Arbeitskraft. Die Leistung eines Menschen in der Produktion kann immer weniger durch die aufgewendete Arbeitszeit bestimmt werden, sondern wird bestimmt durch seine Fähigkeiten und Erfahrungen in der Steuerung der Produktion. Die mechanische Durchführung von festgelegten Arbeitsaufgaben ist immer weniger gefragt und die Steuerung der Produktion wird mehr und mehr von immer leistungsfähigeren Computern übernommen. Vom Menschen wird in der Produktion immer mehr Kreativität bei der Bewältigung von nicht vorhergesehenen Ereignissen und bei der Beherrschung neuartiger Produktionstechnologien verlangt. Rein profitorientierte Entscheidungen zentraler Leitungskräfte der Unternehmen führen immer weniger zur optimalen Lösung anstehender Probleme und erfordern einerseits vom Staat gesetzte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und andererseits die fraktale Verlagerung der Entscheidungsebenen unmittelbar in die Produktion.

 

4.2. Anstehende Probleme bei der Erweiterung des Handlungsraumes

Technisch und technologisch Machbares ist nicht zugleich Verwirklichtes, weil Mögliches nur dort Wirkliches wird, wo Wünschbarkeiten hinreichend starken Grund zum Handeln bieten.

Während die erste Etappe des  Kapitalismus durch den firmenleitenden kapitalistischen Unternehmer verkörpert wurde, entstanden in der 2. Etappe große zentralisierte und durchbürokratisierte Industrieunternehmen, die von Managern geleitet werden, die den Aktienbesitzern maximale Dividenden zu sichern haben. Seit den neunziger Jahren beginnen sich die hierarchischen, zentralisierten Strukturen in den Unternehmen aufzulösen in netzartige Gebilde, in denen das gemeinschaftliche Wirken zur Realisierung von Projekten immer bedeutsamer wird. In dieser 3. Etappe sind zwar Tendenzen zur Aufhebung knechtender Arbeitsteilung zu erkennen, die Akteure zur Realisierung von Projekten auf der unmittelbaren Ebene der Produktion oder Dienstleistung werden in nötige Entscheidungsprozesse einbezogen, aber nach wie vor ist alle Rationalität der Entscheidungsprozesse eindimensional auf die Erzielung eines möglichst hohen Profits des Unternehmens gerichtet. Die alternativen Tendenzen sind auch noch nicht in allen Branchen vorhanden und in den verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Sie haben insbesondere in den abhängigen unterentwickelten Ländern eine Verschärfung der Ausbeutung zur Folge.

Sie bewirken insgesamt eine noch immer zunehmende Irrationalität der Entscheidungen und eine Tendenz zur Auflösung antikapitalistischer Bewegungen, weil die kapitalistischen Manager es verstanden haben, sich Teile deren früherer Forderungen zu eigen zu machen und manche frühere Arbeitnehmer an den Profiten zu beteiligen. Die antikapitalistischen Bewegungen sind selbst in die Krise geraten, weil sie nicht rechtzeitig erkannt haben, dass zentralistisch-hierarchische Organisationsformen zunehmend irrational werden und diese Organisationsformen selbst in die linken Bewegungen übernommen haben und insbesondere in den sozialistischen Ländern pflegten.

Antikapitalistische Bewegungen begründen sich bisher vorwiegend aus Sozialkritik. Damit werden aber nur die Symptome des Kapitalismus aufs Korn genommen, ihre Ursachen bleiben unterbelichtet. Im Ergebnis zeigt sich, dass ein realistisches alternatives Konzept bisher nicht in Sicht ist. Von den drei Aspekten rationalen Entscheidens - Erkennen, Werten und Handeln - , bedürfen zur rationalen Steuerung komplexer Systeme nicht nur das Erkennen und Handeln der Mitwirkung aller Akteure, sondern auch das Werten. Solange Werten nur unter dem Gesichtspunkt der Erzielung höchstmöglichen Profits erfolgt, geht antikapitalistische Kritik am Grundproblem vorbei.

