Physik der Welterkenntnis

(nach David Deutsch)

  1. Das Gewebe der Wirklichkeit

Welterkenntnis besteht nicht darin, alles Wissen der Welt im Kopf zu haben, sondern Theorien zur Erklärung des Weltzusammenhanges zu besitzen. Dabei kommt es nicht darauf an, nur eine Theorie zu haben, die alle Erscheinungen genau vorhersagen kann, sondern sie muss diese auch aus einem Zusammenhang heraus erklären können.

Während der Instrumentalismus sich damit begnügt, wenn eine Theorie richtige experimentelle Aussagen machen kann, behauptet der Positivismus darüber hinaus sogar die Sinnlosigkeit aller experimentell nicht nachprüfbaren Aussagen und Erklärungen.

Die Wissenschaft kommt vielfach zu Erklärungen, indem sie die zu erklärenden Dinge in Komponenten zerlegt, die bereits erklärt und verstanden sind. Diese reduktionistische Auffassung führt zu einer hierarchischen Klassifizierung der Wissenschaftsbereiche, bei der die höheren Wissenschaften aus den elementareren abgeleitet werden. Dieses reduktionistische Programm lässt sich auf den höheren Stufen aber nur im Prinzip anwenden, weil mit zunehmender Komplexität emergente Erscheinungen auftreten, die grundsätzlich nicht aus den elementareren erklärt werden können. So ist zwar die Physik und besonders die Quantentheorie die Grundlage für das Verständnis vieler höherer Wissenschaften, aber daneben treten emergente Wissenschaftsbereiche, wie vor allem die Evolutionstheorie, die Erkenntnistheorie und die Berechnungstheorie, die nicht auf rein physikalische Prinzipien reduziert werden können und die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten besitzen. Ein universelles Verständnis der Wirklichkeit ist nur auf der Grundlage des Zusammenwirkens dieser vier Theorien zu erreichen.

  1. Die Erklärung der Quanteneffekte

Deutsch erklärt den Teilchen – Welle – Dualismus der Quantentheorie durch die Einführung eines Multiversums, d.h. einer Wirklichkeit, in der es viele Universen gibt, die sich nur wenig voneinander unterscheiden, in denen unterschiedliche Prozesse ablaufen, die nur dann sichtbar werden, wenn sie miteinander interferieren. Die Interferenz eines Elementarteilchens mit sich selbst ist zweifellos eine experimentell belegbare Tatsache und die Quantentheorie kann die Ergebnisse eines Experimentes voraussagen, wenn man mit statistischen Mittelwerten zufrieden ist. Aber der Ort, an dem ein Lichtquant beobachtet wird, kann eben nicht genauer vorhergesagt werden, als es die Heisenbergsche Unschärferelation angibt. Hierfür gibt es mehrere Erklärungen, die nicht direkt aus den Experimenten ableitbar sind, sondern zusätzliche Annahmen erfordern. Deutsch behauptet zwar, die Experimente könnten nur durch die Annahme paralleler Universen erklärt werden, aber beweisen kann er das nicht. Die Annahme einer Wellenfunktion eines Teilchens, deren Amplitudenquadrat dessen Aufenthaltswahrscheinlichkeit angibt, erklärt die Experimente in gleicher Weise, aber diese "Erklärung" will Deutsch nicht anerkennen. Die Tatsache, dass der genaue Aufenthaltsort statistischen Charakter hat, wird durch keine der beiden Erklärungen aufgehoben, denn im Multiversum tritt das virtuell in allen parallelen Universen vorhandene Teilchen ebenfalls nur statistisch zufällig in einem dieser Universen real auf. Also den objektiven Charakter des Zufalls muss man schon anerkennen, die Akzeptanz dieser oder jener Erklärung aber ist subjektiv.

Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung: Mit Hilfe der Quantentheorie ist der Mensch wohl in der Lage, reale Eigenschaften der Welt objektiv zu erkennen, aber darüber hinausgehende Erklärungen sind subjektiv. Man darf der Welt keine Eigenschaften andichten, die sie nicht hat. Strenger Determinismus ist eben nicht vorhanden. Unterstellt man ihn trotzdem, so kann man ihn nicht erkennen und kommt zum Positivismus. Es ist nicht unbedingt erforderlich, die Erklärung einer Theorie experimentell zu beweisen, das wäre Instrumentalismus. Aber wenn man sie auch nicht logisch beweisen kann, hat eben jeder eine andere Erklärung. Ich erkläre mir die Quanteneffekte nach der Kopenhagener Deutung der statistischen Wellenfunktion. In dieser Deutung enthält das Multiversum alle vorhandenen Möglichkeiten, das reale Universum die realisierten und die virtuellen Universen die nicht realisierten Möglichkeiten der Welt.

  1. Erklärung kontra Induktion

Keine Theorie kann durch Übereinstimmung mit noch so vielen Beobachtungstatsachen endgültig bewiesen werde. Dennoch kann ihre Anwendung gerechtfertigt sein, wenn es keine andere Theorie gibt, die ebenfalls alle diese Beobachtungstatsachen voraussagt, aber besser, d.h. logisch einfacher erklärt.

Warum erkennt Deutsch nicht, dass die Theorie des Multiversums zwar die Beobachtungstatsachen erklärt, aber komplizierter ist als die Kopenhagener Deutung, die ansonsten das gleiche leistet? (siehe hierzu auch Gell-Mann)

  1. Kriterien der Wirklichkeit

Beobachtungstatsachen könnten uns auch durch unsere Sinnesorgane vorgetäuscht werden. Erst wenn sie durch eine Theorie erklärt werden können und wenn auch die einfachste Erklärung eine komplexe und autonome Struktur zu ihrer richtigen Voraussage und zu ihrer Rekonstruktion erfordert, dürfen wir annehmen, dass sie auch wirklich existieren. (Einfacher, klarer und zutreffender wird dieser Sachverhalt durch die marxistische These "Das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis" ausgedrückt.)

  1. Virtuelle Realität

Vom gegenwärtigen Stand der Technologie abgesehen ist es prinzipiell möglich, einen Computer zu bauen und so zu programmieren, dass er alle Sinneserfahrungen eines Menschen simuliert und ihm übermittelt. Ein solcher Computer wäre dann in der Lage, die gesamte physikalische Umwelt einschließlich ihrer möglichen Reaktionen auf menschliche Handlungen zu simulieren. Es wäre sogar möglich, physikalisch unmögliche Umwelten zu simulieren. Ein solcher Computer erzeugt eine virtuelle Realität, die ein Mensch nicht von der Wirklichkeit unterscheiden könnte. Dieser Computer macht also genau dasselbe wie das Gehirn, das ebenfalls in unserem Bewusstsein eine virtuelle Realität erzeugt, die wir nicht von der Wirklichkeit unterscheiden können.

  1. Grenzen der Berechnung

Es lässt sich beweisen, dass ein physikalisch realisierbarer universeller Computer (Turing-Maschine) im Prinzip jede beliebige physikalisch mögliche Umwelt simulieren kann. Obwohl es theoretisch unendlich viele physikalisch mögliche Umwelten geben könnte, können daraus beliebig viele weitere logisch mögliche Umwelten konstruiert werden. Diese logisch möglichen Umwelten können aber prinzipiell nicht auf einem physikalisch möglichen universellen Computer simuliert werden, sie sind also nicht berechenbar, während alle physikalisch möglichen Umwelten berechenbar sind. Die Wirklichkeit ist also immer berechenbar und deshalb ist es auch logisch möglich anzunehmen, dass unser Gehirn in der Lage ist, eine virtuelle Realität zu simulieren, die mit der Wirklichkeit identisch ist, auch wenn das nicht positiv bewiesen werden kann.

  1. Leben ist verkörpertes Wissen

Der Unterschied zwischen der unbelebten und der belebten Natur besteht darin, das Leben nicht zufällig strukturiert ist, sondern seine Strukturen durch Selektion zufälliger Mutationen entstanden sind und das während der Evolution erworbene Wissen über die wesentlichen Eigenschaften seiner Umweltnische enthalten. Dieses Wissen ist in den Genen und Memen codiert und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Leben kann die Eigenschaften seiner Umweltnische berechnen und hat deshalb wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft stärkeren Einfluss auf die Entwicklung des Weltalls als die unbelebte Natur.

