Gehirn und Geist
Wie aus Materie Bewusstsein entsteht
Nach Gerald M. Edelman
und Giulio Tononi
- Das
Verhältnis zwischen Gehirn und Geist ist seit langem philosophisches
Streitobjekt. Inzwischen setzt sich immer mehr die Auffassung durch, das
Bewusstsein sei eine Funktion des Gehirnes und als solche einer
wissenschaftlichen Erforschung zugänglich. Dabei ist zu klären, welche
physikalisch-chemischen Prozesse Bewusstsein erzeugen, welche Selektionsprozesse
die Evolution des Bewusstseins hervorrufen und wie die subjektiven
Erlebnisqualitäten entstehen. Charakteristische Eigenschaft des
Bewusstseins ist die ungeheure Vielfalt der möglichen unterschiedlichen
Bewusstseinszustände bei ständig einheitlicher und kohärenter Präsenz.
- Grundlegende
Strukturelemente der Anatomie
eines Gehirns sind 100 Milliarden Neuronen, die über eine Million
Milliarden Synapsen miteinander verschaltet sind. Ein Neuron ist in der
Lage, eingehende elektrochemische Signale zu addieren, an andere Neuronen
weiterzuleiten oder die Aktivität anderer Neutronen zu hemmen. Die Anzahl
der möglichen unterschiedlichen Verschaltungen ist hyperastronomisch groß.
Wie im einzelnen der Schaltplan aussieht, ist individuell verschieden und
nicht nur durch Vererbung festgelegt, sonder repräsentiert gleichzeitig die
Gesamtheit der Lebenserfahrungen des jeweiligen Menschen, verändert sich
daher im Laufe der Zeit.
Drei
grundlegende Funktionsprinzipien bestimmen die Art der Verschaltungen im Gehirn:
- Im
thalamokortikalen System gibt es in der Großhirnrind hunderte funktional
spezialisierter, lokal zusammengefasster Areale, in denen zehntausende
neuronaler Gruppen sensorische Reize verarbeiten oder motorische
Handlungen planen und vorbereiten. Zwischen diesen Arealen gibt es
zahllose, reziprok und parallel in beiden Richtungen arbeitende Übertragungswege,
die das gesamte thalamokortikale System zu einem einzigen
dreidimensionalen Netzwerk verknüpfen. Diese Art der Vernetzung
bezeichnet man als reentrant, sie gibt es nur im Gehirn. In diesem
Netzwerk entsteht das Bewusstsein als eine typisch emergente Eigenschaft.
- Die
Areale des Cortex sind durch parallele gerichtete und voneinander
isolierte synaptische Ketten
mit dem Kleinhirn, den Basalganglien und dem Hipocampus verbunden. Von
diesen Hirnanhängen laufen Verbindungen zum Thalamus und von da zurück
zum Cortex. Das Kleinhirn koordiniert und synchronisiert u. a. komplexe
Bewegungsabläufe, die Basalganglien sind an der Planung und Durchführung
komplexer motorischer und kognitiver Abläufe beteiligt. Der Hypocampus
organisiert die Konsolidierung von Inhalten des Kurzzeitgedächtnisses zum
Langzeitgedächtnis in der Hirnrinde. Diese Schaltkreise führen unbewusst
komplizierte motorische und kognitive Routineaufgaben aus.
- Das
dritte System besteht aus spezifischen Kernen im Hirnstamm und im
Hipothalamus. Diese Kerne senden bei wichtigen und auffälligen
Reiz-Ereignissen Signale an alle Bereiche des Gehirns, die die Aktivität
der Neuronen verändern und die Kopplung der synaptischen Verbindungen
verstärken können. Sie bilden ein Bewertungssystem, das die
Aufmerksamkeit steuert und auf lebenswichtige Vorgänge lenkt.