 

4.3 Ist statt Streben nach Profit rationales Entscheiden möglich?

Zur effektiven, rationalen Steuerung wirtschaftlicher Prozesse müssen selbstverständlich nach wie vor gewissenhaftes Kalkulieren und Bilanzieren gehören, um Vergeudung von menschlicher Arbeit und von Naturressourcen zu vermeiden und immer wieder neue Wege zur Verringerung des Aufwandes beim Verwirklichen menschlicher Absichten zu finden. Wenn aber nur die Maximierung des Profits als Kriterium herangezogen wird, bleibt die Optimierung eindimensional. Um eine umfassende Optimierung zu erreichen, müssen alle relevanten positiven und negativen individuellen und die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Wünschbarkeiten bei der Entscheidung berücksichtigt werden.  Dies erfordert deren Quantifizierung hinsichtlich Dringlichkeit und zeitlicher Einordnung, was eine überaus komplexe und schwierige Aufgabe darstellt. Die Diskussion verschiedener Entscheidungsmodelle zeigt, dass diese Aufgabe im Prinzip lösbar ist, aber eine Abkehr von bisher üblichen Planungsmethoden erfordert. Das wesentliche Problem besteht darin, die an der Realisierung der Entscheidung beteiligten Individuen angemessen an der Formulierung der zu Grunde zu legenden Wünschbarkeiten zu beteiligen und die Wünschbarkeiten aus deren Grundbedürfnissen abzuleiten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten dürfen nicht zu Lethargie, sondern müssen zu Kreativität bei der Lösung der Probleme führen. Dazu muss als vordringliches Problem daran gearbeitet werden, den Glauben an die Realisierbarkeit dieser Aufgabe zu fördern. Diesem Anliegen ist das vorliegende Buch in erster Linie gewidmet.

 

4.4 Theoretische Vernunft und komplexe Systeme

Die neue Stufe theoretischer Vernunft, die gegenwärtig erreicht wird, ist dadurch charakterisiert, dass immer deutlicher erkannt wird, dass die Eigenschaften komplexer Systeme nicht reduktionistisch aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile ableitbar sind, sondern neue Qualitäten darstellen, die darüber hinaus weisen. Diese neuen Qualitäten beruhen zwar auf den Eigenschaften der sie aufbauenden Bestandteile und nehmen diese in sich auf, gehen aber nicht zwangsläufig daraus hervor, sondern erschließen völlig neue Möglichkeitsräume.

Während einfache Systeme durch ein statisches Gleichgewicht der inneren Kräfte charakterisiert sind und durch äußere Einwirkungen leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden können, werden komplexe Systeme durch ein dynamisches Fließgleichgewicht definiert, durch welches sie in ihre Umgebung eingepasst sind. Das ermöglicht ihnen, Veränderungen ihrer Umwelt  zu widerstehen und selbstorganisatorisch ihre Struktur zu verändern. Solche Systeme können durch Einwirkungen von außen nur schwer gesteuert und  leicht zerstört werden. Ein solches komplexes System ist auch der freie Markt, der mit den klassischen auf Gleichgewichte ausgerichteten Wirtschaftstheorien nicht gesteuert werden kann. Theoretische Vernunft muss diesen Eigenschaften komplexer Systeme Rechnung tragen und ihren Erkenntnisraum dementsprechend erweitern. Der Wohlstand einer Gesellschaft kann nicht als Summe des persönlichen Wohlstandes der dazugehörenden Individuen definiert werden und der entstehende Umweltschaden besteht nicht nur aus der Summe des Schadens, den ihre einzelnen Mitglieder verursachen.

Die exotischen Eigenschaften komplexer Systeme beruhen darauf, dass die zwischen ihren Bestandteilen vorhandenen Beziehungen und Abhängigkeiten nichtlinear sind. Die sich daraus ergebende Dynamik des Systems kann nur durch nichtlineare Gleichungen beschrieben werden, die unter bestimmten Bedingungen dazu führen, das kleine Änderungen in den Anfangsbedingungen zu großen Änderungen der Parameter führen können, die eine totale Veränderung des Charakters der Dynamik des System verursachen. Erkenntnisse über das Verhalten solcher Systeme können nur durch Einwirkungen auf das System gewonnen werden, die das Verhalten des Systems in nicht vorhersagbarer Weise verändern.

Dies führt dazu, dass rationale Entscheidungen nicht zu den erwarteten Ergebnissen führen und deshalb das Verhalten eines komplexen Systems laufend beobachtet und überwacht werden muss, um unbeabsichtigte Ergebnisse rechtzeitig zu verhindern.

