Die Krise des Wissens

(aus dem Vortrag von Jürgen Mittelstraß zum Leibniztag 2001 der Leibniz-Sozietät e.V. am 28.6.)

Die Krise des Wissens in der heutigen Gesellschaft zeigt sich in folgenden 5 Aspekten:

  1. Angebliche Entwertung des Wissens

Die scheinbar immer schnellere Entwertung des Wissens kommt nicht dadurch zustande, dass das einmal gewonnene Wissens tatsächlich entwertet wird, sondern dadurch, dass immer schneller neues Wissen gewonnen und somit das alte Wissen nur noch einen immer kleineren Bruchteil des gesamten Wissens ausmacht (Halbwertszeit des Wissens = 5 Jahre = Verdopplungszeit des Wissens). Dabei wird jedoch die Bedeutung des neuen Wissens und die tatsächliche Fähigkeit künstlicher Intelligenz teilweise stark überschätzt. Die science fiction eines Ray Kurzweil sei keineswegs science reality und noch völlig offen. Mittelstrass bezweifelt es, dass die Menschheit ihre eigene Außerkraftsetzung durch eine Maschinerie zulassen wird.

  1. Wissen als Ware

Wissen wird immer weniger als Erkenntnisgewinn des Forschenden und immer mehr als Ware betrachtet, die man anbieten und verkaufen kann. Das verschiebt die Relationen zwischen Orientierungswissen und Anwendungswissen und erzeugt eine Kluft zwischen dem Forschenden und dem Wissenschaftsmanager und führt zu unrealistischen Erwartungen hinsichtlich der Fähigkeiten der Wissenschaft.

  1. Wissen und Information

Immer häufiger wird Wissen mit Information verwechselt. Information ist aber nur zum Teil zuverlässiges Wissen. Information ist zum größten Teil fehlerhaftes Wissen, bewusste Täuschung, Irreleitung, Unterhaltung und Müll. Die Informationsgesellschaft ist keine Wissensgesellschaft, sie hält den Computer und das Internet für eine Quelle des Wissens, aber sie interessiert sich nicht dafür, wie das Wissen in den Computer hineinkommt. Früher musste Wissen von jedem mühsam erarbeitet werden und war deshalb im Kopf zuverlässiges, überprüftes Wissen. Wissen aus dem Computer kann nicht überprüft und muss deshalb geglaubt werden. Dadurch kommt der Erkenntnisprozess ins Hintertreffen.

  1. Falsche Definition von Forschung

Während Forschung im eigentlichen Sinne nur der schöpferische Prozess der Entdeckung und Erarbeitung von Neuem ist, versteht man heute unter Forschung den gesamten Wissenschaftsbetrieb an Universitäten und Instituten von der Beschaffung und Verwaltung von Informationen bis zur Vermarktung des Wissens. Von der Verwässerung dieses Begriffs ist auch die Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung betroffen, wenn man einmal vom Gegenstand her unter Grundlagenforschung die Hochenergiephysik und die Kosmosforschung versteht, andererseits Grundlagenforschung von der Zielstellung her als reinen Erkenntnisgewinn von der Anwendungsforschung als vermarktbarer Produktforschung unterscheiden möchte. Diese innerhalb der Wissenschaften selbst nicht bereinigte Begriffsunschärfe trägt dazu bei, dass in der Gesellschaft insgesamt kein klares Bild über Rolle und Bedeutung der Forschung besteht und sich falsche Auffassungen verbreiten.

  1. Forschungsverbote

Forschung im eigentlichen Sinne ist, auf welchem Gebiet auch immer, stets ein schöpferischer Prozess, der per definitionem zu Ergebnissen führt, die im vorhinein nicht voraussagbar sind. Forschungsverbote aus angeblich höheren Ebenen der Ethik heraus, wie z.B. ein Verbot der Genforschung, sind deshalb immer ein Anachronismus, der lediglich anzeigt, dass die zugrundeliegende Ethik den Evolutionsgedanken nicht in sich aufgenommen hat oder den Begriff der Forschung total missversteht. Mit Forschungsverboten kann der Wissenschaftler nicht seiner ethischen Verantwortung für die Anwendung seiner Forschungsergebnisse enthoben werden, im Gegenteil ist die humanistische Ethik aufgerufen, den evolutionären Fortschritten und Möglichkeiten der Menschheit gerecht zu werden und mit entsprechenden Fortschritten zu reagieren. Die gegenwärtige konträre Diskussion dieser Thematik zeigt die Dringlichkeit der Lösung dieser Problematik. (Siehe hierzu auch Markl)