- Experimentelle
Untersuchungen mit elektroenzephalographischen, magnetenzephalographischen,
positronenemssionstomographischen und kernspintomographischen Methoden
zeigten, dass bewusstes Erleben stets mit der gleichzeitigen Aktivierung
voneinander weit entfernter Areale der Großhirnrinde verbunden ist. Für
verschiedenartige Erlebnisse werden unterschiedliche Areale aktiviert, auch
bei gleichen Erlebnissen sind die aktivierten Areale bei verschiedenen
Personen unterschiedlich. Dies zeigt deutlich, dass die Struktur des Gehirns
auch von den Lebenserfahrungen abhängt, das Bewusstsein aber stets
korreliert ist mit der gleichzeitigen Aktivierung weit voneinander
entfernter Areale der Großhirnrinde. Für die Aufrechterhaltung des
Bewusstseins sorgt hingegen eine in den evolutionsbiologisch ältesten
Teilen des Gehirns gelegene Region, die sog. Formatio reticularis. Diese
Region sorgt für das Einschalten des Bewusstseins im Wachzustand und für
das Ausschalten in der Phase des Tiefschlafes. Im REM-Schlaf ist das
Bewusstsein aktiv, aber von äußeren Reizen abgekoppelt. Bei Störungen in
dieser Region kommt es zum Koma.
In der Lernphase für bestimmte
Handlungen ist das Bewusstsein stets aktiv. Mit zunehmendem Training wird die
Anzahl der beteiligten Areale des Großhirns reduziert und die Aktivität beschränkt
sich auf die für die Ausführung der Handlung unbedingt erforderlichen
Schaltkreise. Wenn die Handlung zur Routine geworden ist, sind nur noch wenige
Schaltkreise daran beteiligt und die Handlung tritt aus dem Bewusstsein, wird
unbewusst.
Die Aktivität
der einzelnen Neuronen ist im Wachzustand und im Tiefschlaf nicht sehr
voneinander verschieden. Das wesentliche Merkmal eines ausgeschalteten
Bewusstsein besteht darin, dass dann alle Neuronen der Großhirnrinde synchron
feuern, so dass keine differenzierten Signale übertragen werden, während bei
aktivem Bewusstsein zahlreiche Neuronen nichtsynchron feuern und eine große
Vielfalt verschiedener Signale übertragen wird. Diese Vielfalt repräsentiert
einen großen Informationsgehalt.
- Die
Selektionstheorie neuronaler Gruppen macht 3 Hauptaussagen:
- In
der frühen Individualentwicklung wird der Aufbau und die Verschaltung der
Nervenzellen durch Gene und deren Vererbung bestimmt. Dabei entsteht ein
riesiges Repertoire von Schaltkreisen. (Entwicklungsselektion)
- Durch
Verhaltenserfahrungen werden die synaptischen Verbindungen das ganze Leben
hindurch verstärkt oder abgeschwächt, so dass aus dem ursprünglichen
Repertoire bestimmte Schaltkreise ausgewählt und verfestigt werden.
(Erfahrungsselektion)
- Durch
reentrante Verschaltung und Wechselwirkung wird die Aktivität ausgewählter
Gruppen von Neuronen synchronisiert, wodurch sensorische und motorische
Ereignisse räumlich und zeitlich koordiniert werden (Reentry)
Bei einer
bestimmten Reiz-Input-Situation ergeben die reentrant vernetzten Schaltkreise
eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Erzeugung eines Outputs (Degeneriertheit).
Unter dem Einfluss der Bewertungssysteme wird die Zahl der Möglichkeiten
reduziert und eine bestimmte Handlung selektiert. Dieser reentrante Vorgang
erzeugt das Bewusstsein.
- Das
Gedächtnis ist nichtrepräsentational, das heißt die Gedächtnisinhalte
sind nicht in einer Art Code abgelegt, der aufgerufen werden kann, um frühere
Situationen erneut exakt darzustellen. Gedächtnis ist vielmehr die Fähigkeit,
eine Handlung unter ähnlichen Bedingungen wiederholen zu können. Gedächtnis
besteht in der wiederholten Aktivierung einer Population paralleler
Schaltkreise, die einen ähnlichen Output erzeugen, der aber durch
inzwischen eingetretene Veränderungen an einigen Schaltkreisen modifiziert
ist. Das biologische Gedächtnis ist nicht streng replikativ, sondern hat
Eigenschaften, die es der Wahrnehmung erlauben, die Erinnerung zu verändern
und der Erinnerung ermöglichen, Wahrnehmung zu verändern.(siehe hierzu
auch Damasio)
- Erste
Voraussetzungen für die Entwicklung des Bewusstseins finden sich bereits
bei den niederen Wirbeltieren, die in der Lage sind, Wahrnehmungen zu
kategorisieren und zu Objekten und Ereignissen zu verbinden und diese zu
bewerten. Mit der Entwicklung der Vögel und Säugetiere bilden sich die
Strukturen der Gehirnanhänge und die Vernetzung aller Teile des Gehirns
durch reentrante wechselseitige Verbindungen, was als Voraussetzung für die
Entstehung des primären Bewusstseins anzusehen ist. Das primäre
Bewusstsein dieser Tiere ist als höchste Leistung in der Lage,
Gegenwartswahrnehmungen zu einer einheitlichen Szenerie zu verbinden und mit
Erinnerungen zu verknüpfen und zu bewerten. Erst der Mensch besitzt ein
Bewusstsein höherer Ordnung, das in der Lage ist, mit Begriffen zu
operieren, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden und mit dem
Selbstbewusstsein eine Vorstellung über sein eigenes Bewusstsein zu
erwerben.