 

Mathematische Methoden und formalisierte Sprachen können wesentlich dazu beitragen, Erkenntnisse über das Verhalten komplexer Systeme zu gewinnen. So wie reduktionistische und diskursive Methoden für die Weiterentwicklung der Wissenschaften zwar unverzichtbar sind, aber eben nicht ausreichen, die Eigenschaften komplexer Systeme zu erklären, so muss neben mathematische Methoden und formalisierte Sprachen die Intuition treten, die als Erfassen von Sachverhalten nicht in Schritte zerlegbar ist, von denen sich angeben lässt, wie sie im einzelnen zu vollziehen sind. Intuition ist aber zu unterscheiden von Mystik. Auch wenn nicht genau bekannt ist, wie ein Ergebnis erreicht wurde, so müssen die Ergebnisse von Intuitionen dennoch einer Überprüfung auf Rationalität oder Irrationalität zugänglich sein.

 

5. Diagnose-Therapie-Modelle

5.1. Dispositionelle Erklärungen und Voraussagen

Zur Begründung des gleichen Sachverhalt kann oft sowohl eine kausale als auch eine dispositionelle Erklärung gewählt werden. Ist ein gesetzmäßiger Zusammenhang bekannt, so wird bei einer kausalen Erklärung das eingetretene Ereignis durch das  Wirken einer Ursache bei Vorliegen bestimmter Bedingungen erklärt. Bei einer dispositionellen Erklärung wird die Ursache zu den Bedingungen gezählt, deren Zusammentreffen (Disposition) zu dem betreffenden Ereignis führt. Wie bei der kausalen Erklärung wird die dispositionelle Erklärung zur Voraussage, wenn die entsprechende Aussage statt nach dem Ereignis vor dem Eintreten des Ereignisses gemacht wird. Während eine Ursache ein konkretes Ereignis ist, das eine bestimmte Reaktion hervorruft, sind Dispositionen als Eigenschaften oder Beziehungen zu verstehen, die sich in der Art äußern, in der Dinge oder Individuen in bestimmten Situationen reagieren. Dispositionen sind i.A. nicht unmittelbar beobachtbar, sondern haben beobachtbare Symptome, die sie charakterisieren. Diagnostizieren bedeutet das Fortschreiten vom Erkennen der Symptome zum Erkennen der Disposition. Bei komplexen Systemen mit Fähigkeiten zur Selbstorganisation kann im Gegensatz zu einfachen Systemen nur vom Wissen über die Disposition deduktiv auf das Auftreten der Symptome geschlossen werden ,aber nicht umgekehrt. Das Diagnostizieren der Disposition für das Verhalten komplexer Systeme stellt daher ein besonderes Problem dar.

 

5.2. Mehrwertige Logik und Stützwerte

Für rationale Entscheidungen in komplexen Situationen wurde das Diagnose-Therapie-Modell entwickelt. Danach sind zunächst die eine bestimmte Situation charakterisierenden Symptome festzustellen und zu versuchen, durch Hypothesen ihre Ursachen zu klären und durch deduktive Schlussfolgerungen mit den Symptomen zu verbinden. Die verschiedenen Hypothesen sind so zu wählen, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Dies erreicht man, indem sich eventuell überdeckende Ausgangshypothesen in einer Nulldiagnose zusammengefasst werden, deren zutreffen besagt, dass man die endgültige Diagnose noch nicht gefunden hat. Für jede Hypothese ergeben sich dann alle möglichen logischen Schlussfolgerungen, deren Wünschbarkeiten quantitativ abzuschätzen sind. Wegen der statistischen Unsicherheit vieler Schlussfolgerungen ist häufig nicht klar, ob ein formulierter Zusammenhang richtig oder falsch ist. In diesen Fällen wird ein Quasiwahrheitswert (Stützwert) gewählt, der etwa besagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Aussage zutrifft und der zwischen 0 und 1 variiert werden kann, um seinen Einfluss auf das erzielte Ergebnis zu prüfen. Aus der Abschätzung der Abstände der Wünschbarkeiten der verschiedenen Möglichkeiten ergibt das Modell dann Wahrscheinlichkeitsintervalle für das Zutreffen der verschiedenen Hypothesen, die je nach dem gewähltem Quasiwahrheitswert unterschiedlich sind (mehrwertige Logik). Das Verfahren erlaubt es jedoch, den Einfluss der nur subjektiv festzulegenden Wünschbarkeiten auf die resultierende Präferenzordnung der Hypothesen zu ermitteln.