  1. Quantencomputer

Die Beschreibung eines Quantencomputers ist weitgehend unklar. Deutsch behauptet folgende Eigenschaften eines Quantencomputers:

Ich habe den Eindruck, dass nur die Leute an den Quantencomputer glauben, die den Zufallscharakter der Quantenphänome auf verborgene Parameter zurückführen wollen. Trotz vielem Gerede, was man alles mit ihm anfangen könnte, wenn es ihn gäbe, ist es Deutsch nicht gelungen, mir eine realistische Vorstellung über ein solches Gerät zu vermitteln.

  1. Das Wesen der Mathematik

Mathematische Wahrheiten sind Bestandteil der (erweiterten) Wirklichkeit, aber sie sind von Menschen geschaffen und als solche eindeutig Bestandteil der Popperschen Welt 3. Da die Mathematik ausschließlich mit Abstraktionen operiert, sind die mathematischen Erkenntnisse als Beziehungen zwischen Abstraktionen, abgesehen von möglichen Irrtümern, absolut wahr. Abstraktionen sind aber nicht identisch mit konkreten Objekten der physikalischen Realität.

Die Beweistheorie wurde lange Zeit als Bestandteil der Mathematik betrachtet, es gelang aber nicht die von Hilbert geforderte Vollständigkeit der Beweismethoden zu beweisen, sondern im Gegenteil zeigte Gödel deren prinzipielle Unvollständigkeit. Hieraus folgt, das die Beweistheorie nicht Bestandteil der Mathematik ist, sondern der menschlichen Einsicht in ihre Erklärungen bedarf. Das stellt einerseits eine Verbindung der Mathematik mit der physikalischen Realität her und bedeutet andererseits, dass die Mathematik nicht abgeschlossen und ständig weiterentwicklungsfähig ist. Damit wird auch die Platon’sche Vorstellung vom Primat einer Welt der Abstraktionen, deren Schatten die konkreten Objekte sein sollen, unglaubwürdig, es sei denn, diese Abstraktionen würden unmittelbar in die Gehirne projiziert. Die Evolution müsste sich dann nicht real, sondern nur in der Welt der Abstraktionen abgespielt haben, das hieße aber Anerkennung eines reinen Idealismus und wäre nicht die einfachste Erklärung.

  1. Der Zeitbegriff im Multiversum

Der aus der Relativitätstheorie hergeleitete Begriff der Raumzeit verbindet Vergangenheit und Zukunft innerhalb des Lichtkegels zu einer durch Ursache und Wirkung kausal und deterministisch fest verknüpften Einheit. Der Ablauf der Zeit von Vergangenheit über Gegenwart zur Zukunft ist hier ein rein subjektiv durch unser Bewusstsein bestimmter Vorgang, der identisch und alternativ durch die objektive Existenz des Raum – Zeit – Kontinuums im Universum erklärt werden kann. Objektiv bewegt sich hier nichts mit der Zeit, sondern entlang einer immer vorhandenen Weltlinie durch die Zeit. Die subjektive Zeit des Beobachters wird deshalb auch explizit durch seinen Bewegungszustand bestimmt, wenn sie in Bezug auf andere Beobachter festgelegt werden soll. Sämtliche Ereignisse der Vergangenheit und der Zukunft existieren in bereits vorbestimmter Weise. Ihren Zusammenhang bestimmen wir für die Vergangenheit mit Hilfe unserer Erinnerungen, während dieser Zusammenhang für die Zukunft uns in der Gegenwart, in der das Bewusstsein operiert, unbekannt ist, aber in gleicher Weise existiert. Unsere Zukunft ist deshalb nicht offen, sondern liegt bereits fest und könnte im Prinzip berechnet werden.