- Eine
entscheidende Grundvoraussetzung für das Primärbewusstsein ist die Fähigkeit,
verschiedenartige Reize, die von einem Objekt ausgehen, zu integrieren und
als Objekteigenschaft zu interpretieren. Den Autoren ist es gelungen, diese
Fähigkeit in einem Computermodell zu simulieren. In Anlehnung an die
Anatomie und Physiologie der Netzhaut des Auges dienen als Input voneinander
unabhängige Sensoren für Farbe, Form und Lage eines Objektes. Die
gegenseitigen Verschaltungen zwischen diesen Systemen können durch ein
Bewertungssystem verstärkt werden. Das System hatte die Aufgabe, zwischen
einen grünen und einem roten Kreuz sowie einem roten Quadrat zu
unterscheiden, die durch eine automotorisch gesteuerte Kamera angeboten
wurden. In der Trainingsphase wurde das Bewertungssystems aktiviert, wenn
die Kamera auf das zu erkennende Objekt gerichtet war. Nach einer gewissen
Trainingszeit war das System in der Lage unter den gleichzeitig angebotenen
Objekten das richtige mit 95% Wahrscheinlichkeit auszuwählen. Vermittelt
wurde der Erkenntnisprozess durch die gleichzeitige Aktivierung der
beteiligten Sensorsysteme, in dem diese ein funktionales Cluster bildeten.
Derselbe Prozess spielt sich offenbar im thalamokortikalen System des
Gehirns ab.
Ein
funktionales Cluster wird dadurch definiert, das die zugehörigen Elemente
untereinander stärkere Wechselwirkungswahrscheinlichkeiten aufweisen als mit
den übrigen Elementen. Dies kann quantitativ durch Bestimmung der
Informationsentropie der Teilsysteme eines Gesamtsystems ermittelt werden.
Man erhält dann einen Clusterindex CI, der das Verhältnis der
Wechselwirkungwahrscheinlichkeiten innerhalb des Clusters zu denen der außerhalb
verbleibenden Elemente angibt. Auf diese Weise wird die Bildung funktionaler
Cluster durch Messungen am Gehirn experimentell nachgewiesen.
H(X)
= Informationsentropie des Gesamtsystems X
H(xi)
= Informationsentropie des Elementes i
I(X)
= Integriertheit des Systems X
I(X) = Σ H(xi)
– H(X)
I(X)
ist gleich Null, wenn die Zustände der Elemente statistisch unabhängig
voneinander sind
I(Xkj)
= Integriertheit des Teilsystems j aus k Elementen)
MI(X;X-
Xkj) = Wechselseitige Information des Teilsystems Xkj
mit dem Rest des Systems
MI(Xkj;X
- Xkj) = H(Xkj)
+ H(X-Xkj) - H(X)
Clusterindex
CI(Xkj) = I(Xkj) / MI(X;X- Xkj)
8.
Ein bestimmter Bewusstseinszustand des Gehirn ist durch die Bildung eines
funktionalen Clusters j zahlreicher aktivierter Neuronen k mit großem
Clusterindex CI charakterisiert. Es gibt Milliarden möglicher solcher Cluster
und damit ebenso viele mögliche Bewusstseinszustände. Die in einem bestimmten
Bewusstseinszustand enthaltene Information als Reduzierung der durch alle möglichen
Zustände gegeben Unsicherheit zur Gewissheit ist dann gegeben durch die Komplexität
des Gehirns. Der Bewusstseinsinhalt des gerade aktiven funktionalen Clusters
entspricht nach Ansicht der Autoren der oben definierten wechselseitigen
Information MI(Xkj;X-Xkj),
die die statistische Abhängigkeit des funktionalen Clusters von den übrigen
Teilen des Gehirns beschreibt. Der Bewusstseinsinhalt ist umso größer, je mehr
Neurone zum aktiven Cluster gehören und je stärker diese Neurone von den nicht
zum Cluster gehörenden abhängen. Die Gesamtheit der möglichen
Bewusstseinszustände charakterisiert die Komplexität des Gehirns. Für alle
Cluster j mit jeweils k zugehörigen Neuronen kann ein Mittelwert der
wechselseitigen Information <MI(Xkj;X
- Xkj)> bestimmt und über alle k aufsummiert werden,
um diese neurale Komplexität und damit die im Bewusstsein enthaltene
Information quantitativ abzuschätzen.