 

5.3. Der Diagnoseteil des Modells

Reicht die Anzahl empirisch festgestellter Symptome nicht aus, um eine statistisch hinreichend genau gesicherte Präferenzordnung der Hypothesen zu bestimmen, so sind weitere empirische Befunde für solche Symptome zu finden, die durch bestimmte Hypothesen nicht erklärt werden können. Dies führt im Ergebnis dazu, dass das Zutreffen dieser Hypothese immer unwahrscheinlicher wird und ausscheidet. Wesentlich für den Erfolg ist, dass bei der Konstruktion des Entscheidungsmodells zu Beginn alle möglichen in Frage kommenden Schlussfolgerungen auch tatsächlich berücksichtigt werden, so dass sich am Ende des Diagnoseprozesses einige der möglichen Zusammenhänge als nicht realisiert herausstellen können. Die Therapie kann sich dann auf die möglichen Zusammenhänge konzentrieren.

 

5.4 Die Einheit von Diagnose und Therapie

Nachdem am Ende des Diagnoseprozesses die Präferenzordnung der noch möglichen Hypothesen festgestellt ist, müssen für jede Hypothese die therapeutischen Maßnahmen zur Beseitigung der unerwünschten Symptome ausgearbeitet werden. Sind die Wahrscheinlichkeitsintervalle der Hypothesen deutlich unterschieden, so beginnt man mit der Therapie für die Hypothese der höchsten Präferenz. Hat die Therapie Erfolg, so ist das Problem gelöst. Unabhängig davon können die erzielten empirischen Befunde dazu verwendet werden, das Entscheidungsmodell zu ergänzen und eine neue Präferenzordnung mit entsprechenden Wahrscheinlichkeitsintervallen zu berechnen, um die nächste Hypothese zu testen. Haben mehrere Hypothesen nicht deutlich unterscheidbare Wahrscheinlichkeitsintervalle, so sind die sich aus der Anwendung der verschiedenen Therapien ergebenden Schlussfolgerungen zu formulieren und in das Entscheidungsmodell zu integrieren, um eine neue Präferenzordnung zu berechnen.

Das skizzierte Entscheidungsmodell wird in dem Buch auf eine Lehr- und Lernsituation angewendet und detailliert erläutert. Es steht auf der beiliegenden CD als Computermodell zur Anwendung zur Verfügung.

 

5.5 Neue Fragen und Sichtweisen bei Diagnose-Therapie-Modellen

Wenn die Anwendung des Diagnose-Therapie-Modelle nicht sofort zum Erfolg führt, so wird zwar im Abschnitt 5.4 ein Weg aufgezeigt, wie man schrittweise zum Ziel kommen kann, aber dieser Weg ist nicht immer der beste. Erfolge werden nur erzielt, wenn die gewählte Therapie das zu beeinflussende komplexe Systems zur Selbstveränderung anregt. Bewirkt die Selbstveränderung nicht das beabsichtigte Ergebnis, so verändert sich das System in einer nicht vorhersehbaren Richtung, wodurch die bereits diagnostizierte Disposition verändert und die Diagnoseergebnisse wertlos werden können. Es empfiehlt sich deshalb, Diagnose und Therapie so miteinander zu verbinden, dass bei kleinen Therapieschritten gleichzeitig neue Diagnoseergebnisse erzielt werden, die zur weiteren Präzisierung des Entscheidungsmodells beitragen können. Das bedeutet, dass die früher übliche Trennung von Erkenntnisobjekt (Experiment) und Entscheidungsobjekt (Praxis) aufgegeben werden muss und praktische Erfahrungen in stärkerem Maße zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen sind. Das Entscheidungs- und Erkenntnismodell muss dann aber von vornherein die Komplexität des Entscheidungsobjektes widerspiegeln und alle möglichen Wirkungszusammenhänge berücksichtigen und die Möglichkeit seiner Veränderung während des Entscheidungsprozesses bieten. Ein auf solche komplexen Systeme anwendbares Entscheidungsmodell erreicht dann selbst eine derartige Komplexität, die ohne Simulation auf Computern nicht mehr zu bewältigen ist. In einem solchen Simulationsmodell verschmelzen die Erkenntnisprozesse der theoretischen und der praktischen Vernunft. Derart komplexe Erkenntnismodelle bieten die gleichen Überraschungseffekte mit unerwarteten Ergebnissen wie reale Objekte. Es zeigt sich dabei, dass bei stetigen Erkenntnisfortschritten keineswegs eine kontinuierliche Annäherung des Simulationsmodells an das reale Objekt erfolgen muss, sondern oft neue unerwartete Wendungen das Grundmodell verändern können.

