Zeit
Von der Urzeit zur Computerzeit
Eine Betrachtung von Klaus Mainzer
Einleitung
Den allgemeinen Zusammenhang aller Natur- und Geisteswissenschaften stellt Klaus Mainzer anhand einer Untersuchung des Zeitbegriffs und seiner unterschiedlichen Bedeutungen in den verschiedenen Wissenschaften heraus. Deutlich werden hierdurch die fachübergreifenden Gemeinsamkeiten und die Widersprüche, die den gegenwärtigen Stand unserer Welterkenntnis repräsentieren. Zeitpfeil und periodische Zeitabläufe durchdringen einander und bilden wesentliche Elemente der Selbstorganisation und Evolution, woraus sich die relevante Einordnung dieser Problematik in meine Betrachtungen zur Theorie der Evolution wie von selbst ergibt und sowohl zur ähnlichen Schlussfolgerungen wie auch zu weitergehenden Betrachtungen führt. (siehe hierzu auch Fahr)
Zeit im antiken und mittelalterlichen Weltbild
Das Zeitbewusstsein des Menschen entwickelte sich bereits in der Antike zu beachtlichen Höhen. Bis ins Mittelalter spielten dabei vor allem das Verständnis zyklischer Vorgänge, die Beobachtung astronomischer Erscheinungen und ihre Auswertung zur Beherrschung jahreszeitlicher Vorgänge eine wesentliche Rolle. Aber bereits in der Philosophie der alten Griechen wurde auch der prinzipielle Unterschied der durch festgelegte Fakten charakterisierten Vergangenheit und der Offenheit der Zukunft mit ihren unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten artikuliert. Kulturell unterschiedliche, aber immer genauer werdende Kalender und Uhren wurden zu Grundlagen der Zeitmessung.
Zeit im Weltbild der klassischen Physik
Im Zeitalter der Newtonschen Mechanik wurde die Zeit als einheitliche, in gleichförmig einander folgende Abschnitte unterteilte absolute Zeit postuliert und alle klassischen wissenschaftlichen Untersuchungen auf diese Festlegung bezogen. Man muss sich darüber im klaren sein, dass der gleichförmige Ablauf der Zeit, wie schon Kant erkannte, eine rein gedankliche Konstruktion ist und empirisch nicht überprüft werden konnte. Diese Definition ist grundlegend für die Beschreibung aller physikalischen Vorgänge und hat sich in unserem Denken fest verwurzelt. Aus dieser Festlegung resultieren die grundsätzlichen Schwierigkeiten beim Verständnis der Relativitätstheorie.
Relativistische Raumzeit
Mit der empirisch festgestellten Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wurde die Newtonsche Konstruktion einer absoluten Zeit vernichtend widerlegt und ihre Abhängigkeit von Ort, Geschwindigkeit und Gravitation mit der Einsteinschen Relativitätstheorie auf eine neue Grundlage gestellt. Der lineare, gleichförmige Verlauf der Zeit steht mit dieser Theorie in grundsätzlichem Widerspruch, da sich aus letzterer kosmologische Modelle ergeben, die in einer Singularität einen Anfangspunkt der Zeit voraussetzen (Urknall). Allerdings steht die Annahme einer Raum-Zeit-Singularität in grundsätzlichem Widerspruch mit der derzeitigen Quantentheorie, der noch einer Auflösung harrt. Alle Gesetze der Relativitätstheorie (wie auch der klassischen Mechanik) sind zeitsymmetrisch, erlauben also eine Zeitumkehr und damit auch ein Ende der Zeit in einer Singularität. Sie können damit keine reduktionistische Begründung für den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft und für die Selbstorganisation und Evolution liefern.
Zeit und Quantenwelt
In der derzeitigen Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie ist das Problem der Zeitsymmetrie noch nicht abschließend geklärt. Einerseits sind die Quantengleichungen zeitsymmetrisch, gestatten also die Zeitumkehr. Andererseits trennen in der Gegenwart stattfindende Messvorgänge Vergangenheit und Zukunft der Systeme in einer irreversiblen Weise. Man erhofft von einer Vereinigung der Quanten- mit der Relativitätstheorie eine Klärung dieses Problems, die Vereinigung beider Theorien zu einer einheitlichen Quantengravitationstheorie ist aber noch nicht gelungen, obwohl es erste Ansätze von Hawking zu einer solchen Theorie gibt.
Zeit und Thermodynamik
In einem thermodynamischen Gleichgewichtszustand gibt es keine zeitlichen Veränderungen, es gibt damit keinen Zeitpfeil und man kann einen Lauf der Zeit oder eine bestimmte Zeitrichtung überhaupt nicht feststellen. Da in unserem, gut untersuchten Teil des Universums der 2. Hauptsatz der Thermodynamik gilt, der eindeutig eine Zeitrichtung festlegt, nämlich durch das ständige Anwachsen der Entropie, gibt es nur 2 mögliche Schlussfolgerungen: Entweder hat die Entwicklung des Kosmos mit einem extrem geordneten Zustand begonnen, der weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht war, oder wir leben in und kennen nur einen Teil des Universums, der sich sehr weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewichtszustand befindet.