Mit
Simulationsmodellen unterschiedlicher anatomischer Verknüpfung und
unterschiedlicher Anregung der Elemente können verschiedene Arbeitsweisen eines
Gehirns simuliert werden, die sich in den Eigenschaften simulierter EEG äußern.
Bei wenig Wechselwirkung ist die Komplexität gering und das EEG zeigt nur
statistisch verteilte Aktiväten. Bei zufallsbedingten Verknüpfungen ist die
Komplexität auch gering, aber die Aktivität der Elemente synchronisiert sich
und das EEG bekommt Ähnlichkeit mit dem für Tiefschlaf und epileptische Anfälle
typischen Mustern. Bei gehirntypischen Verknüpfungen ist die Komplexität groß
und das simulierte EEG wird dem für REM-Schlaf ähnlich. Komplexität hängt
nicht nur von den anatomischen Verknüpfungen ab, sondern sinkt bei abnehmender
Rate der statistischen Aktivierung der Elemente, wie dies auch im Schlaf der
Fall ist. Das EEG zeigt dann lange synchronisierte Wellen wie im Tiefschlaf.
Wie die
Simulationen zeigen und wie wir alle wissen, kann unser Bewusstsein ab einer
gewissen Komplexitätsstufe auch ohne äußere Reize funktionieren und
Informationen verarbeiten. Die Komplexität des Gehirns kann aber nicht im
isolierten Zustand, sondern nur in Wechselwirkung mit einer hochkomplexen Außenwelt
entstehen. Dabei wird die im Laufe der Evolution entstandene, selektionierte und
vererbte Komplexität durch die aus der Wechselwirkung mit der Außenwelt
gewonnene Erfahrung weiter ausgebaut und der Komplexität der Außenwelt
angepasst. Dies erfolgt schrittweise, indem auch relativ geringe Informationen
aus der Außenwelt aufgenommen werden und zu größeren Umorganisationen des
komplexen inneren Systems führen. Deshalb lernen wir auch kleine Veränderungen
in einem bekannten Gebiet schneller als Zusammenhänge in einem völlig neuen
Gebiet und die scharfe Trennung zwischen Übermittlung und Speicherung von
Informationen verschwimmt. Auf einen neuen Reiz reagiert das Gehirn mit einer
Erinnerung der Vergangenheit und geht in der Verarbeitung weit über die damit
verbundene direkte Information hinaus. Die damit entstehenden Verknüpfungen führen
zu parallelen (degenerierten) Verschaltungszuständen für den gleichen
Bewusstseinsinhalt und erhöhen die Komplexität des Gehirns.
- Zur
Entstehung und Erklärung von Bewusstsein stellten die Autoren folgende
Hypothese auf:
·
Eine Gruppe von Neuronen kann dann und nur dann zur Entstehung von
bewusster Erfahrung beitragen, wenn sie Teil eines weiträumig organisierten
funktionalen Clusters ist, der durch reentrante Interaktionen im
thalamokortikalen System binnen weniger hundert Millisekunden ein hohes Maß an
Integration zu leisten vermag.
·
Ein solcher funktionaler Cluster muss hochdifferenziert sein, was in
einer hohen Komplexitätsmaßzahl zum Ausdruck kommt.
·
Ein solcher funktionaler Cluster bildet ein flexibles dynamisches Kerngefüge,
dem zeitabhängig unterschiedlich spezialisierte Neuronen zugehören, die nicht
durch ihre Lokalität, sondern durch ihre funktionale Aktivität ausgezeichnet
sind.
·
Bei unbewusst ablaufenden Vorgängen ist die
Anzahl der beteiligten Neuronen zu gering. Erst bei Hinzutreten weiterer
Neuronen und einer Erhöhung des Komplexitätsmaßes treten diese ins
Bewusstsein.
·
Die Bildung von Assoziationen und die Aufeinanderfolge der Gedanken wird
durch die Einbeziehung weiterer Neuronen und das Ausscheiden bislang aktiver
Neuronen aus dem flexiblen Kerngefüge bewirkt.