 

6. Kooperatives Entscheiden

6.1. Die Frage nach vernünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen

Rückblickend ist festzustellen, dass sich in der menschlichen Gesellschaft stets diejenigen Verhältnisse durchgesetzt haben, die für die jeweilige Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit die vorteilhafteren waren, auch wenn es für viele zur jeweiligen Gemeinschaft gehörende Individuen nicht die vorteilhafteren waren. Diese entwickelten sich stets in der Auseinandersetzung antagonistischer Kräfte und im Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Dabei haben die Errungenschaften theoretischer Vernunft eine hervorragende Rolle bei der Entwicklung praktischer Vernunft gespielt, führten aber auch zur Verachtung praktischen Handelns, ohne das aber theoretische Erkenntnisse nutzlos bleiben.

 

Die innerhalb eines kapitalistischen Unternehmens erfolgreiche strenge Rationalität und Planmäßigkeit ist nicht auf die heute in der Gesellschaft vorliegende Komplexität übertragbar. Ein System kann nur dann gewissermaßen von außen geleitet werden, wenn es überschaubar ist und nach überschaubaren Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Dies ist für ein einzelnes Unternehmen noch der Fall, nicht aber für die heute bestehende globalisierte Gesellschaft. Diese ist als hochkomplexes System nicht zentral steuerbar, sondern nur dann zu beeinflussen, wenn dessen komplexe selbstorganisatorische Eigenschaften genügend Berücksichtigung finden. Diese Erkenntnis hat sich jedoch noch nicht allgemein durchgesetzt. Extremer Zentralismus ist vor allem deshalb so zählebig, weil er sich in der industriellen Massenproduktion bewährt hat, deshalb besonders auch von vielen Arbeitern akzeptiert wird und in der Führung der sozialistischen Länder in den Phasen des Bürgerkrieges, des Weltkrieges und bei der Überwindung der Folgen der Kriege noch durchaus nützlich war, obwohl es auch dort bereits mehrere Versuche gab, ihn zu überwinden.

 

Die Irrationalität des extremen Zentralismus zeigt sich in folgenden Erscheinungen, die sowohl in der politischen Praxis der sozialistischen Länder wie auch in Entscheidungen von Versuchspersonen auftraten, die mit komplexen Situationen konfrontiert wurden:

·             Lernen aus Erfahrungen ist in komplexen Situationen bei zentralistischer Steuerung im Vergleich zu einfach zu übersehenden  extrem erschwert

·             In einfachen Situationen bewähren sich Idealisierungen, bei denen relative Gleichheit von Entscheidungssituationen wie absolute Gleichheit behandelt wird. In komplexen Situationen hat das oft unerwünschte Folgen.

·             Neben und Fernwirkungen von Entscheidungen werden vernachlässigt und können nur durch aufwändige wissenschaftliche Untersuchungen und computergestützte Simulierung komplexer Situationen berücksichtigt werden.

·             Kontrolle des Erfolges und Korrektur der Entscheidung während ihrer Verwirklichung werden vernachlässigt

·             Einfache Situationenkönnen gut durch Modelle simuliert werden, aber komplexe Situationen erfordern komplexe Modelle, die als solche weiter vereinfacht werden müssen, um handhabbar zu sein, dann aber die komplexe Situation nicht mehr richtig simulieren können. Das vereinfachte Modell wird dann für die Wirklichkeit gehalten.

·             Zentralistische Entscheidungen werden aus psychologischen Gründen nicht korrigiert, auch wenn sich ihre Fehlerhaftigkeit allmählich herausstellt. Stattdessen werden andere Gründe für den Misserfolg gesucht.

