Weg aus der Orientierungslosigkeit

Von Alfred Granowski, Pahl-Rugenstein-Verlag 2007

Kommentiert von Bertram Köhler

Das neue Buch des Verfassers erweitert und ergänzt die in der früheren Veröffentlichung[1] dargestellten Betrachtungen. Im Vorwort benennt der Verfasser als Anliegen dieser Arbeit

·       „erstens, bewußt zu machen, daß die menschliche Gesellschaft Produkt sowie Teil der Natur und als solches eine Existenzform der Materie ist, und daß somit die Existenz- und Entwicklungsweise der menschlichen Gesellschaft Naturgesetzen gehorcht und die Gesellschaftswissenschaft ihrem Wesen nach eine Naturwissenschaft darstellt;

·       zweitens, den Erkenntnissen von Karl Marx und Friedrich Engels über die Naturgesetzlichkeit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, d. h. über deren Entwicklungsgesetze im Allgemeinen und über die Ent- wicklungsgesetze der kapitalistischen industriellen Produktionsweise im Besonderen, als Paradigma der Gesellschaftswissenschaft Geltung zu ver­schaffen;

·       drittens mit der Definierung des gesellschaftlichen Nutzens einer Ware die Grundlage für das Verständnis der Preis- und Profitbildung und damit der Entwicklung der ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft zu schaf­fen.“

Entsprechend diesem Anliegen verteidigt Granowski im ersten Kapitel eine konsequent marxistisch-materialistische Weltanschauung und setzt sich einerseits mit Anschauungen auseinander, die ausgehend vom Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystem das Wirken objektiver Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt in Frage stellen, andererseits aber auch mit Versuchen, die marxistische Revolutionstheorie zu retten und Fehlentwicklungen der sozialistischen Länder aus falschen Marxinterpretationen und Verfälschungen seiner Theorien zu erklären. Durch sorgfältiges Studium der marxistischen Originalliteratur kommt er zu der Erkenntnis, dass zwar die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere die profitorientierte Wirkungsweise des Kapitals von Marx richtig analysiert und erkannt wurde, aber auch bei Marx Abweichungen von konsequent materialistischen Positionen festzustellen sind. So hält er z.B. den Glauben an die Möglichkeit der Veränderung des gesellschaftlichen Seins durch ein von einer Elite produziertes Bevölkerungsbewusstsein für eine Illussion, für den Ausdruck einer idealistischen Position, wie sie auch in Marx’ Behauptung „die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, sichtbar wird. Vor allem die marxistische Arbeitswerttheorie, der zu Folge alle Wertschöpfung auf Ausbeutung der Arbeitskraft des Proletariats zurück zu führen ist, beruhe letzten Endes auf nicht bewiesenen Behauptungen, die zur theoretischen Begründung der historischen Aufgabe der Arbeiterklasse zum gewaltsamen Sturz des Kapitalismus herhalten mussten. So kommt Granowski zu dem Schluss, dass zwar die objektiven Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung von Marx richtig erkannt wurden und nicht in Zweifel gestellt werden sollten, aber die Revolutionstheorie und die führende Rolle der Arbeiterklasse bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft nicht ausreichend theoretisch begründet sind.

Im übrigen enthält das erste Kapitel „Naturgesetzlichkeit“ eine zusammenfassende Darstellung einer erweiterten Evolutionstheorie, die ähnlich den auf meiner Website „Nachdenken über Evolution“ zu findenden Positionen die Einordnung kosmischer, biologischer und gesellschaftlicher Evolution in übergreifende Naturgesetzlichkeiten versucht. Demnach besteht die Emanzipation des Menschen in einer immer weiter umfassenden Erkenntnis der Naturgesetzlichkeiten und deren optimaler Ausnutzung für seine Zwecke.

 

Im zweiten Kapitel „Der Warenwert“ wird zunächst ausführlich die Unzulänglichkeit der marx’schen Arbeitswerttheorie nachgewiesen. Anschließend entwickelt Granowski eine alternative, auf einer Analyse des Gebrauchswertes der Waren aufbauende Theorie der Preisbildung und des Ursprungs des Profits, die bereits in der früheren Veröffentlichung enthalten ist und deren wesentlichen Gehalt ich in meiner Rezension jenes Buches (siehe Produktion, Wert, Preis, Profit ) auf meiner Website dargestellt habe. Das folgende Diagramm veranschaulicht kurz die Zusammenhänge:

DIAGRAMM I

Angebotsmengen für die Maxima von Gewinn (G), Profitrate (PrR), Profit (Pr)

und Umsatz (U)

GE 140       

Die profitorientierte Produktionsweise des Kapitalismus regelt die Produktion so, dass bei der Herstellung aller Warenarten der maximale Profit erzielt wird. Da dieses Maximum bei einer größeren Warenmenge liegt als das Maximum der Profitrate, wird eine geringere Profitrate in Kauf genommen, woraus sich die marx’sche Erkenntnis des tendenziellen Falls der Profitrate herleitet. Der Maximalprofit für die Warenart kann nur bei monopolisierter Produktion erzielt werden, da konkurrierende Produzenten ihre jeweiligen Maximalprofite nur durch Unterbietung der Preise erreichen können. Das Streben nach Maximalprofit charakterisiert das Wesen des Kapitalismus und begründet gleichzeitig seine historische Notwendigkeit, da mit dem Maximalprofit zugleich auch die höchste Entwicklungsgeschwindigkeit der gesamten Gesellschaft gesichert werden kann. (Wenn man von uneffektiver Waffenproduktion absieht)

Der am Profitmaximum erzielbare Preis bestimmt den Wert der Warenart. Er ist nicht bestimmt vom Anteil der menschlichen Arbeitskraft und vom Grad der Ausbeutung. Wenn alle Warenarten in einer Menge hergestellt werden, die den Maximalprofit erbringt, stagniert die Produktion und der erzielbare Profit und weitere Steigerungen sind nur durch Entwicklung neuer Waren und neuer Technologien möglich. Hier erweist sich, dass der Kampf der Arbeiterklasse zwar zur Verbesserung ihrer Lebenslage führt, aber nicht zur Ablösung des Kapitalismus. Die objektiven Triebkräfte des Klassenkampfes zeigen nicht in diese Richtung.

An diesem Punk verlagert sich die Gestaltungsmacht von der Arbeiterklasse zur Intelligenz, die nicht nur die Entwicklung neuer Produkte, sondern auch deren Produktionstechnologie entscheidend beeinflussen kann.

 

Im dritten Kapitel wird zunächst hauptsächlich anhand von Zitaten aus dem Anti-Dühring von Friedrich Engels der Anspruch des wissenschaftlichen Sozialismus dargestellt, die theoretische Begründung der Hypothese über die historische Aufgabe der Arbeiterklasse zum Sturz des Kapitalismus  zu sein. Von entscheidender Bedeutung für die theoretische Begründung der proletarischen Revolution war dabei Marx’ Arbeitswerttheorie, deren Relevanz jedoch durch die Ausführungen im 2.Kapitel massiv in Frage gestellt ist. Die von Marx und Engels genannten drei Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung der proletarischen Revolution

sind bis heute nicht erfüllt.  Die Einschätzungen von Marx und Engels bezüglich der Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise und des proletarischen Bewusstseins waren falsch und führten zu der Erwartung, dass die proletarische Revolution unmittelbar bevorstand.

Granowski beweist, dass der Wissenschaftliche Sozialismus ein Theoriegebäude ist, das Marx und Engels zum Nachweis der Naturgesetzlichkeit der von ihnen erfundenen historischen Aufgabe der Arbeiterklasse konstruierten. Dabei besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen dieser Sozialismustheorie und den sonstigen Erkenntnissen Marx’ über die objektiven Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung im Allgemeinen und der kapitalistischen industriellen Produktionsweise im Besonderen, dem erstaunlicherweise kaum jemand Beachtung schenkte.

 

Im vierten Kapitel werden die Grundzüge einer neuen Gesellschaftsordnung entwickelt, wie sie unter Zugrundelegung der materialistischen Geschichtsauffassung Marx’, aber bei Verzicht auf seine Theorie der proletarischen Revolution aussehen müsste. In völliger Übereinstimmung mit Marx formuliert Granowski:

„Kapitalismus ist die Bezeichnung für eine historische Epoche in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, in der deren Ordnung und Existenzweise auf einer industriellen Produktionsweise materieller Güter basiert, deren Entwicklung durch eine profitmehrende und kapitalkonzentrierende Kapitalverwertung konkurrierender Unternehmen bestimmt wird. ... Die Entwicklung der Produktivkräfte ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewusst die materiellen Bedingungen einer höheren Produktionsform.“

Bereits Marx formulierte:

„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an deren Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“

Die mit der Entwicklung der Dampfmaschine eingeleitete industrielle Produktionsweise entwickelte sich trotz aller bürgerlicher Revolutionen unter feudalistischen Herrschaftsverhältnissen und erst bei weitentwickelter Industrie entstand der moderne bürgerliche Staat, der neue Potenzen für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte freisetzte. Damit waren aber noch nicht die Bedingungen für den Untergang des Kapitalismus gegeben.

