Die Evolution der Evolutionstheorie

 

Nach Rupert Riedl: Kulturgeschichte der Evolutionstheorie

 

Zeitraum und Hauptvertreter

 

Charakteristischer Stand der Erkenntnisse zum Welt- und Menschenbild

 

1. Heroische Phase

 

Frühzeit
Homer

Entstehungsmythologien, Götter erschaffen die ganze Welt
Ilias, Odyssee

Altertum 300 v. Chr.
Platon
Aristoteles

Beginn der Spaltung des Weltbildes
- Ideen als Muster der materiellen Welt, wir sehen nur die Schatten der Ideen
- Entwicklungsreihenfolge: Anorganisches
àPflanzenàTiereàMensch
- noch keine Kausalität

Zeitenwende
 100 v.Chr.
Lukrez

Anknüpfung an Aristoteles, aber das Lebendige entsteht durch Urzeugung aus dem Anorganischen, aus nichts kann nichts werden. Die Natur schafft sich selbst aus Bedürfnis, Gebrauch und durch Selektion

Mittelalter, Giordano Bruno, Kopernikus, Machiavelli, Leonardo, Galilei

Die Lehren des Lukrez werden vergessen, es dominiert die Schöpfungsgeschichte des Christentums gemäß dem 1. Buch Moses, die Schöpfungsreihenfolge der Bibel: Himmel, Erde, Licht à Wasser à Pflanzenwelt à Sonne, Mond und Sterne am Firmament à Tierwelt à Mensch entspricht bereits heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wird aber durch Fossilfunde und Astronomie erweitert.

17./18.Jahrhundert

Maupertuis, Lamettrie, Linnes, Voltaire

Mechanistischer Materialismus
Wissenschaftliche Erkenntnisse werden geordnet, der Einfluss von Klima und Umwelt auf die Entstehung und Entwicklung des Lebendigen wird erkannt und diskutiert, statt in Jahrmillionen aber wird in Jahrhunderten gedacht.

Um 1800
Buffon, Lamarck, 
Erasmus Darwin

Positivismus orientiert auf das empirisch Erkennbare, die Deutung bleibt fragwürdig, nicht Wahrheit, sondern Nützlichkeit stehen im Vordergrund.
Lamarck erkannte klar die Ähnlichkeit der systematisch geordneten Arten und Gattungen und erklärte sie durch gegenseitige Abstammung. Er unterstellte eine Vererbung erworbener Eigenschaften und stellte heraus, dass für die Entstehung einer neuen Art aus einer vorhandenen wesentlich mehr Zeit verstrichen sein müsste, als die von der biblischen Geschichte zugestandenen und bis dato nicht angezweifelten 4000 Jahre.

18./19.Jahrhundert
Cuvier, Geoffroy Saint-Hillaire, Goethe

Empirische Morphologie: Wahrnehmung und ihre Deutung bilden gemeinsam die Grundlage der Erkenntnis, Erkennen aber hat Vorrang vor der Erklärung und ist deren Voraussetzung.

Beginn 19.Jahrhundert
Malthus, Lyell, Spencer

Durch den Soziologen Malthus wurden die Bedingungen der Populationsentwicklung ins menschliche Bewusstsein gebracht, der Geologe Lyell zeigte anhand geologischer Entwicklungen die Unhaltbarkeit des biblischen Zeitmaßstabes und Spencer entwickelte aus seiner Philosophie heraus ein Entwicklungs- und Fortschrittskonzept, das bei Tieren auf Anpassung an ihre natürliche Umwelt, durch Vererbung von Funktionsänderungen und Ausmerzung der Nichtgeeigneten, beim Menschen auf Anpassung an seine soziale Umgebung beruhte.

Döllinger, Burdach, Baer

Im Gegensatz dazu vertrat Baer 1828 in seinem Hauptwerk "Über die Entwicklungsgeschichte der Thiere" die Auffassung, dass die Entwicklung aller Wirbeltiere einem Grundplan folgte, so wie die Entwicklung aller Mollusken einem anderen. Von Anpassung und Selektion war nicht die Rede.