In der Nähe des thermodynamischen Gleichgewichtszustandes strebt ein System gleichmäßig dem Gleichgewichtszustand zu. In großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewichtszustand gibt es starke Energieströme, unter deren Einwirkung es zu Symmetriebrüchen und zur Selbstorganisation komplexer Systeme kommt, innerhalb deren Grenzen eine Verminderung der Entropie möglich ist und ein Entropieexport nach außerhalb des Systems stattfindet. Genau unter diesen Bedingungen verstärkt sich die Unsymmetrie, entsteht Emergenz und kommt es zur Evolution des Systems. Verbunden mit der Evolution dieses Systems entsteht ein eindeutig gerichteter Zeitpfeil, die Zeitumkehrsymmetrie ist verletzt und der Ablauf der Zeit ist fernerhin mit der Evolution des Systems verbunden, bis es möglicherweise zugrunde geht, d.h. seine weitere Evolution einstellt, womit auch seine "interne" Zeit zu Ende ist.
Zeit und Leben
Die Evolution des Lebens erweist sich als irreversible Zeitentwicklung komplexer dissipativer Systeme, die im Rahmen der Thermodynamik des Nichtgleichgewichts als Symmetriebrechung verstanden werden kann. In Übereinstimmung mit der Thermodynamik offener, dissipativer Nichtgleichgewichtssysteme vollzieht sich die Evolution des Lebens von der molekularen, präbiotischen Ebene zu immer höherer Komplexität durch Mutation als Fluktuation, Konkurrenz und Selektion entsprechend der von Darwin vorgezeichneten Linien bis in den sozialen Bereich, der z. B. durch Ameisenstaaten charakterisiert werden kann. In den höheren Organismen kommt es zur Ausbildung verschiedener Organe, die in unterschiedlichen biologischen Zeitrhythmen selbstorganisatorisch ihre Funktionen zur Versorgung des hierarchisch organisierten Gesamtsystems erfüllen.
Zeit und Bewusstsein
Das Phänomen des Zeitbewusstseins hängt eng mit der Dynamik von Bewusstheitszuständen des Gehirns zusammen. Bewusstsein wird als globaler makroskopischer Ordnungszustand von neuronalen Verschaltungsmustern verstanden, die durch lokale mikroskopische Wechselwirkungen in komplexen Neuronennetzen des Gehirns entstehen. Eine entscheidende Leistungsfähigkeit, die das Gehirn in seiner stammesgeschichtlichen Evolution erworben hat, besteht in der selbständigen synaptischen Verknüpfungen von Neuronen. Diese selbständigen Modifikationen ermöglichen die Lernfähigkeit des Gehirns. Häufig gemeinsam aktivierte Neuronen verstärken ihre synaptischen Verbindungen untereinander. Dadurch entstehen Aktivitätsmuster, die einer Korrelation von Außenweltsignalen entsprechen. Beim Lernen werden Verbindungen zwischen Neuronen und vernetzten Neuronengruppen hergestellt. Eine gelernte Gedankenassoziation ist ein zeitlich geronnenes Korrelationsmuster. Die Emergenz des Bewusstseins entsteht durch die zeitliche Integration von wahrgenommenen Ereignissen zu Wahrnehmungs- und Empfindungsgestalten, wobei die zeitliche Integrationskraft auf einen "Augenblick" von ca. 3 Sekunden begrenzt ist. Das Bewusstsein eines Ablaufs der Zeit entsteht aus der Aneinanderreihung solcher 3-Sekunden-Augenblicke. Lernvorgänge in neuronalen Netzen können grundsätzlich auch in Computern simuliert werden. Ob auf diesem Wege auch einmal eine neuronale Selbstorganisation technisch möglich werden könnte, die zu Systemen mit Bewusstsein und insbesondere Zeitbewusstsein führt, kann prinzipiell nicht ausgeschlossen werden. Allerdings hätten diese Systeme nicht unser menschliches Zeitbewusstsein, das von der inneren Zeit unserer biologischen und soziokulturellen Evolution bestimmt ist. Durchschaubar werden in diesen Modellen nur die Gesetzmäßigkeiten mentaler Prozesse und ihre Abhängigkeit von neuronalen Vorgängen im Gehirn, nicht aber der individuelle Gedanke oder das intime Gefühl.