Mit einer hochentwickelten Kommunikationstechnik  und weitgehend vollautomatisierter Güterproduktion aber kommt das Ende der Möglichkeiten der Profitsteigerung durch Entwicklung der Produktionstechnik. Profitsteigerung ist nur noch möglich durch Kapitalkonzentration, Fusion und Monopolisierung, während Entwicklung neuer Erzeugnisse und Technologien zunehmend wegen steigender Kosten zur Profitminderung führt. Erst die Entwicklung des Computers schafft die technischen und technologischen Voraussetzungen für den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung. Diese Voraussetzungen sind:

 

Diese Bedingungen werden die in der Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung Tätigen zu einer revolutionären gesellschaftlichen Kraft werden lassen, die in der Lage ist, die Verfügungsgewalt über die brachliegenden Profite zu erlangen und durch einen Demokratisierungsprozess für gesellschaftliche Bedürfnisse nutzbar zu machen. Eine derartige revolutionäre Umwälzung wird nicht nur im Interesse der in der Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung Tätigen sondern auch des überwiegenden Teiles der Bevölkerung liegen, insbesondere im Interesse der Ausgegrenzten, die als Arbeitslose nicht mehr in der industriellen profitbringenden Güterproduktion gebraucht werden und die nicht die erforderlichen Mittel besitzen, eine derartige Umwälzung einzuleiten.

Die neue kommende Gesellschaftsordnung wird, wie alle vorangegangenen auch, das Ergebnis eines objektiven Entwicklungsprozesses und nicht die Realisierung einer Vorstellung über sie sein, auch dann nicht, wenn eine der neuen Ordnung entsprechende Vorstellung vorher existiert haben sollte.

Granowski entwickelt eine solche Vorstellung, die in wesentlichen Zügen den heutigen Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus entspricht, sich in 4 wichtigen Punkten aber unterscheidet:

 

Die neue Gesellschaft kann erst entstehen, nachdem entsprechend den Forderungen Karl Marx’ die Produktionsbasis im Rahmen der alten Ordnung voll entwickelt ist und die sozialen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit durch eine bedingungslose Grundsicherung schrittweise beseitigt wurden und die Erwerbsarbeit ihre Existenz sichernde Bedeutung verliert. Die gesellschaftliche Kraft, die diese Veränderungen bewirken kann, ist nicht die Arbeiterklasse, sondern es ist die Klasse der in der Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung Tätigen, der auf Grund der von ihnen im Rahmen der alten Ordnung verlangten Fähigkeiten diese Aufgabe von allein zuwächst.

 

Im abschließenden fünften Kapitel charakterisiert der Autor das Ende der sozialistischen gesellschaftlichen Entwicklung als eine zwangsläufige Folge der Tatsache, dass die Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus bei weitem nicht ausgeschöpft waren. So konnten soziale theoretische Vorstellungen, so gut sie auch waren, im Wettbewerb mit dem kapitalistischen System nur unter den nach den Weltkriegen herrschenden Bedingungen, aber nicht auf Dauer bestehen.

 

Kritische Schlussbemerkungen:

Die vorliegende Arbeit könnte theoretische Grundlage für die politischen Leitlinien einer Partei wie der Linken sein. Sie begründet als Hauptziel ihres Wirkens die Verbesserung der sozialen Bedingungen der Unterprivilegierten und Ausgegrenzten im Rahmen des existierenden kapitalistischen Systems, wobei der wissenschaftlich-technischen Intelligenz eine tragende Rolle zugebilligt wird, die bisher nicht entsprechend gewürdigt worden ist.

Diese Bedeutung kommt dieser Theorie aber nur dann zu, wenn sie wahr ist, also wenn sie die tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten richtig beschreibt. Wichtig wäre es deshalb, nach Schwachpunkten zu fragen und Unzulänglichkeiten aufzufinden. Solche Schwachpunkte wären m.E.:



[1] Granowski, Alfred: Produktion, Wert, Preis, Profit, Pahl-Rugenstein Verlag 2001