19. Jahrhundert

Charles Darwin,

Darwin folgt im wesentlichen der Theorie von Lamarck.

- Arten verändern sich und stammen voneinander ab, der Mensch inbegriffen

- Die am besten angepassten Individuen werden selektiert und überleben

- Die erworbenen angepassten Eigenschaften werden auch vererbt

- Pangenetische Vererbungstheorie: die erworbenen Eigenschaften aller Zellen sind in Stoffen fixiert, die über den Blutstrom im Körper verteilt werden und so in die Keimzellen gelangen. Die Mendelschen Gesetze kennt Darwin nicht.

Darwin kennt aber bereits folgende Phänomene, die sich nicht durch Anpassung und Selektion, sondern nur durch innere Bedingungen erklären lassen und vertritt deshalb seine Theorie nur zurückhaltend:
- Missbildungen in der Embryonalentwicklung

- Atavismus, Merkmale aus der vergangenen Stammesentwicklung
- Doppel- und Mehrfachbildungen nach Verlust von Organen

- Nachbildung von Organen an falschen Stellen

Um 1890
Alfred Russel Wallace

Der Darwinismus:

Wallace vertritt die gleichen Auffassungen  wie Darwin nur  in Bezug auf die Lehre von Abstammung, Anpassung und Selektion, nennt diese reduzierte Theorie aber als erster Darwinismus. Die Vererbung erworbener Eigenschaften und die Pangenetische Vererbungstheorie lehnt er ab, ohne zu bemerken, dass die Selektion damit für die Abstammungslehre wirkungslos wird. Die von Darwin bereits erkannten, nicht erklärbaren Phänomene und die Theorie von Baer ignoriert er ganz. Hiermit wurde der zwischen Lamarck und Darwin gar nicht vorhandene Gegensatz zwischen Lamarckismus und Darwinismus erst konstruiert.

Um 1900
Ernst Haeckel, Ludwig Plate

"Alt-Darwinismus"
Haeckel macht die Reduktion der Darwin/Lamarckschen Lehre auf Wallaces Darwinismus nicht mit, greift die Lehre von Baer auf und entwickelt sie weiter. Die Embryologie liefert ihm neue Beweise für die Abstammungslehre und er formuliert das biogenetische Grundgesetz: Die Ontogenie ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenie. Seine "Natürliche Schöpfungs-geschichte"  begründet eine Naturreligion und stößt auf heftigen Widerstand kirchlicher Kreise, obwohl er noch einen Schöpfer anerkennt und der Mensch noch nicht als Zufallsprodukt blinder Naturgesetze verstanden wird. Die ideologische Spaltung der Evolutionstheorie aber ist vorbereitet.

 

2. Ideologische Phase

Stand bis 1910

Die Abstammungslehre scheint bewiesen aus folgenden Erkenntnissen:

- Systematik der Stämme, Gattungen und Arten

- Ähnlichkeiten und Homologien unterschiedlicher Gattungen und Arten

- Paläontologie, Fossilfunde von Entwicklungsreihen und Zwischengliedern

- Embryologie, Wiederholung der Phylogenie in der Ontogenie

-Tiergeografie, Verbreitungsgebiete und -barrieren der Arten

Da es für die Evolution aber keine einheitlichen Erklärungen gab, wurde das Welt- und Menschenbild durch die Abstammungslehre kaum beeinflusst. Die Welt machte einen geordneten Eindruck und blieb nach Ansichten des privaten Lebens weiterhin geteilt in kreationistische und evolutionäre Anteile.

Bis 1930




Haeckel,Plate,Naegeli

Weismann, de Vries, Batson

Roux






Kammerer




Neumayr
Pauly, France, Wagner

Widersprüchliche Erklärungen für folgende Fragen:
- Wie kommt es zu den Veränderungen in den Organismen ?

