Marc W. Kirschner; John C. Gerhart
Die Autoren erläutern die Theorie der „erleichterten Variation“, die erklären kann, wie in einer Population Variationen entstehen, die sofort Selektionsvorteile bringen.
Variation ist die Quelle des Neuartigen. Die Umwelt kann durch den Selektionsprozess nichts Neues schaffen, sie kann nur aus dem auswählen, was bereits existiert.
Grundlage der Vielfalt biologischer Variationen ist die vielseitige Verwendbarkeit konservierter Bausteine in immer neuer Zusammenstellung zu komplexen Systemen. Die zufällige Mutation eines Bausteins (Gens) kann zahlreiche Prozesse verändern oder die Art der Verwendung vorhandener Bausteine modifizieren.
Die Darwinsche Evolution beruht auf den 3 Hauptprozessen
· Variation
· Selektion
· Vererbung
Die Selektion ist ein gut verstandener Prozess, der zur Auswahl der geeignetsten Phänotypen durch die jeweils wirkenden Umweltbedingungen führt. Die Vererbung überträgt durch Kopie der Gene die selektierten Eigenschaften exakt auf die nächste Generation. Die Variation der vererbbaren Eigenschaften entsteht durch zufällige Fehler bei der Kopie der Gene.
Unverstanden war weitgehend, wie durch zufällige Variation der Gene neue selektionsfähige komplexe Eigenschaften entstehen konnten, weil häufig einzelne Veränderungen nicht sofort zu einer Steigerung der Fitness führen, deshalb vorzugsweise nicht vererbt werden und aussterben, komplexe selektionsfähige Veränderungen aber die unabhängige Mutation mehrerer Gene erforderten, was wiederum sehr unwahrscheinlich war. Man suchte deshalb schon lange nach Mechanismen, die solche Variationen bevorzugen, die sofort zu einer Steigerung der Fitness führen.
Bereits Lamarck entwickelte eine Theorie, nach der sich im Laufe des Lebens eines Individuums erworbene Eigenschaften auf die Nachkommen vererben sollten. Diese Theorie wurde später von Darwin übernommen und weiter ausgebaut. Die Theorie begründete zielgerichtete Variationen. Damit wurde jedoch der Einfluss der Selektion auf die Evolution zurückgedrängt und Selektion und Variation miteinander verschmolzen, denn die Individuen veränderten sich durch den Erwerb von durch die Umwelt begünstigten Eigenschaften, da musste nichts mehr selektiert werden. Diese Theorie war jedoch völlig falsch und wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch Weismann weitgehend widerlegt, denn er wies nach, dass somatische Körperzellen, die auf Umwelteinflüsse reagieren, strikt getrennt sind von den Zellen der Keimbahn und diese nicht beeinflussen können. Die Fortschritte der modernen Genetik widerlegten diese Theorie vollständig.
Die etwa um 1940 entwickelte moderne Synthesetheorie der Biologie ging davon aus, dass nur der Genotyp vererbt, aber nur der Phänotyp selektiert wird und führte die Evolution auf drei Grundschritte zurück:
· Zufällige genotypische Variation durch zufällige Modifikation der DNA-Sequenz
· Der veränderte Genotyp führt im individuellen Organismus zu einer Veränderung des Phänotyps
· Der veränderte Phänotyp wird auf der Basis der reproduktiven Fitness des Individuums selektiert, d.h. auf Grund seiner Fähigkeit, Nachkommen zu zukünftigen Generationen zu liefern. Dadurch wird gleichzeitig der zugrundeliegende Genotyp selektiert.
Auf die Frage, wie der veränderte Genotyp zu einem veränderten Phänotyp führte, gab die moderne Synthese keine Antwort. Fest stand aber, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbbar sind, die ontologische Entwicklung des Phänotyps aber durch den Genotyp bestimmt und durch die Umwelt veränderbar ist. Die Bedingungen für das Entstehen von Neuartigem in der Evolution wurden jedoch nicht genügend gewürdigt. Hierzu gehören:
· Genetische Variation entsteht ursprünglich durch zufällige Mutation, aber ein Großteil der genetischen Veränderung, die für die Evolution wichtig ist, stammt aus der Neuanordnung von Mutationen vorangegangener Generationen mittels sexueller Fortpflanzung
· Selbst nur entfernt verwandte Organismen verwenden für grundlegende Prozesse der Zellfunktion, der Entwicklung und des Stoffwechsels in Details die gleichen Kernprozesse, die seit Millionen von Jahren unverändert konserviert wurden.