·             In zentralistischen, bürokratischen Systemen entwickelt sich aus psychologischen Gründen die Tendenz, Misserfolge zu beschönigen und nicht zum Erfahrungslernen an die Entscheidungszentrale zurück zu melden.

·             In schwierigen Situationen wird im Zusammenwirken von Bürokratisierung und Fehlverhalten oft etwas anderes ausgeführt als beschlossen und angewiesen war.

 

Die nur moralische Verurteilung des Stalinismus als Personenkult bekämpft lediglich dessen Symptome und führt zum genauso zu verurteilenden Antistalinismus, wen nicht gleichzeitig zu den tieferen Ursachen vorgedrungen wird und alte Fehler  beseitigt werden. Mit zentralistischen Strukturen ist das komplexe gesellschaftliche System nicht mehr leitbar und es sind netzartige Strukturen erforderlich. Dabei kann das theoretische Konzept nur die Basis zur Konstruktion von Entscheidungs­modellen liefern, die detaillierte Ausgestaltung ist Sache praktischer Vernunft und praktischen Handelns der Politik. Erst die Überwindung der knechtenden Arbeitsteilung und die Zusammenführung von Entscheidung und Handlung durch konsequente Demokratisierung kann zur endgültigen Überwindung zentralistischer Strukturen und damit zu vernünftigen gesellschaftlichen Verhältnissen führen.

 

6.2 Entscheiden in der Zukunft – meist kooperativ und dezentral

Auch dort wo es keine extrem zentralistischen Entscheidungsstrukturen gibt, ist es in komplexen Entscheidungssituationen sehr schwierig, irrationale Entscheidungen zu vermeiden. Das trifft insbesondere zu wenn:

·             Mehrere voneinander unabhängige Individuen Endscheidungen zu dem gleichen komplexen Objekt treffen müssen.

·             Durch neue Stufen theoretischer Vernunft eine rasche Erweiterung des gesellschaftlichen Handlungsraumes erfolgt und noch keine Erfahrungen praktischer Vernunft vorliegen.

·             Wenn bei der Konstruktion von Entscheidungsmodellen das verwendete Simulationsmodell das betrachtete Entscheidungsobjekt nicht gut genug beschreibt..

·             Wenn ein Missverhältnis  zwischen dem Aufwand zur Vorbereitung und dem Treffen der Entscheidung zu dem Aufwand zur Realisierung besteht.

·             Wenn der Bildungsstand der an den Entscheidungen mitwirkenden Personen nicht ausreichend ist.

 

Um irrationale Entscheidungen zu vermeiden, sind Forschung und Bildung, Teilnahme an öffentlicher Beurteilung und Kontrolle zu verstärken.

Die bestehende Arbeitslosigkeit beruht nicht darauf, dass es an sinnvollen Tätigkeiten fehlt, sondern ist ein Anzeichen dafür, dass die kapitalistischen Bedingungen beim derzeitigen Entwicklungsstand der Gesellschaft keine umfassende vernünftige Gestaltung gesellschaftlichen Lebens mehr ermöglichen.

Durch Übergang zu Gruppenarbeit können die Ausführenden an den Produktionsentscheidungen beteiligt werden und so die Flexibilität der Produktion erhöht und knechtende Arbeitsteilung vermindert werden. Oft wird Gruppenarbeit aus Werbegründen aber nur vorgetäuscht, wobei die erzielbaren Effekte aber nicht eintreten. Die Unzulänglichkeiten zeigen sich durch

·             Unzureichende fachliche und soziale Qualifikation der Mitarbeiter

·             Formale flächendeckende Einführung von Gruppenarbeit ohne individuelle Anpassung

·             Keine Beteiligung der Betroffenen an der Gestaltung der Gruppenarbeit

·             Keine echte Übergabe von Autonomie, Handlungsspielraum und horizontaler Aufgabenerweiterungsmöglichkeit

 

