Evolutionsstrategie im Detail

(Ingo Rechenberg)

1. Im hochdimensionalen Variablenraum ist der mittlere Abstand zweier Zufallspunkte D gleich und bestimmt nur durch die Größe des Variablenraumes L und die Anzahl der Dimensionen n.

D = L * ( n/6 )^(1/2)

Der mittlere Abstand des (zufällig gewählten)Startpunktes einer Evolution ist deshalb statistisch abschätzbar und stets der gleiche, nämlich D. Der Endpunkt einer Evolution wird durch die zugelassene Abweichung eps der Parameter vom Ort des Optimums bestimmt. Damit läßt sich die mindestens notwendige Anzahl von Generationen g einer Evolution abschätzen zu

g = S * 2 * n * ln(1/(eps*6^1/2)) / C(1,lambda)^2

wenn die Mutationsschrittweite überall optimal gewählt wird. Der Sicherheitsfaktor S = 2...10 wird eingeführt, weil die Mutationsschrittweite im Mittel nicht optimal ist und die Form der Qualitätsfunktion (= Fitness als Funktion aller n Variablen) von der Kugelsymmetrie abweicht.

Mit obiger Formel wird die Generationszahl für das biologische Proteinsystem zu 1,3 Milliarden abgeschätzt. Da fossile Funde die Existenz primitiver Bakterien vor 3,8 Milliarden Jahren belegen, ist die Möglichkeit der biologischen Evolution statistisch nachweisbar.

2. Mutationen werden durch normalverteilte Zufallszahlen mit bestimmten Mittelwerten (Sprungweite) und charakteristischer Streuung s beschrieben. Der elterliche Variablensatz wird durch Addition einer solchen Zufallszahl modifiziert. Bei vielen Variablen n konzentrieren sich die normalverteilten Nachkommen auf einer Hyperkugelschale mit dem Radius s * n ^ (1/2). Durch Test wird der Variablensatz und die Sprungweite des besten Nachkommen selektiert.

3. Die Evolutionsgeschwindigkeit hängt vom Verhältnis zwischen Neigung und Krümmung des Qualitätsgebirges, und von der Größe des Mutationsschrittes ab. Bei kleiner Krümmung ist die Evolutionsgeschwindigkeit der Mutationsschrittweite proportional.

4. die optimale Größe des Mutationsschrittes wird durch die Form der Landschaft bestimmt, ist um so kleiner, je größer die Krümmung ist und wird im Zuge der Evolution verändert und angepasst. Evolution kann nur im Bereich eines eng begrenzten Evolutionsfensters erfolgen. Zu kleine Mutationsschritte bedeuten Stagnation und zu große Rückschritt.

5. Die lokale Anpassung der Mutationsschritte hat zur Folge, daß in Landschaften mit Gebirgsgraten die Grate angestrebt werden, auf denen aber wegen der großen Krümmung die optimale Evolutionsgeschwindigkeit nur klein ist und lokale Gipfel nicht verlassen werden können. Bei solcher Geometrie der Qualitätslandschaft sind geschachtelte Evolutionsstrategien erforderlich, die eine größere Sichtweite haben und größere Mutationsschritte in Richtung des Grates erlauben. Bei diesen Populations - Evolutions - Strategien (PES) wird die Mutationsschrittweite in einer Population eine Zeitlang konstant gehalten und die Selektion durch altruistisches Verhalten unterdrückt. Findet dabei eine der sich parallel entwickelnden Populationen die globale Fortschrittsrichtung, so findet eine Selektion zwischen den Populationen statt.

6. Im hochdimensionalen Raum sind die zwischen gleichmäßig komplexen Gipfeln liegenden Gebiete asymptotisch unendlich groß.

7. In einer völlig statistisch zufällig aufgebauten Gipfellandschaft gibt es im hochdimensionalen Raum keine Möglichkeit einer Strategie zum systematischen Auffinden des höchsten Gipfels. Nur wenn die Landschaft systematisch korreliert ist, kann durch geschachtelte Evolutionsstrategien eine Lösung gefunden werden. Die Sprungweite der übergeordneten Strategie muß so groß sein, daß das Einzugsgebiet des lokalen Gipfels verlassen wird. Die Evolution der untergeordneten Strategie beginnt dann aber statistisch im tiefen Tal und damit quasi von vorn. Auch die optimale Sprungweite der übergeordneten Evolution kann durch selektive Schrittweitenanpassung gefunden werden, das Evolutionsfenster ist aber bedeutend schmaler und reicht vom o.7 -fachen bis zum 1.5-fachen der optimalen Schrittweite.