·
Bei Lernvorgängen reduziert sich die Anzahl der beteiligten Neurone bis
die routinierte Handlung unbewusst ausgeführt wird.
Die
vorgestellte Hypothese kann alle bisher erforschten Eigenschaften des
Bewusstseins erklären, für ihre endgültige Bestätigung
werden jedoch weitere experimentelle Untersuchungen mit den bekannten und
weiter zu verfeinernden Methoden (EEG, MEG, PET und KST) gefordert.
- Im
Rahmen o.g. Hypothese sind die Qualia, die speziellen Qualitäten der
subjektiven Erfahrungen wie Farbe,
Wärme, Schmerz, Geräusche, vorstellbar als Punkte in einem N-Dimensionalen
Raum, der aufgespannt wird von der Gesamtheit aller möglichen flexiblen
Kerngefüge. Ausgehend von den gleich bei der Geburt vorhandenen körperlichen
Empfindungen werden durch die Wirkung zunehmender Reizerfahrungen aus der Außenwelt
laufend neue Dimensionen des Empfindungsraumes herausdifferenziert, in denen
sich fürderhin das flexible Kerngefüge des Bewusstsein bewegen und
unterschiedliche Bewusstseinszustände realisieren kann. Bewusste
Erfahrungssammlung und Aufbau des Gedächtnisses sind somit eng miteinander
verknüpft.
- Das
flexible Kerngefüge besitzt Eingangs- und Ausgangsportale, über die
monodirektionale Verknüpfungen zu den motorischen oder sensorischen
Hirnrindenzentren laufen, die routinemäßig ablaufende Bewegungen und
routinemäßige Verarbeitungen von Sinnesreizen steuern. Wegen der nur
monodirektionalen Verbindungen gehören diese nicht zum flexiblen Kerngefüge
und bleiben unbewusst. Über derartige Portale werden auch andere unbewusst
arbeitende Zentren für Sprechen, Denken, Planen und ähnliche Leistungen
gesteuert, deren Ergebnisse erst nach dem Durchlaufen mehrerer synaptischer
Zwischenschritte an das flexible Kerngefüge zuruckgemeldet werden. Bei
einem komplizierten Lernprozess werden mehrere solcher unbewusst ablaufender
Routinevorgänge über das flexible Kerngefüge miteinander verknüpft. Nach
mehrmaliger bewusster Ausführung einer solchen Handlung verstärken sich
die synaptischen Verknüpfungen der unbedingt erforderlichen
Schaltkreise und isolieren sich damit von den übrigen Schaltkreisen
des flexiblen Kerngefüges, bis sie nicht mehr dazugehören und der
ablaufende Prozess aus dem Bewusstsein verschwindet. Der Ablauf des
eingelernten Prozesses wird normalerweise später durch ein Ausgangsportal
des flexiblen Kerngefüges ausgelöst. Bei psychischen Störungen wie z.B.
Zwangsneurosen wird der Prozess durch Fehlsignale gehäuft ausgelöst und führt
zu den beobachteten Krankheitsbildern. Andere psychische Erkrankungen könnten
durch Aufspaltung des flexiblen Kerngefüges in mehrere mehr oder weniger
isolierte und aktivierte Teilkerne erklärt werden.
- Bereits
höhere Tiere besitzen ein Primärbewusstsein, das im wesentlichen alle
Sinnesempfindungen der Gegenwart zu einem einheitlichen Erlebnis verbindet,
in das frühere Erlebnisse automatisch integriert sind. Das Primärbewusstsein
ist jedoch nicht in der Lage, vergangene Erlebnisse von gegenwärtigen zu
unterscheiden und Projektionen in die Zukunft zu erzeugen. Diese Leistungen
vermag erst das erstmalig beim Menschen in Erscheinung tretende sog. Höhere
Bewusstsein zu erbringen, das aber bereits ein entwickeltes Primärbewusstsein
zur Voraussetzung hat. Bereits das Primärbewusstsein kann
Sinneswahrnehmungen kategorisieren und damit die Vorstufe einer Begriffswelt
erzeugen, aber erst die soziale und affektive Kommunikation der Menschen
miteinander, die damit verbundene Entwicklung der Sprache, der
Begriffssymbole und einer besonderen Region des Gehirn, in der die
Bearbeitung der Sprache erfolgt, ermöglicht ein höheres Bewusstsein, das
nicht nur Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden vermag,
sondern auch die Bildung abstrakter Begriffe gestattet und zur Erkenntnis
des anderen Menschen als eines ebenbürtigen Lebewesens und damit auch zum
Selbstbewusstsein, zum Erkennen des eigenen Bewusstseins führt.