· Alle Organismen verwenden eine Mischung von konservierten, unveränderten Prozessen und veränderten, nichtkonservierten Prozessen. Neues in Physiologie, Anatomie oder Verhalten des Organismus erwächst vorwiegend aus der Nutzung konservierter Prozesse in neuer Kombination, zu anderen Zeiten, an anderen Orten und in anderem Umfang und nicht etwa durch Erfindung völlig neuer Prozesse.
· Die Kernprozesse des Organismus wurden konserviert, weil ihre Veränderung für den Organismus tödlich war und weil sie spezifische Merkmale aufweisen, die wiederholt evolutionäre Veränderungen rund um sie herum erleichtert haben und leicht in neuer Kombination zusammengefügt werden konnten.
· Die phänotypische Anpassungsfähigkeit der Organismen an Umweltveränderungen basiert auf simplen regulatorischen Justierungen von bereits existierenden physiologischen Prozessen, die vor langer Zeit entwickelt und konserviert wurden.
Durch Analyse der DNA-Sequenzen kann der Stammbaum aller Lebewesen eindeutiger rekonstruiert werden als dies durch Fossilfunde und anatomische Morphologie möglich war. Diese Analysen führten jedoch zu den gleichen Ergebnissen. Die Kenntnis der Funktion der Gene ist dazu nicht erforderlich. Es zeigte sich aber, dass ähnliche Gensequenzen für ähnliche Funktionen codieren.
In der ersten Phase der Entwicklung des Lebens vor mehr als 3 Milliarden Jahren entstanden die konservierten biochemischen Grundprozesse, die allen heute noch existierenden Lebewesen gemeinsam sind. Hierzu gehören der DNA und der RNA Code für die 20 Aminosäuren, aus denen alle Proteine aufgebaut sind, die grundlegende Zellstruktur und über 200 Enzyme sowie der Energiestoffwechsel. Diese Grundprozesse wurden über 3 Milliarden Jahre nicht verändert, sondern blieben unverändert konserviert. Die darauffolgende Diversifizierung der Lebewesen hat diese Grundprozesse nicht verändert, obwohl überaus komplexere Lebensformen entstanden.
In der zweiten Phase der Entwicklung des Lebens vor mehr als 2 Milliarden Jahren entstand die zweite Gruppe konservierter Kernprozesse, die die Organisation und Regulierung der Zellprozesse betreffen. In dieser Phase differenzierten sich die Archebakterien von den Eu-Bakterien. Zu den Eubakterien gehören die Cyanobakterien, die die Fotosynthese erfanden und die Sauerstoffatmosphäre schufen. Von den noch zellkernlosen Archebakterien spalteten sich vor 2 Milliarden Jahren die Protisten ab, die einen Zellkern besaßen, und aus denen sich später alle Pilze, Pflanzen und Tiere entwickelten, deren Zellen ebenfalls einen Zellkern besitzen. Die eukaryotische Zelle ist hundert bis tausend mal größer als kernlose Bakterienzellen und besitzt innere Membranen, die Organellen mit unterschiedlichen Funktionen voneinander trennen. Die Zellform wird durch ein inneres Cytoskelett aufrechterhalten, es gibt Ionenpumpen zur Regulierung des osmotischen Druckes und Nahrungspartikel werden von Vesikeln umschlossen und transportiert. Ein Novum ist ferner die sexuelle Fortpflanzung. Alle diese Merkmale der eukaryotischen Zelle wurden konserviert und unverändert an alle heute lebenden Vielzeller übertragen.