- wie werden diese erblich ?
- wie kommt es zur inneren Abstimmung der Organentwicklung ?

Unterschiedliche nichtzusammenhängende Theorien:

- altdarwinistische Pangenesetheorie

- Keimbahntheorie von Weismann; keine Beeinflussung der Keimzellen durch Körperzellen, Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze, Entdeckung spontaner zufälliger Mutationen à Neodarwinismus
- Selektion durch Katastrophen oder durch Konkurrenz zwischen Arten oder
im Räuber-Beute-Verhältnis oder durch Bevorzugung der Schnelleren, Kräftigeren oder Schöneren innerhalb einer Art
- große mutative Änderungen schädigen fast immer, aber

kleine mutative Änderungen führen nicht zur Selektion

- geringe Chance gleichzeitiger Änderung mehrerer Merkmale zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen, doch adaptieren Teile funktioneller Organsysteme offenbar gemeinsam

- zur Bestätigung der Vererbung erworbener Eigenschaften angelegte Experimente werden fehlgedeutet, obwohl diese tatsächlich lediglich zeigen, dass durch veränderte Umweltbedingungen auf frühere Organentwicklungen zurückgeschaltet werden kann:
fehlgedeuteter Atavismus
à Neolamarckismus
- nicht adaptiv begründbare fossile Entwicklungsreihen

- Zweckmäßigkeit des Bauplans aller Organismen sei auf eine Intelligenz alles Lebendigen zurückzuführen à Vitalismus

Es stellen sich 3 unvereinbare Welt- und Menschenbilder zur Diskussion:
- der Mensch als Zufallsprodukt (Neodarwinismus)

- der Mensch als Milieuprodukt  (Neolamarckismus)

- der Mensch als Planung der Schöpfung (Vitalismus)
in diesen widerspiegeln sich die politisch-soziologischen Strömungen des
- Liberalismus
- Marxismus

- religiösen Mystizismus

1950
Kossel, Watson, Crick

Die Molekulargenetik weist nach, dass die Doppelhelix der DNA der Träger der Erbsubstanz ist und über die Boten-RNA (mRNA) und die Transfer- oder tRNA-Moleküle  aus Aminosäuren in den Zellen die Proteine zusammengesetzt werden. Dieser Syntheseapparat ist eindeutig von der Erbsubstanz zu den die Körpersubstanz aufbauenden Proteinen gerichtet und bestätigt damit die Weismannsche Keimbahntheorie und widerlegt die Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften und damit den Neolamarckismus.

1960
Jacob, Monod









Teilhard de Chardin

 

 

 

 


Ernst Mayr, Simpson, Dobzhansky

Entdeckung der Regulator- und Operatorgene, die in Abhängigkeit von der chemischen Zusammensetzung der Zelle die Synthesetätigkeit der Strukturgene in Gang setzen oder stoppen. Damit ergibt sich die Möglichkeit einer Rückwirkung der Körpersubstanz auf die Vererbung dieser oder jener Eigenschaft. à epigenetische Vererbung
Diese Entdeckung gab dem Neodarwinismus weiteren Auftrieb, ermöglichte sie jedoch die richtige Deutung der Experimente Kammerers ohne auf die Vererbung erworbener Eigenschaften zurückzugreifen. Monod begründete darauf aufbauend die philosophische Theorie des Menschen als reines Zufallsprodukt. Dennoch bot diese Theorie noch keine Handhabe zur Erklärung der Genese der großen Stämme des Tier und Pflanzenreiches und ihrer durch die Paläontologie bewiesenen richtungnehmenden Abläufe, wie sie der Jesuit und Paläontologe Teilhard in seinem 1959 erschienen Werke "der Mensch im Kosmos" beschrieben und als von Gott prästabilisierte Harmonie dargestellt hat.
Auch die Neodarwinisten Ernst Mayr (Systematiker), Simpson (Paläontologe) und Dobzhansky (Genetiker), bemühten sich vergeblich, in einer "Synthetischen Evolutions-Theorie" die offenen und widersprüchlichen Fragen der biologischen Teildisziplinen einer gemeinsamen Lösung zuzuführen. Es wurden neue Konzepte der Populationsdynamik entwickelt und der Artbildungsprozess auf geografische, ökologische oder ethologische Trennungen zurückgeführt, man beschränkte sich aber auf die Mikroevolution und fand für die Makroevolution der Gattungen, Ordnungen, Klassen und Stämmen keine Lösungen und ignorierte die Erkenntnisse der Morphologie. So führten die großen Erkenntnisfortschritte der letzten 50 Jahre zu keiner wesentlichen Veränderung des Welt- und Menschenbildes.