Zeit in Geschichte und Kultur
Historische Kulturen entwickelten ebenso wie Individuen unterschiedliche innere Zeiten ihrer Entwicklung. Daher wurden von Geschichtsphilosophen unterschiedliche Zeitmodelle diskutiert, um Geburt und Untergang historischer Kulturen zu erklären. Die Theorie komplexer Systeme erlaubt auch die Modellierung der Entwicklungsdynamik sozialer und ökonomischer Systeme. Damit werden wenigstens Aspekte von irreversiblen Zeitentwicklungen menschlicher Gesellschaften mit analogen Methoden analysierbar wie physikalische und biologische Prozesse. Das bedeutet jedoch keinen naturalistischen Reduktionismus. Die Zeit in historischen und technisch –industriellen Kulturen erweist sich als neue Emergenzstufe der biologischen und soziokulturellen Evolution.
So wie in der Physik die Grundauffassungen der klassischen Mechanik und Thermodynamik mit ihren zyklischen Bewegungen und Gleichgewichtszuständen in linearisierten Systemen abgelöst wurden von den modernen Auffassungen der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und der Thermodynamik der Nichtgleichgewichtszustände in komplexen, nichtlinearen Systemen, so müssen in den ökonomischen Theorien die linearen Modelle der Kreislaufwirtschaft und der Regelung des Marktes durch Schwankungen um Gleichgewichtszustände und lineare Wachstumsgesetze ersetzt werden durch nichtlineare Modelle offener Systeme, die in ständiger Wechselwirkung mit anderen Märkten und mit der Natur stehen, Fließgleichgewichte, chaotische Entwicklungen und dissipative Selbstorganisation erzeugen. Aus der Sicht dieser neuen Theorien wird das zeitliche Verhalten menschlicher Gesellschaften durch die Evolution von makroskopischen Ordnungsparametern erklärt, die durch nichtlineare Wechselwirkungen von Menschen und Untergruppen auf der Mikroebene verursacht werden. Städte, Institutionen, Betriebe und Verwaltungen können ihre eigenen Zeitrhythmen entwickeln, die an biologische Organismen erinnern.
Die Parallele politischer Zeitanalyse mit Zeitbegriffen der Physik ist auffallend. Vom 17. Bis 19. Jahrhundert ging die klassische Physik Newtons noch von einer absoluten Zeit des Universums aus, auf die alle Uhren im Prinzip mit absoluter Gleichzeitigkeit eingestellt werden könnten. Nach Einstein gibt es jedoch nur die relativen Eigenzeiten der jeweiligen physikalischen Bezugssysteme. Die Annahme einer universalen Zeit erweist sich als Illusion. In ähnlicher Weise gibt es heute im Bereich der Politik und Wirtschaft keinen universalen Zeitmaßstab mehr, sondern viele politische Teilsysteme, wie Parlamente, Verwaltungen und Regierungen bilden eigene Zeitperioden aus, die sich mit individuellen Zeitvorstellungen von handelnden Politikern, Zeitrhythmen der Natur und Konjunkturzyklen der Wirtschaft überschneiden.
Besonders deutlich wird der selbstorganisatorische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung am Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Diese Entwicklung erfolgt keineswegs zentralgesteuert, vielmehr bilden sich Ordnungsparameter quasi durch Selbstorganisation in einem scheinbaren Chaos von Informationsträgern aus. Offensichtlich besitzen Computer- und Informationsnetze Eigenschaften sozialer und biologischer Organisationen. Es sind offene komplexe Systeme, deren nichtlineare Wechselwirkungen unterschiedliche Gleichgewichtssituationen ansteuern. Sie reichen von homogenen Endzuständen über oszillierende Schwankungen bis zum Informationschaos. Der Wettbewerb von Informationseinheiten scheint durch sich selbst organisierende Marktmechanismen bestimmt, die an ökonomische Systeme erinnern.
Während biologische Systeme auf Gene und Mutationen als Replikatoren und Variationsmechanismen zurückgreifen, liegen ökonomischen Systemen einzelne Firmen, Erfinder und Marktmechanismen zu Grunde. Die Replikatoren menschlicher Kulturen sind Informationsmuster, die in frühen Stadien durch Imitation von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation weitergeleitet wurden. In Analogie zu biologischen Genen spricht man hier von Memen, die Ideen, Glauben, Meinungen, Verhaltensweisen, Moden, Techniken u. ä. umfassen. Replikatoren menschlicher Kulturen sind nicht die Individuen, die unter den Bedingungen biologischer Lebenserwartung ausscheiden, sondern die von ihnen entwickelten Meme, die über Generationen hinweg weiterexistieren. Diese Meme haben andere Eigenzeiten als die Menschen und können sich in Informationssystemen eigenständig weiterverbreiten. Mit den darauf aufsetzenden Spekulationen über die Weiterentwicklung der Computerwelt sind die Grauzonen des gegenwärtigen Zeithorizontes der Menschheit erreicht.