Die immer weiter zunehmende komplexe Verflechtung aller wirtschaftlichen und politischen Prozesse erfordert kooperative Entscheidungen aller Partner, die auch kooperativ in diesen Prozessen zusammenarbeiten. Werden in solchen komplexen Entscheidungssituationen auf zentralistisch-hierarchische Weise von Einzelnen Entscheidungen getroffen, so kann man oft kaum unterscheiden, ob Fehlentscheidungen ihre Ursachen in Verantwortungslosigkeit oder in Ratlosigkeit wegen fehlender Übersicht über die Komplexität der Prozesse haben. Wo komplexe Entscheidungen nicht in Einzelentscheidungen zerlegt werden können, lassen sich rationale Entscheidungen nur dann treffen, wenn man komplexe kombinierte Diagnose-Therapie-Modelle verwendet, in denen die in die Realisierung der Entscheidungen einbezogenen Partner auch in die Vorbereitung und das Treffen der Entscheidungen verantwortlich einbezogen werden. Nur dann kann die richtige rationale Entscheidung gefunden werden, wenn bereits in die Zielsetzung die Wünschbarkeiten aller beteiligten Partner mit einfließen können und letztere eigene Verantwortung für die von ihnen beeinflussbaren Teilprozesse übernehmen.

Kooperative Entscheidungsprozesse sind nur dann rational, wenn anfänglich unterschiedliche Meinungen der Partner nicht durch autoritative Machtentscheidungen geklärt werden, sondern durch Aufdeckung und Ausdiskutieren logischer Widersprüche aneinander angeglichen werden. Die Verlagerung der Entscheidungsmacht aus hierarchischen Entscheidungsstrukturen in Netzstrukturen bedeutet nicht unbedingt auch die Aufhebung von autoritativen Herrschaftsverhältnissen, wichtiger ist eine demokratische Legitimation der Entscheidungsträger auf den unterschiedlichen Hierarchiestufen.

 

 

6.3. Ökonomische Rationalität als Einheit des relevant Wünschbaren

Es wird immer offensichtlicher, dass einseitig auf die Maximierung des Profits ausgerichtete Entscheidungen zunehmend in Widerspruch mit gesamtgesellschaftlichen Wünschbarkeiten geraten und somit Irrational sind.

Maßstab allen rationalen Entscheidens und Handels sollte anstelle fraglichen Profitstrebens die Entfaltung von Leistung und Genuss von allen einbezogenen Individuen sein. Das erfordert die Abkehr von individuellen Profitstreben, welches tendenziell die Herauslösung aus dem komplexen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang fördert, und die Hinwendung zur Stimulierung von Handlungsgründen im Interesse individueller und gesamtgesellschaftlicher Wünschbarkeiten. Das gesellschaftliche Leben wird notwendig immer komplexer und kann nicht durch Streben nach individueller Unabhängigkeit und persönlichem Reichtum beherrscht werden, sondern nur durch kooperatives Handeln gesellschaftlicher Gruppen, das den individuellen Wünschbarkeiten aller gerecht wird.

Vielfach haben bereits Vertreter des gegenwärtig herrschenden kapitalistischen Systems dessen Unzulänglichkeiten erkannt und bemühen sich, den aus der zunehmenden Komplexität erwachsenden Anforderungen gerecht zu werden und Hierarchien in Richtung Netzstrukturen und Gruppenarbeit aufzulösen. Jedoch gibt es auch genügend Beispiele, wo solche Erkenntnisse nicht vorliegen oder nicht berücksichtigt werden. Andererseits ist aber auch festzustellen, dass viele Vertreter antikapitalistischer Kritik an historisch überholten Positionen festhalten und keine den komplexen Gegebenheiten gerecht werdende Politik verfolgen. Es kommt darauf an, positive Tendenzen in der Entwicklung des kapitalistischen Systems zu erkennen und für die Erschließung humaner Wege in eine humanere Gesellschaft zu nutzen.

Rationales Klären gesellschaftlicher Probleme setzt kooperatives Arbeiten, zu dem kooperatives Entscheiden gehört, voraus. Hohe Aufmerksamkeit ist dabei der Frage zu widmen, wie die interne Konsistenz der verschiedenen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Wünschbarkeiten gesichert werden kann. Dabei sind deren objektive gegenseitige Abhängigkeit zu erkennen und zu berücksichtigen, was einen hohen Bildungsstand aller Beteiligten erfordert.