In der 3.Phase der Entwicklung des Lebens bis vor 1,2 Milliarden Jahren entwickelte sich eine breite Palette einzelliger Eukaryoten, darunter eine Art, die alle Voraussetzungen zur Entwicklung der Vielzelligkeit besaß. Ein Individuum dieser Art verleibte sich ein Cyanobakterium ein und gelangte dadurch in einem einzigen Schritt zur Fotosynthese. Aus ihm entstand die gesamte Pflanzenwelt. Ein zweites Individuum mit einer starken Zellwand erlangte eine große Stoffwechselflexibilität, lebte von gebrauchsfertigen Nahrungspartikeln anderer lebender oder toter Organismen und entwickelte sich zu den Pilzen. Ein dritter Abkömmling ernährte sich von ganzen Zellen, um sich mit fertigen Aminosäuren und Vitaminen zu versorgen und entwickelte sich zu den Tieren. In den drei Stammlinien entstanden unterschiedliche interzelluläre Verbindungs- und Signalsysteme und es entwickelten sich funktional spezialisierte Zellen, innerhalb denen jeweils die gleichen Stoffwechselprozesse abliefen, die früher alle zusammen in einer einzigen Zelle, jetzt aber differenziert in unterschiedlichen Zelltypen organisiert waren. Die Keimzellen differenzierten sich von den Körperzellen. Diese Reorganisation aller Lebensprozesse vollzog sich im Zeitraum von einer Milliarde Jahren bis rund 600 Millionen Jahren vor unserer Zeit und die neu entstandenen Prozesse und die funktionellen Komponenten, auf denen sie basieren, sind konserviert worden und in sämtlichen heute lebenden Tieren einschließlich Schwämmen, Insekten, Schnecken und Säugern in gleicher Weise vorhanden. Sie bilden die 3. Gruppe konservierter Kernprozesse von Tieren.
In der 4. Phase vor rund 500 Millionen Jahren, im Kambrium, tauchten ziemlich plötzlich diverse anatomische Baupläne auf. Die Baupläne von 30 Tierstämmen waren Abwandlungen eines bereits recht komplexen Grundbauplanes eines wahrscheinlich wurmähnlichen Vorfahren aller bilateralsymmetrischen Tiere und nach einem einheitlichen Raster (Karte) organisiert, das bis heute konserviert allen Bauplänen zugrunde liegt. Die embryologische Entwicklung zur Realisierung des Körperbauplanes ist ebenfalls ein spezifischer konservierter Kernprozess, der für jeden der 30 Tierstämme zu einem anderen anatomischen Ergebnis führt.
Die Entwicklung der Körperanhänge, Flossen, Beine, Flügel folgt bei den verschiedenen Tierstämmen unterschiedlichen Bauplänen. Die außerordentlich breite Diversifizierung dieser Organe lässt jedoch weiterhin erkennen, das es sich lediglich um Modifizierungen des jeweiligen Grundbauplanes handelt und die Ausbildung dieser Extremitäten ebenfalls von einem konservierten Kernprozess geregelt wird.
Eine Analyse der Geschichte der Evolution zeigt, dass sich mehrfach lange Konservierungsphasen mit Perioden stürmischer Diversifikation abgelöst haben. Offensichtlich sind die konservierten Kernprozesse die wesentlichen integrierenden und gut funktionierenden Bahnen und Schaltkreise, durch die der Phänotyp aus dem Genotyp produziert wird. Die wesentlichen Prozesse werden konserviert, weil Mutationen mit unwesentlichen Folgen eben keine Störungen hervorrufen, aber Mutationen mit wesentlichen Folgen nur noch Verschlechterungen bringen oder tödlich sind. In Perioden stürmischer Entwicklung werden neuartige Prozesse und Strukturen durch Reorganisation alter konservierter Kernprozesse geschaffen, für die es noch keine Konkurrenz und daher keine Selektion gibt, sofern sie überhaupt funktionieren. Die erfolgreichsten dieser neuen Prozesse werden anschließend auf dem neuen Niveau konserviert, weil weitere Veränderungen wiederum nur schlechter oder tödlich sind.