Bis 1970

 

Morowitz





Thompson, Driesch, Beralanffy




Marinelli


Adolf Remane, Teilhard

Für die verlässlichsten Belege der Evolutionstheorie fehlten weiterhin die Erklärungen.  Folgende Fragen waren noch offen:

- rein statistisch reicht die Anzahl der Gene der Organismen nicht aus, um deren sämtliche Eigenschaften und Merkmale zu codieren. Die zufällige Mutationsrate der Einzelgene reicht nicht aus, um die Entwicklungs-geschwindigkeit der Organismen zu begründen. Die komplexe Hierarchie der Organismen müsste sich in einer ebenso komplexen Hierarchie der Gene widerspiegeln.

- eine Vielzahl genetisch ausgelöster Organveränderungen ist experimentell beobachtet, die einen Prozess der inneren Abstimmung voraussetzen, dessen Mechanismus noch völlig unbekannt war.

- das Vorhandensein von Atavismen, diesen Überbleibseln früherer Ausstattungen, deren Wiederauslösbarkeit und deren Wiederholung in der ontogenetischen Entwicklung konnte noch immer nicht erklärt werden.

- komplexe, funktionell geschlossene Baueinheiten wiedersetzen sich der Adaptierung, sind so alt wie die Tierstämme und der Schichtenbau der Baupläne. Der Zusammenhang ist deutlich, die Ursache aber noch offen.
- Entstehung und Entwicklung der Stammbäume ist paläontologisch und morphologisch belegt, wird durch den Neodarwinismus aber nicht erklärt.
- Für die Morphologie gab es keine wissenschaftlich begründete Methodik, sie wurde rein auf der Grundlage von Intuition betrieben. Die nicht klare Trennung zwischen "Erkennen" und "Erklären" hatte zur Folge, dass die biologische Systematik nicht als natürlich vorhandenes System, sondern als menschengemachtes Ordnungssystem der Biologie betrachtet wurde.

 

Die Erwartung einer empirisch erfassbaren, sich selbst ordnenden Natur steht immer noch zwischen zwei Fronten:
- dem Kreationalismus der christlichen Lehre und des deutschen Idealismus

- und dem linearen Denk- und Ursachenkonzept des naturwissenschaftlichen Rationalismus

 
ab 1970

 

3. Systemische Phase

Systemtheorie des Erkennens
Konrad Lorenz
Erhard Oeser
Manfred Wuketits

Evolutionäre Erkenntnistheorie: Gestaltwahrnehmung entwickelt sich bereits bei Tieren und deren Weltbildapparat ist der Vorläufer des ratiomorphen Apparates des Menschen. Deshalb ist unsere ratiomorphe Interpretation der Welt kein reiner Unsinn, sondern Voraussetzung des Lebenserfolges. Bereits im Unbewussten wird die reale Welt für viele Zwecke ausreichend richtig interpretiert.

 

 Das biologische Ordnungssystem hat unscharfe Ränder und Grenzen, weil in der realen Natur diese Übergänge vorhanden sind. Deshalb können auch Begriffe und Kategorien nicht beliebig scharf definiert werden.