8. Die (kontinuisierte) K - Rekombination simuliert die sexuelle Vererbung. Die Variablensätze der Eltern werden gemittelt und die verschiedenen möglichen Variablenkombinationen (Genkombinationen) durch normalverteilte Zufallszahlen ersetzt, wobei die Streubreite s durch den Abstand der elterlichen Variablensätze bestimmt ist.

9. Durch K - Rekombination wird die Querschnittsstreubreite reduziert aber gute Variableneinstellungen sammeln sich an. Das erhöht die Evolutionsgeschwindigkeit, weil sich außerdem die optimale Mutationsschrittweite vergrößert (um den Faktor Wurzel(my)) und damit die Fortschrittsgeschwindigkeit um den Faktor my. Die optimale Elternzahl my wächst proportional zur Zahl der Nachkommen lambda. (Faktor 3). Damit wird die Schrittweitenregelung träge und die optimale Schrittweite noch von den Vorgängergenerationen beeinflußt.

10. Die Evolutionsstrategie funktioniert nur bei "starker Kausalität" der Welt: Ähnliche Ursachen haben ähnliche Wirkungen. Schwache Kausalität: Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen

Bei starker Kausalität besteht die Möglichkeit, die Vielfalt des Variablenraumes auf einen Gradientenpfad einzuengen.

11. Die Einstellung einer optimalen Evolutionsgeschwindigkeit erfolgt nicht durch Selektion des besten Individuums, sondern nur durch Selektion in einer Population.

12. Die (my,lambda)-Evolutionsstrategie bedeutet, daß my Eltern in einer Generation lambda normalverteilte Nachkommen erzeugen, von denen die my besten als Eltern der nächsten Generation selektiert werden. Die Auswahl erfolgt nach einer quadratischen Qualitätsfunktion im hochdimensionalen Variablenraum. Omega (O)ist die quadratische Komplexität der Qualitätsfunktion und bestimmt sich aus dem Verhältnis der Summe der quadratischen Entwicklungskoeffizienten zur linearen Neigung der Qualitätsfunktion im gegebenen Entwicklungspunkt. Der statistische Erwartungswert des Fortschritts F bestimmt sich aus dem zentralen Fortschrittsgesetz

F = C(my,lambda) * s - O * s ^2

Der Fortschrittsbeiwert C(my,lambda) ist ein kompliziertes Integral der Gaussschen Verteilungsfunktion und hat folgende Werte:

C(1,1) 0
C(1,2) 0.5642
c(1,3) 0.8463
C(1,4) 1,0294
C(1,5) 1,1630
C(1,10) 1.539
c(1,30) 2.043
C(1,100) 2.508
C(1,250) 2.819

Die Fortschrittsgeschwindigkeit wächst also mit der Anzahl der Nachkommen und wird durch steigende quadratische Komplexität der Qualitätsfunktion gebremst. Die optimale Mutationsschrittweite liegt bei

s = C(my,lambda)/(2*O)

Das Evolutionsfenster reicht von etwa einem zehntel bis zum doppelten der optimalen Schrittweite.

13. Struktur ist die Lage und Verbindung der Teile eines nach einem einheitlichen Zweck sich bildenden Organismus. Strukturoptimierung ist formal stets gemischt diskret - kontinuierliche Optimierung (von diskreten und kontinuierlichen Variablen). Bei evolutionsstrategischer Optimierung sind die Gleitvariablen der untergeordneten und die Sprungvariablen der übergeordneten Strategie zuzuweisen. Beispiele sind Stabtragwerke, Häuser - Kabelnetze und neurale Netze.

14. Ist die Qualitätsbestimmung mit Fehlern behaftet, die Qualitätsfunktion also verrauscht, so vermindert sich die Fortschrittsgeschwindigkeit bis auf Null, wenn die Rauschstreuung die Größe der Mutationsstreuung erreicht. Die optimale Mutationsschrittweite nimmt aber zunächst leicht zu, um erst dann auf Null abzusinken.

Bei größerer Mutationsschrittweite hebt sich der beste Nachkomme besser aus dem Rauschpegel ab. Die hieraus resultierende Vergrößerung der optimalen Schrittweite darf aber nicht vererbt werden, weil sie nicht aus der Verbesserung der Eigenschaften des besten Nachkommen resultiert, sondern aus der relativen Verringerung des mittleren Rückschritts der übrigen Nachkommen.

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