Die Quantentheorie kommt hier zu genau entgegengesetzten Aussagen, weshalb sie auch mit der Relativitätstheorie nicht vereinbar ist. Durch die Erfindung des Multiversums glaubt Deutsch eine Vereinbarkeit erzielt zu haben, ohne den Determinismus aufgeben zu müssen. In seinem Multiuniversum existieren unendlich viele virtuelle Raumzeiten parallel zu einander, die wie die Raumzeit des Universums durch Zeitschnitte in Scheiben zerlegt werden können, jedoch sind die Zeitkoordinaten in den verschiedenen parallelen Universen nicht a priori einander zuordenbar. Diese Zuordnung existiert nur in makroskopischen Bereichen, in denen auch Determinismus und Kausalität gelten. In Singularitäten, z.B. beim Urknall und in Schwarzen Löchern, ist die Reihenfolge der Zeitscheiben unbestimmt und deshalb keine Kausalität feststellbar. Dort existieren gewissermaßen keine Zeitscheiben, weil sie zu dünn wären. (Quantelung der Zeit) Für normale Bereiche der Gegenwart laufen die Zeitschritte der Paralleluniversen koordiniert und streng determiniert ab, ein Beobachter weiß aber aus seinen Erinnerungen nur für die Vergangenheit, in welchem Universum er sich befunden hat. Im Moment der Gegenwart entscheidet sich erst durch Quanteninterferenzen (zufällig?), in welchem der Universen er sich von da an befindet.

Bezogen auf einen Beobachter, ist die Vergangenheit in der Tat festgelegt und die Zukunft offen, und in der Gegenwart werden Möglichkeiten zu Tatsachen.

  1. Was sind Zeitreisen?

Deutsch diskutiert hier unter der Annahme der Existenz eines Multiuniversums. Unter dieser Voraussetzung gilt:

Zeitreisen in die Vergangenheit des realen Universums führen zu Paradoxien und sind nicht möglich, insbesondere nicht in die eigene Vergangenheit. Reisen in parallele Universen sind logisch nicht unmöglich, können deshalb auch in Vergangenheit und Zukunft führen, aber nur in nicht realisierte Welten. Logische Voraussetzung hierfür ist aber, das in der jeweiligen Parallelwelt ebenfalls eine "Zeitmaschine", und zwar vor dem besuchten Zeitpunkt gebaut worden sein muss. Ein Zeitreisender landet dann in seiner Vergangenheit, aber nur in einer möglichen, aber nicht realisierten Version des Multiuniversums. Besuch aus der Zukunft wäre erst möglich, nachdem wir eine Zeitmasche haben, und er käme zwar aus der Zukunft, aber nicht aus der, die unsere Zukunft sein würde, sondern aus einer parallelen.

Durch eine Zeitmaschine könnte Wissen, das in einer parallelen Welt entstanden ist, in unsere Welt transportiert werden. Derselbe Transport von Wissen muss offenbar von einem "Quantencomputer" bewerkstelligt werden, der auf physikalischen Computern nicht berechenbare Probleme lösen soll.

Ich halte deshalb sowohl Zeitmaschinen wie auch Quantencomputer für nichtrealisierbare Fiktionen.

  1. Das Verständnis der 4 Stränge

Deutschs Verständnis der Welt resultiert aus seiner Interpretation und Erklärung von vier grundlegenden Theorien:

Alle 4 zusammen bilden die Grundlage unseres Bewusstseins und unseres Verständnisses der Welt.

  1. Das Ende des Universums

Deutsch sieht am Ende des Universums die von Tipler ausgearbeitete Entwicklung zum Omegapunkt hin, wobei er jedoch die religiös ausartenden Spekulationen Tiplers ablehnt. Er billigt stattdessen dem Leben als einer grundlegenden emergenten Eigenschaft des Universums die Fähigkeit, Berechtigung und Pflicht zur immer umfassenderen Einflussnahme auf die weitere Evolution des Weltalls zu. In Fortführung dieser Gedanken sieht er in ethischen, moralischen und künstlerischen Werten emergente Eigenschaften, die aus dem Zusammenwirken der oben diskutierten vier theoretischen Stränge der Welterkenntnis hervorgehen.