 

Empirische Einsicht folgt der Komplexität der Naturordnung. In der Natur entstehen komplexe Systeme nicht durch Zusammenfügung fertiger Bausteine, sondern durch Abgrenzung aus dem komplexen Zusammenhang ihrer Umgebung und Differenzierung  ihrer Bestandteile in Untersystemen. In homologer Weise entstehen empirische Ordnungssysteme durch das Prinzip der wechselseitigen Erhellung.

 

Wiederholt empirisch festgestellte Zusammenhänge werden von uns bereits unterbewusst als Ursache - Wirkungszusammenhang interpretiert. Das kann aber eine unzulässige Extrapolation sein. Nur durch rationales Denken kann die eventuelle Unzulässigkeit einer solchen Extrapolation aufgeklärt werden. Daraus entsteht in der Evolution der Überlebensvorteil rationaler Denker. Theoretische Systeme müssen aber nicht unbedingt exakt beweisbar sein, es genügt für menschliche Zwecke eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wahrheit.

In diesem Sinne ist die biologische Systematik der Organismen ein mit hoher Wahrscheinlichkeit natürliches System.

 

Naturwissenschaften beruhen auf Erklärungen durch wirkende Kräfte und Ursachen, Geisteswissenschaften auf Erklärungen durch Sinn und Zweck. Deshalb die Welt in Materie und Geist zu zerlegen ist unangebracht und bedarf der wechselseitigen Erhellung.

Systemtheorie des Erklärens
Bertalanffy, Weiss,
Köstler, Riedl,
Waddington

Die in der synthetischen Theorie des Neodarwinismus nicht erklärbaren Phänomene betreffen im wesentlichen die Evolution, Anpassung und Selektion komplexer Organsysteme. Sie können durch folgende Annahmen Riedls erklärt werden:

- komplexe hierarchisch aufgebaute Körperstrukturen werden durch analog aufgebaute komplexe Genstrukturen kodiert. Schalt- und Operatorgene organisieren die Ontogenese nach codierten Bauplänen.

- zufällige Mutationen der Schalt- und Operatorgene führen zu aufeinander abgestimmten Variationen komplexer Organstrukturen.

- die Selektion setzt an der Funktionsfähigkeit und Angepasstheit komplexer Organstrukturen an.

- alle Erscheinungsformen von Atavismus wie auch die Embryonal-entwicklung beruhen auf der Erhaltung alter Entwicklungsmuster und ihrer Ein- und Ausschaltung durch genetische oder epigenetische Ursachen
- die hierarchische Kopplung der funktionsverbundene Phäne kodierenden Gene erhöht die Chance und die Geschwindigkeit der Adaptierung und wird deshalb positiv selektiert. Dies bedeutet eine Genselektion infolge innerer Bedingungen und ermöglicht indirekt eine Rückkopplung erworbener Eigenschaften auf die Genomarchitektur.

- die Genkopplung zeigt jedoch auch eine entgegengesetzte Wirkung: verlangt die Milieu-Anpassung die Beibehaltung eines Teiles und die Veränderung eines anderen Teiles der gekoppelten Funktionalität, so wird diese Variation extrem erschwert. Die Adaption an veränderte Bedingungen wird verhindert. Dies erklärt sowohl die Beibehaltung einmal eingeschlagener Wege der Stammesentwicklung als auch die Konservativität mehrfach vorhandener Bauteile mit Mehrfachfunktionalität, während neue Entwicklungen schneller mutieren.

 

Mit diesen Erklärungen ergibt sich ein im wesentlichen geschlossenes Bild der biologischen Evolutionstheorie.