An einigen Beispielen kann gezeigt werden, dass physiologische Anpassung an veränderte Umweltbedingungen durch genetische Veränderungen erblich werden können. (Baldwin-Effekt). Diese Effekte konnten durch folgenden Mechanismus erklärt werden: Es ist unumstritten, dass viele Organismen eine große Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Umweltbedingungen besitzen. Diese Anpassungsfähigkeit beruht darauf, dass innere und äußere Parameter physiologische Prozesse beeinflussen und verändern können und infolgedessen auch während der ontologischen Entwicklung des Individuums unterschiedliche Phänotypen aus dem gleichen Genotyp entstehen können. Dies ist möglich infolge der Beeinflussbarkeit der Genexpression durch chemische Signale. Durch zufällige Mutationen des Genotyps kann nicht nur der sich entwickelnde Phänotyp verändert werden, sondern auch die Anpassungsfähigkeit dieses Phänotyps an veränderliche Umwelteinflüsse. In einer Population gibt es deshalb ein Spektrum unterschiedlich anpassungsfähiger Phänotypen mit unterschiedlichen Optima ihrer Fitness.. Wird nun die Anpassungsfähigkeit durch veränderte Umweltbedingungen stark in Anspruch genommen, so verändert sich der Genpool in Richtung auf Selektion der stärker anpassungsfähigen Genotypen. Es gibt also eine genetische Selektion in Richtung einer Erleichterung phänotypischer Anpassungsprozesse. Dabei werden aber nicht erworbene Eigenschaften vererbt, sondern es wird das Spektrum vorhandener genotypischer Eigenschaften in Richtung verbesserter Anpassung verschoben.
Weitere Beispiele zeigen, dass durch Umweltfaktoren genetische Schalter betätigt werden können, die aus einem Genotyp völlig unterschiedliche Phänotypen entstehen lassen. (Entwicklung der Bienenlarve zur Königin oder zur Arbeitsbiene, umweltbestimmte Geschlechtsdeterminierung bei Fischen und Reptilien.) Auch hier handelt es sich nicht um die Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern um die von der Umwelt bewirkte Ein- und Ausschaltung vorhandener Entwicklungswege.
Die Veränderung der Affinität des Hämoglobins gegenüber Sauerstoff bildet ein gut verstandenes Beispiel für die leichte Umschaltbarkeit konservierter Kernprozesse sowohl durch Umweltveränderungen als auch durch Genänderungen. Es können sowohl durch Produktion von Signalmolekülen als auch durch Mutation eines einzelnen Genes sehr komplexe Stoffwechselprozesse in großem Umfang umgeschaltet werden. Diese Variabilität ist ein Ergebnis von Selektionsprozessen durch eine veränderte Umwelt und erhöht die Fitness der Phänotypen der betroffenen Art.
Die im Zeitraum von vor 3 Milliarden Jahren bis vor einer halben Milliarde Jahren entstandenen konservierten Kernprozesse organisieren bis heute den Stoffwechsel, die Genexpression und den Signalaustausch zwischen Zellen. Sie stellen hochoptimierte komplexe Prozesse dar, die durch einfache molekulare Signale ausgelöst werden können. Dabei kann ein Signalstoff über Zwischenstufen gleichzeitig oder nacheinander zahlreiche verschiedene konservierte Kernprozesse auslösen. Zum Beispiel führt die Zufuhr von Zucker zur Freisetzung von Insulin in der Bauchspeicheldrüse und die Erhöhung des Insulinspiegels im Blut ruft Fettproduktion in den Fettzellen, Glycogenproduktion in der Leber und Zuckeraufnahme in der Muskulatur hervor. Zwischen diesen verschiedenen Prozessen existieren schwache Kopplungen, die sich durch Umwelteinflüsse oder kleine Genveränderungen wieder auflösen und anders zusammenfügen lassen, also regulieren lassen. Diese leichte Veränderbarkeit der Kopplungen ist eine wesentliche Eigenschaft der konservierten Kernprozesse und ermöglicht deren Nutzung in unterschiedlichen komplexen Lebensprozessen. An diesen Kopplungsstellen kann auch die genetische Variation zur Evolution der Lebewesen ansetzen.
Die Expression eines Gens kann kontrolliert werden, indem durch ein Signalmolekül ein bestimmtes Repressormolekül dazu verlasst wird, die Ablesestelle eines Gens zu blockieren oder freizugeben, so dass die entsprechende RNA und das zugehörige Protein hergestellt oder nicht hergestellt werden kann. Durch die Veränderung eines Repressormoleküls kann der Prozess leicht auch durch ein anderes Signalmolekül oder an einem anderen Gen reguliert werden. Die bei den Bakterien realisierte Art der Genkontrolle entwickelte sich bei den Eukaryoten weiter, so dass aus Repressormolekülen Regulatorgene wurden, die durch verschiedene Signalstoffe die Expression mehrerer benachbarter Gene ein- oder ausschalten und damit die Produktion mehrerer Proteine steuern können. Diese Art der eukaryotischen Genregulierung durch komplexe Schaltkreise wurde zum mächtigsten konservierten Kernprozess, der die phänotypische Variation hervorbringt, an der die Selektion angreift.