Die gegenwärtige territoriale Gestaltung des Reproduktionsprozesses ist irrational, weil die ungleichmäßige Verteilung der Handelsüberschüsse laufend neue Störungen des weltweiten Produktionsprozesses hervorrufen muss. Hier kann nur die weitere Ausgestaltung internationaler Vereinbarungen in Richtung eines Ausgleich der gravierenden sozialen Unterschiede des Lebensniveaus in den einzelnen Ländern dauerhaft Abhilfe schaffen. Daraus ergeben sich wachsende Aufgaben für Staaten und öffentliche Verwaltungen, die den Tendenzen zur Verschlankung der staatlichen Bürokratien  massiv entgegenwirken.

Da sich deutlich abzeichnet, dass Profitmaximierung nicht zu den gesamtgesellschaftlich wünschbaren Ergebnissen zukünftiger Produktion führt, sind neue Methoden zur Kalkulation und Bilanzierung  erforderlich, die neben der nur kurzfristig wirkenden Profitmaximierung auch langfristige gesellschaftliche Wünschbarkeiten wie Ausgleich sozialer und territorialer Differenzen mit dem nötigen Gewicht zu berücksichtigen gestatten. Tendenzen in dieser Richtung sind in einigen Aktivitäten der Europäischen Union bereits zu erkennen.

Die gegenwärtig geltenden rechtlichen Regeln zur Gewährleistung geistigen Eigentums sind völlig ungenügend, um eine optimale Nutzung neuer Ideen zur Realisierung gesellschaftlicher Wünschbarkeiten zu sichern. Zwar sollte gesichert sein, dass der Schöpfer neuer Ideen bevorzugt den Gewinn aus der Nutzung dieser Ideen in Anspruch nehmen kann und insbesondere auch die Kosten der Forschung erstattet bekommt, darüber hinaus sollte aber der gesamten Gesellschaft die Nutzung neuer Ideen ermöglicht und gestattet werden. Das gegenwärtige Patent- und Lizenzrecht ist weit davon entfernt.

Unter den neuen komplexen Bedingungen sind netzartige Entscheidungsstrukturen erforderlich, in denen große Knoten von demokratisch legitimierten Verwaltungsstrukturen Metaentscheidungen treffen, die es den örtlichen und kommunalen Verwaltungsstrukturen ermöglichen, eigenverantwortlich die für ihren Verantwortlichkeitsbereich erforderlichen Objektentscheidungen zu treffen. Gegenwärtig versuchen nicht demokratisch legitimierte internationale Konzerne als zentrale Knoten mit den gleichen Methoden den Staaten und Kommunen ihre neoliberale Ideologie und Politik aufzudrängen und schmackhaft zu machen. Um zu einer Veränderung dieser Verhältnisse zu gelangen, müssen die wachsenden antikapitalistischen Kräfte weltweit ebensolche Strukturen aufbauen, mit denen sie diesen Bestrebungen begegnen können. Infolge Vernachlässigung des theoretischen Denkens ist diesen Kräften das bisher nur ungenügend gelungen.

Die Einsicht in die Komplexität gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse verbietet es, detaillierte Voraussagen zur zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft zu machen. Wenn „weise Führer“ trotzdem solche Voraussagen machen, so beruhen sie auf Irrtümern, Täuschung oder Arroganz. Selbst eine Beschränkung der Ansichten über die Zukunft der Gesellschaft lediglich auf möglich erscheinende grobe Richtungen bietet keine Gewähr für das Zutreffen dieser Ansichten. Was man aber voraussagen kann, sind folgende Tendenzen:

·             Eine erfolgreiche zentralistische Leitung der Gesellschaft wird nicht mehr möglich sein

·             Alle wiederholbaren mechanischen Tätigkeiten werden vom Menschen auf technische Systeme übertragen werden.

·             Die Bildungssysteme werden sich darauf orientieren, solche menschlichen Fähigkeiten, Talente und Begabungen zu entwickeln, die in absehbarer Zeit nicht auf technische Systeme übertragen werden können.

·             Die Tätigkeit der Menschen wird sich darauf konzentrieren, Produktion und Gesellschaft demokratisch und kooperativ zu leiten. Dies erfordert Allgemeinbildung und Spezialbildung, aber nicht allumfassendes Wissen. Einzelleitung überfordert das Wissen des betreffenden Individuums.

·             Die Komplexität der Gesellschaft erfordert eine Vielfalt der Individuen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten, die in der Lage sind kooperativ komplexe Entscheidungen zu treffen.