Die neue Spaltung

Das neue Welt- und Menschenbild wird immer weniger von den speziellen Problemen der biologischen Evolutionstheorien und immer mehr von interdisziplinären, fachübergreifenden, bis in die Gesellschaftsentwicklung wirkenden Grundanschauungen und Einsichten geprägt. Dabei stehen sich zwei Grundtendenzen gegenüber:

- Komplexe Systeme werden durch Reduktion auf ihre Grundbausteine in ihrer Funktionalität immer mehr verstanden und von da aus verändert. Die Vorstellung von der Machbarkeit dieses Konzeptes ist in Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft weit verbreitet und kommt klar in der weiten Verbreitung liberalistischer Bestrebungen zum Ausdruck. Das Auftauchen emergenter Eigenschaften in komplexen Systemen wird zwar konstatiert und akzeptiert, aber das Wesen dieser Emergenz ist noch immer unverstanden. Trotzdem wird an den Bausteinen immer weiter herumgebastelt, um das System zu verändern und zu verbessern, ohne jedoch zu wissen oder voraussagen zu können, in welcher Weise das System als Ganzes reagieren wird. Dieser Zustand wird weitgehend hingenommen.

- Auf der anderen Seite regt sich diffuser Widerstand gegen diese lineare Dynamik. Komplexe Systeme reagieren mit einer rückgekoppelten Kausalität und lassen sich nicht von ihren Elementarbausteinen aus regulieren. Die Emergenz verleiht dem System eine gewisse Selbständigkeit. Diese Emergenz kommt z. B. auch in Gesellschaftssystemen zum Ausdruck, in denen sich Bürgerbewegungen gegen diese reduktionistischen Machbarkeitsansprüche organisieren und zur Wehr setzen. So repräsentieren die Umweltbewegungen ein holistisches Prinzip, das den Tendenzen ungebremsten Wachstums entgegensteht, in gewisser Weise die Interessen des Gesamtsystems vertritt und die Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen in den Vordergrund bringt.

Der Zeitgeist

Die Evolutionstheorie und ihr Wandel sind Teil unserer Kultur- und Geistesgschichte. Dabei sind metaphysische Konzepte, Juden- und Christentum, Islam, Buddhismus, Empirismus und Rationalismus, Materialismus und Idealismus  von längster Dauer. Sie rühren aus der Notwendigkeit, Leben und Schicksak irgendwie zu deuten und dem Erkenntnisvermögen eine Grundlage zu geben.

Die Weltbilder der Wissenschaften wandeln rascher. Sie folgen einem additiven Prinzip, bauen aufeinander auf und das alte wird Bestandteil des neuen.

Die Weltbilder der Künste von den Stilen bis zu den Moden sind nicht additiv, sondern auslöschbar und repräsentieren den jeweiligen Zeitgeist.

Die Entwicklung der Evolutionstheorie widerspiegelt in allen ihren Phasen den jeweiligen Zeitgeist, auch wenn ihre Schrittmacher diesem häufig voraus waren.

Zwischen der Entwicklung des Zeitgeistes und der Theorie der Evolution gibt es einen sich selbst schöpfenden Systemzusammenhang. Trotz aller Zufälle und Schwankungen zeigt sich eine deutliche Richtungshaftigkeit, ein übergeordnetes Entwicklungsprinzip, demzufolge sich entgegen dem Wachstum der Entropie fortgesetzt komplexe geordnete Strukturen bilden.

Durchgesetzt wird es, indem geordnete Systeme neue Erhaltungbedingungen gewinnen, deren Erhaltungszeit mit zunehmender Komplexität immer kürzer wird.

Im Wandel von Zeitgeist, Evolutionstheorie und Menschenbild ist weder ein sinnloses kosmisches Getriebe noch eine prästabilisierte Harmonie zu erkennen, jedoch zeigt sich, dass der Mensch seine Herkunft, seine Geschichte, die Bescheidenheit seiner Austattung, seine Überheblichkeit, seine Verflechtung im Komplexen und seine Verantwortlichkeit für die Welt immer besser verstanden hat und seine widersprüchlichen Vorstellungen auf eine poststabilisierte Harmonie zulaufen.