Die Entdeckung der Steuerung von Regulatorgenen durch einfache Signalmoleküle wirft auch ein neues Licht auf das Verständnis der Embryonalentwicklung. Hier lösen von Nachbarzellen produzierte Proteine die Expression bestimmter Gene aus, die die weitere Entwicklung der unterschiedlichen Zelllinien zu den verschiedenen Organen bestimmen. Offensichtlich sind in allen Stammzellen die genetischen Voraussetzungen für die Entwicklung aller, auch der komplexesten Zelltypen gespeichert, ihre Expression wird jedoch durch Regulatorgene zunächst verhindert, bis von den Nachbarzellen und –organen die auslösenden einfachen Signalsubstanzen produziert werden, die den Anstoß für die Ausbildung der spezifischen Organe geben.
Die Funktionsweise regulatorischer Proteine beruht darauf, dass diese Proteine zwei verschiedene Zustände besitzen, zwischen denen sie spontan wechseln, und getrennte Zentren für die Proteinproduktion und für die Affinität der Signalstoffe. Ein Signalmolekül dockt entweder im aktiven oder inaktiven Zustand an das Proteinmolekül an und hält das Proteinmolekül in diesem Zustand, so dass es entweder seine katalytische Funktion ausüben kann oder nicht. Infolgedessen kann ein einfacher Signalstoff eine komplexe Enzymfunktion steuern und komplexe Reaktionsketten auslösen. Dabei kann das Regulatorzentrum auf spezifische Signalmoleküle oder aber auch auf verschiedenartige Signalstoffe gleichartig reagieren. Die schwache Kopplung dieses konservierten Kernprozesses ist deshalb sehr variabel gestaltbar.
In eukaryotischen Zellen wird oft auch ein alternatives Konzept zur Steuerung der Proteinproduktion verwendet. Dabei produziert ein unspezifisch wirkendes Enzym verschiedenartige Proteine, je nachdem welche Ausgangssubstanzen in die Nähe seines funktionalen Zentrums gebracht werden. Die Auswahl der Rohstoffe erfolgt durch leicht variierbare kleine Bindesequenzen, welche die gewünschten Substanzen in der Nähe des Enzymmoleküls konzentrieren. Somit kann das gleiche Enzym in Abhängigkeit von der Umgebung unterschiedliche Proteine produzieren.
Die schwache Kopplung konservierter Kernprozesse hat den Vorteil, dass sich die gleichen Kernprozesse zu verschiedenen Zwecken zusammenschalten lassen und die dazu notwendigen Kopplungen leicht verändern lassen. Die durch schwache Kopplung bedingte größere Fehlerhäufigkeit wird dadurch ausgeglichen, dass zur Erreichung eines bestimmten Zweckes oft unterschiedliche Kernprozesse mit verschiedenartigen Kopplungen verwendet werden, so dass der Ausfall eines Produktionspfades durch redundante andere Wege leicht kompensiert werden kann.
Diese variable Koppelbarkeit der konservierten Kernprozesse wird durch vereinheitlichte Kopplungsstellen ermöglicht. Ein typischer Vertreter eines solchen konservierten Kernprozesses ist die Nervenzelle. Alle Nervenzellen arbeiten nach den gleichen Prinzipien und sind durch gleichartig aufgebaute Synapsen untereinander und mit anderen Prozessen gekoppelt. Auch die Verbindung der codierenden Gensequenzen durch nichtcodierende Zwischenstücke (Introns) stellt eine solche schwache Kopplungsstelle dar, die das Einfügen eines neuen oder veränderten Gens oder die neuartige Zusammenfügung von Teilstücken der DNA-Sequenzen leicht ermöglicht. Der Transkriptionsapparat, der diese Introns bei der Herstellung der RNA wieder herausschneidet, ist ebenfalls ein solcher konservierter Kernprozess mit variabler Kopplungsstelle.
Die Fähigkeit zur schwachen Kopplung, die in die Kernprozesse eingebaut ist, wird mit der physiologischen Anpassungsfähigkeit reselektiert und ist daher auch eine konservierte Eigenschaft. Sie ermöglicht die phylogenetische Evolution komplizierter Organismen durch einfache Genmutationen.