- Trotz
aller Fortschritte der Neurowissenschaften wissen wir noch nicht genau, was
bei der Formulierung von Gedanken im einzelnen im Gehirn vor sich geht.
Einbezogen sind beim Denken jedenfalls abwechselnd große Teile der Großhirnrinde,
die sich zu einen flexiblen Kerngefüge verbinden, in das auch das Sprach-
und Begriffszentrum integriert ist, bei weitem aber nicht gleichzeitig das
gesamte Gehirn. Ausgelöst wird das Denken normalerweise durch Aktivitäten
des Primärbewusstseins in Zusammenhang mit seiner Wechselwirkung mit den
Sinnesorganen. Obwohl Denken stets ein bewusster Vorgang ist, wird es von
unbewussten Routinehandlungen und emotionalen Prozessen erheblich
beeinflusst.
- Die
Aufklärung der Arbeitsweise des Gehirns, wie das Gehirn Information
verarbeitet, steht in engem Zusammenhang mit der Frage, was Information
überhaupt ist. Wenn wir den Ausdruck Information für die Beschreibung
eines Naturzustandes völlig unabhängig von einem menschlichen Beobachter
– gewissermaßen aus göttlicher Perspektive – verwenden wollen, dann
ist Information per definitionem objektiv. Wird Information aber auf eine
Weise definiert, die einen historischen Prozess voraussetzt, an dem entweder
ein Gedächtnis oder ein erblicher Zustand beteiligt ist, dann kann sie erst
mit dem Ursprung des Lebens entstanden sein. Es hat den Anschein, als
bevorzugen die Autoren die 2. Definition, womit auch der Begriff der
Information eine etwas andere Bedeutung erhält und mit
Informationsaustausch verwechselbar wird. Sein kommt dann vor dem
Beschreiben und Information ist Beschreibung.
Eine ähnliche
Unschärfe zeigt sich im Verhältnis zwischen Selektion und Logik. Die Autoren
postulieren: Selektion kommt vor Logik. In der Natur ist Selektion der einzige
Richter, der Entscheidungen trifft, die nicht immer logisch sind, weil Logik
eine Erfindung des Menschen sei, die nicht immer zutrifft. Die Natur trifft
durch Selektion Entscheidungen auch dort, wo es keine logischen Begründungen
gibt. Zufall kommt vor Teleologie, das Gehirn arbeitet nicht nach den
Algorithmen der Logik, sondern durch Prozesse der Selektion.
Philosophische
Postulate der Autoren:
·
Es gibt eine reale Welt, die sich durch physikalische Gesetze beschreiben
lässt
·
Es hat eine Evolution stattgefunden, der Geist geht aus ihr hervor und
ist daher Bestandteil der Natur
·
Weder dualistische Trennung von Materie und Geist noch reduktionistische
Ableitung des Geistes aus der Quantenmechanik, wie dies Penrose versucht, sind mit dem evolutionären
Grundprinzip verträglich
·
Bewusstsein und unser Wissen um die reale Welt entsteht als Ergebnis der
physikalischen, psychologischen und sozialen Interaktionen unseres Geistes und
unseres Körpers mit dieser Welt. Diese Interaktionen bestehen aber nicht in
einem direkten Informationstransfer und unsere Wahrnehmungen stimmen nur
eingeschränkt mit den tatsächlichen Qualitäten der wahrgenommenen Objekte überein,
weil unsere Mittel zur Wahrnehmung nur von begrenzter Reichweite sind.
·
Die Erkenntnistheorie muß den evolutionär
entstandenen Möglichkeiten, Gegebenheiten und Erfordernissen Rechnung tragen,
d.h. dass wir das Wissen erwerben können, das wir brauchen und demzufolge auch
unser eigenes Bewusstsein wissenschaftlich erforschen können. Da die materielle
Grundlage des Geistes ein individuelles, jeweils einzigartiges Gehirn ist, sind
dem jedoch gewisse natürliche Grenzen gesetzt-
·
Bewusstsein ist nichts passives, sondern wirkt als physikalischer Prozess
auf die Gestaltung der realen Welt zurück.
November 2004
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