Ein Teil der konservierten Kernprozesse zeigt exploratives oder Erkundungsverhalten. Ihre Anpassungsfähigkeit ist für ihre Funktion entscheidend und beruht auf einer Versuch-und-Irrtum-Strategie, bei der die brauchbarsten somatischen Variationen, die im Verlauf der normalen Funktion des Organismus geschaffen werden, durch Selektion stabilisiert werden. Auf solchen Prozessen beruht die Ausbildung des Cytoskeletts, des Nervensystems, des Blutgefäßsystem und des Immunsystems. Die detaillierte Form und Funktion dieser Systeme ist nicht genetisch festgelegt, sondern bildet sich im Laufe der embryologischen Entwicklung und infolge von physiologischen Anforderungen an diese Systeme.
So ist z.B. die unterschiedliche geometrische Form von Zellen nicht genetisch determiniert, sondern entsteht durch den explorativen dynamischen Auf- und Abbau des Cytoskeletts. Dabei wachsen Mikrotubuli von einem Nucleationszentrum aus zufällig in alle Richtungen und werden wieder abgebaut, wenn nicht von der Umgebung der Zelle Signale eintreffen, die den Abbau stoppen. Auf diese Weise wachsen Zellen in eine von ihrer Umgebung bestimmte Richtung. Es ist das gleiche Prinzip, das Ameisen bei der Nahrungssuche anwenden.
Das gleiche Prinzip reguliert auch das Wachstum des Nervensystems. Neuronen wachsen zufällig in alle Richtungen und sterben durch den vorprogrammierten Zelltod ab, wenn sie nicht zufällig ein Ziel erreichen, mit dem sie spezifische Kontakte und damit ihre Funktion aufnehmen können. Nur durch exploratives Verhalten ist es möglich, dass durch so wenig Gene (22500 beim Menschen) derart komplexe Gebilde wie das Gehirn mit hundert Milliarden Neuronen und einer Million Milliarden Synapsen aufgebaut werden können. Durch exploratives Verhalten entstehen und stabilisieren sich gerade die und nur die Neuronen, welche die erforderlichen Funktionen gewährleisten. Das Prinzip funktioniert sowohl bei der embryologischen Entwicklung des Individuums wie auch bei der physiologischen Anpassung an die Anforderungen der Umwelt und bei der Entstehung evolutionärer Neuheiten durch genetische Mutation. Eine derartige Anpassung der Gehirnprozesse an die Anforderungen der Peripherie ist durch zahlreiche gezielte Experimente belegt.
Die Einzelheiten der Ausbildung des Blutgefäßsystems werden gleichfalls nicht genetisch determiniert, sondern das Gefäßsystem wächst autonom in Richtung der Gewebe, die unter Sauerstoffmangel leiden. Diese Steuerung wirkt in gleicher Weise beim normalen Wachstumsprozess des Organismus, bei Wundheilung und beim Gebärmutterwachstum in der Schwangerschaft, ja sogar beim Wachstum von Tumoren. Es ist evident, die gleiche Steuerung auch bei der Versorgung evolutionärer Neuerungen anzunehmen.
Die durch eine Mutation hervorgerufene evolutionäre Veränderung einer Extremität kann man sich deshalb folgendermaßen vorstellen: Die genetische Mutation bewirkt zunächst eine Variation von knorpelbildenden Zellen, den Vorläufern von Knochengewebe. Daraufhin wachsen die muskelbildenden Zellen entsprechend den von den knorpelbildenden Zellen ausgehenden Signalen um die neu entstehenden Knochen herum. Der auftretende Sauerstoffmangel bewirkt das parallele Wachstum der Blutgefäße und das Nervensystem passt sich ebenfalls durch exploratives Verhalten den neuen Anforderungen an. Die durch eine einzige Genmutation veränderte Extremität steht dann voll funktionsfähig zur Verfügung und unterliegt als Ganzes der phänotypischen Selektion. Durch das explorative Verhalten konservativer Kernprozesse erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Makromutationen um ein Vielfaches.
Die Embryonalentwicklung erzeugt, ausgehend von einem einzelligen Ei, das den gesamten Genomsatz enthält, die unterschiedliche Anatomie einer jeden Tierart. In den Frühstadien der Entwicklung produziert ein Embryo konservierte stammestypische Merkmale wie das dorsale Neuralrohr der Wirbeltiere oder den segmentierten Körper der Arthropoden. Im weiteren Verlauf der Entwicklung kommen die für das Tier typischen lokalen und spezialisierten Anatomieteile hinzu, und schließlich differenzieren sich die verschiedenen Zelltypen. Diese lokal unterschiedliche Entwicklung wird von einer flexiblen Kompartimentkarte gesteuert, die sich selbst nach und nach herausbildet. Die einzelnen Kompartimente unterscheiden sich voneinander durch den jeweiligen Teilsatz der Gene, die in diesem Kompartiment exprimiert werden. Welche der Gene exprimiert werden, wird durch die zugehörigen Selektorgene gesteuert, die von Signalsubstanzen an- und abgeschaltet werden, die wiederum von den benachbarten Kompartimenten zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Entwicklung freigesetzt werden. Da diese Signalsubstanzen unterschiedliche Reichweiten haben, können in den Randgebieten der Kompartimente Subkompartimente mit eigenen Entwicklungszielen entstehen. Die schrittweise Herausbildung der Kompartimentkarte bestimmt die endgültige Anatomie des Organismus. An Hand der für die Kompatimentkarten heute lebender Tiere typischen Selektorgene kann die gesamte Stammesgeschichte der Tierwelt rekonstruiert werden. Es erwies sich, das die Kompartimentkarten aller untersuchter Tierstämme über den Zeitraum der letzten 500 Millionen Jahre konserviert wurden. Einheitliche Kompartimente treten im Embryo nur in einer mittleren Entwicklungsphase auf. In dieser Phase ähneln sich die Embryonen aller Klassen eines bestimmten Tierstammes besonders stark. Danach wird die Karte der Kompartimente um verschiedenartige Zusätze ergänzt. Dies entspricht der in den 500 Millionen Jahren seit dem Kambrium entwickelten komplexeren Strukturen wie Gehirnen, Knochen, Gliedmaßen und Anhängen. Die Kompartimentierung erleichtert die unabhängige Variation der Genexpression in einzelnen Kompartimenten ohne Veränderung konservierter Kernprozesse. Von besonderer Bedeutung sind dabei die explorativen Prozesse der Neuralleistenzellen in der Kopfregion der Wirbeltiere, die sich als wandernde Stammzellen in Antwort auf Signale der Umgebung in vielfältiger Weise differenzieren können.
In der ersten Phase der Embryonalentwicklung wird die Karte der Kompartimente aufgebaut. Für den ersten Schritt sind nur 28 Genprodukte in unterschiedlicher Kombination erforderlich, der Start der Entwicklungsprozesse bedarf daher nur weniger spezifischer Informationen, ist robust und ermöglicht eine große Variationsbreite in der frühen Eientwicklung.
Die lokale Kompartimentierung durch Selektorgene kann als ein Spezialfall der allgemeinen Regulierung der Genexpression durch Master-Kontrollgene angesehen werden. Ein Master-Kontrollgen kontrolliert die Expression aller der Gene, die für die spezifischen Funktionen eines bestimmten Zelltyps erforderlich sind oder die zeitlich nacheinander zur Ausbildung des Larvenstadiums und zur Umschaltung auf die Ausbildung des adulten Stadiums notwendig sind. Mit dieser Hypothese erklärt sich die Ausbildung der überaus komplexen Phänotypen aus relativ wenigen Genen, die im Genom zu unterschiedlichen, von Mastergenen kontrollierten Schaltkreisen verbunden sind.
Die Theorie der erleichterten Variation geht von der synthetischen Evolutionstheorie, wie sie Ernst Mayr begründete, aus und modifiziert diese im Sinne einer Weiterentwicklung. Wie in jener sind zufällige Mutationen der Gene die wesentliche Ursache evolutionärer Veränderungen und die am Phänotyp ansetzende Selektion ist das entscheidende Kriterium für die Brauchbarkeit der Veränderungen in der jeweiligen Umwelt. Gestützt auf molekularbiologische Erkenntnisse wird als wesentlich neues Moment der Zusammenhang genetischer Mutationen mit den daraus resultierenden Veränderungen des Phänotyps herausgearbeitet. Dieser Zusammenhang ist dadurch charakterisiert, dass in der Frühzeit der phylogenetischen Evolution durch Selektion konservierte Kernprozesse durch das Wirken von Regulatorgenen lose miteinander verkoppelt werden. Diese Kopplung ist sowohl durch Umweltfaktoren als auch durch somatische Faktoren beeinflussbar. Infolgedessen ist die Variationsbreite des Phänotypen nicht allein durch den Genotyp, sondern auch durch Umwelteinflusse während der ontologischen Entwicklung beeinflusst und bestimmt. Während Mutationen in den bereits hochoptimierten konservierten Kernprozessen entweder letal sind oder zu anderen bereits existierenden Kernprozessen führen, können Mutationen in den Regulatorgenen einerseits durch physiologische oder Umwelteinflüsse abgepuffert werden, andererseits aber durch Neuverschaltung erprobter Kernprozesse in einem Schritt zu großen Veränderungen der Eigenschaften des Phänotyps führen. Variation und Entstehung neuer Arten werden damit erleichtert. Die Autoren wenden ihre neue Theorie auf einige vieldiskutierte Probleme der Makroevolution an, die damit besser erklärt werden können und weisen auf mögliche Experimente hin, mit denen ihre Theorie weiter untermauert werden könnte.
Die wesentliche Wirkung erleichterter Variation besteht darin, dass die zufällige Mutation der Gene in alle Richtungen durch die Nutzung bereits vorhandener konservierter Kernprozesse in Bezug auf die Variation der Phänotypen in eine Richtung gelenkt wird, die größere Chancen seiner Überlebensfähigkeit bietet. Der Umwelt werden damit mehr veränderte Phänotypen mit verbesserten, anpassungsfähigen Eigenschaften zur Selektion angeboten als durch den reinen Zufall.
Erleichterte Variation hat sich deshalb entwickelt, weil Organismen mit dieser Eigenschaft anpassungsfähiger und überlebensfähiger sind als andere. Hierfür sind vier Gründe maßgebend:
· Prozesse die erleichterte Variation schaffen, sind das Beste für die Entwicklung und die Physiologie komplexer vielzelliger Organismen, die sich stets unter variablen inneren und äußeren Bedingungen entwickeln. Sie werden deshalb auf Grund ihrer Funktion im Organismus direkt selektiert.
· Prozesse, die in der Zelle vielseitig verwendbar und kombinierbar sind, erhöhen die Anpassungsfähigkeit des Organismus und werden deshalb direkt selektiert. Solche Prozesse erleichtern gleichzeitig die Variation.
· Auf der Ebene der Population trägt erleichterte Variation zu einer Zunahme der genotypischen Variationsbreite bei, indem sie Letalität und verringerte Reproduktionsraten abpuffert.
· Auf Gruppenebene fördert erleichterte Variation die evolutionäre Ausbreitung von Organismen in neue oder leere Nischen.
Erleichterte Variation hat sich durch Selektion entwickelt und wird durch diese verstärkt.
Die konservierten Kernprozesse haben sich stufenweise entwickelt, in mehreren relativ kurzen Schüben, getrennt durch lange Intervalle, in denen keine wichtigen neuen Kernprozesse hinzugekommen sind. In den riesigen Lücken zwischen den Innovationsschüben – vom ersten prokaryotischen Leben bis zu den Eukaryoten, dann zu den Metazoen und schließlich zu den Körperbauplänen – spiegelt sich die Schwierigkeit wider, neue Folgen konservierter Kernprozesse zu generieren. Danach begann die Entwicklung neuer Mechanismen der erleichterten Variation, die, aufbauend auf den bis dahin entstandenen konservierten Kernprozessen, zur explosionsartigen Entstehung neuer Stämme und Klassen im Kambrium führte.
Die Autoren des Buches halten es für angebracht, die in der Biologie gewonnenen Erkenntnisse über die Bedeutung der Erleichterung von Variationen für die evolutionäre Entwicklung zu verallgemeinern und auf die Entwicklung technischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme zu übertragen. Nicht zentralisiert aufgebaute und gesteuerte Strukturen und Institutionen haben erfolgreiche Entwicklungspotentiale, sondern solche Systeme, die aus, lose gekoppelten und leicht variierbaren Kombinationen bewährter Kernprozesse zusammengesetzt sind, haben robuste und anpassungsfähige Eigenschaften.
Die Theorie der erleichterten Variation ist geeignet, die Hauptargumente der Kreationisten gegen die Evolutionstheorie wirksam zu entkräften.