Evolution des Gewissens
Zusammenfassender Kommentar zum Buch von E. und R. Voland
1. Evolution macht vergessen
Amnesie der Gründe
Alle Eigenschaften und Verhaltensweisen der Evolutionsakteure sind in der Evolution deshalb entstanden, weil sie deren Überlebens- und Fortpflanzungschancen erhöhten. Diese guten Gründe werden uns aber später nicht mehr bewusst, sie werden vergessen. Die Verhaltensweisen aber bleiben und werden „instinktiv“ verfolgt. Egoismus ist eine Eigenschaft, deren überlebensfördernde Wirkung offensichtlich ist. Altruismus und Gewissen aber hemmen den Egoismus. Worin besteht ihr Nutzen für das Individuum? Und worin unterscheiden sich Gewissen und Altruismus?
Gewissensfreier Altruismus
Die verschiedenen Spielarten des Altruismus bei in sozialen Gemeinschaften lebenden Individuen erklären sich in jedem Fall aus den überwiegenden Vorteilen, die die Individuen aus dem Zusammenleben in der Gemeinschaft für ihren Lebensreproduktionserfolg erzielen. Damit bestätigt sich die Grundthese der Evolutionstheorie, dass sich auch altruistische Gene durchsetzen, wenn sie den größeren Lebensreproduktionserfolg versprechen.
Die Erklärungslücke
Gewissen fällt moralische Urteile, die per definitionem über Altruismus hinausgehen und keine, auch keine indirekten persönlichen Vorteile versprechen. Als persönliche Eigenschaft des Individuums entzieht es sich damit einer evolutionär begründbaren Erklärung seiner Entstehung. Es wirkt unabhängig von den mit ihm verbundenen Konsequenzen. Seine Entstehung bedarf daher einer gesonderten Erklärung, die im Mittelpunkt der weiteren Erörterungen steht.
2. Was ist und was macht das Gewissen?
Gewissen ist eine Eigenschaft des Bewusstseins, die bei 97% der Menschen aller Kulturkreise nachweisbar ist. Die Eigenschaft als solche ist unabhängig vom jeweiligen Kulturkreis, wenn man beachtet, dass zwar die jeweiligen Ziel- und Werteorientierungen unterschiedlich und vielfältig sind, die Natur und die Wirkungsweise des Gewissens aber davon unabhängig und einheitlich sind. Die Entstehung des Gewissens und seine Natur sind bisher wenig erforscht.
Gewissen äußert sich durch moralische Emotionen wie Scham oder Schuldgefühl. Schuld bezieht sich dabei auf Handlungen, Scham auf innere, mit den Eigenschaften der Persönlichkeit zusammenhängende Verhaltensweisen. Schuldgefühle kann man durch Verlagerung der Verantwortung auf andere Personen oder durch Wiedergutmachung abweisen, Scham führt zur Minderung des Selbstwertgefühls und wird eher verborgen. Ob Gewissen das Verhalten kausal beeinflusst oder lediglich kommentiert, ist wissenschaftlich noch nicht geklärt. Da es nur intrapersonal erlebt wird und bewusst rational geäußert werden muss, ist es der Erforschung schwer zugänglich.
Im Einzelnen werden dem Gewissen folgende Eigenschaften und Wirkungsweisen zugeschrieben:
Das Gewissen wird durch ein asymmetrisches Bewertungssystem repräsentiert, das die negative Seite überbetont.
Das Gewissen eröffnet eine zweite Perspektive, in der sich das Individuum von außen sieht.
Die Inhalte, auf die sich das Gewissen bezieht, sind völlig unbestimmt und können sehr vielfältig sein.
Obwohl das Gewissen vielfach identisch mit dem Sittenkodex einer Gesellschaft zu sein scheint, besitzt es auch ein Potenzial für Nonkonformität.
Im Gegensatz zu moralischen Urteilen bleibt die Gewissensaktivität auf das eigene Handeln beschränkt.
Gewissensdruck erfordert Handeln, nur Handeln ermöglicht die Beruhigung des Gewissens.
Das dem Gewissen entstammende moralische Urteil ist vorwiegend nicht das Ergebnis eines bewusst kontrollierten rationalen, sondern eines automatisierten, gefühlsgeleiteten intuitiven Prozesses.
Von ihrem Gewissen getriebene Menschen handeln ohne Rücksicht auf absehbare Verluste oder Strafen aus sich selbst heraus.
3. Wo ist der Ort des Gewissens?
So wie Egoismus notwendig ist für die Sicherung des Überlebens des Individuums, ist Altruismus notwendig für die Eingliederung des Individuums in eine Gruppe. Der Altruismus der Individuen erhöht den Lebensreproduktionserfolg der Gruppe, der das Individuum angehört. Er richtet sich auf den Nutzen innerhalb der Gruppe und gegen die Interessen der Konkurrenten außerhalb der Gruppe. In dieser Funktion entspricht er vollständig den Prinzipien der Evolution und ist als Ergebnis der Evolution entstanden.
Die Navigatortheorie geht davon aus, dass das moralische Verhalten eines Individuums davon bestimmt wird, wie viel Egoismus und Altruismus in der jeweiligen aktuellen Situation einen optimalen Nutzen für das Individuum verspricht. Dieser Ansatz wäre konform mit einer evolutionären Erklärung von Moral, ist aber nach Ansicht der Autoren zur Erklärung des Gewissens nicht ausreichend. Aus dem Gewissen abgeleitete Moral geht darüber hinaus.
Das Dilemma der Gewissensmoral, von dem auch das sog. Gefangenendilemma erzählt, besteht darin, dass eine Moral gefordert wird, die in ihrer letzten Konsequenz den Interessen des handelnden Individuums entgegenläuft und die deshalb gerade nicht durch evolutionäre Selektion entstanden sein kann. Es ist eine Regel einzuhalten, deren Folgen nicht in Betracht zu ziehen sind. Das Dilemma kann auch nicht durch Annahme von Sanktionen bei Nichtbefolgung der Regel beseitigt werden. Sanktionen heben das Problem nur auf die nächsthöhere Ebene, denn wer soll die Kosten der Sanktionen tragen, wenn er davon keine Vorteile hat? Letztendlich wird so das Problem an eine göttliche Aufsicht delegiert.
Das menschliche Moralverhalten scheint in zwei getrennte Moralsysteme gespalten, die sich aus voneinander unabhängigen Quellen speisen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, die sich auch widersprechen können. Die aus dem Gewissen abgeleitete Moral ist verschieden von der evolutionär adaptiven altruistischen Moral. Welche Moral angewendet wird, entscheidet das Individuum. Es besteht der Eindruck, als würde Gewissensmoral vorwiegend in Situationen eingesetzt, die sich auf Verwandte und persönlich bekannte Personen beziehen.
4. Wem nützt das Gute?
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass durch das Gewissen das Wohlbefinden und der Lebensreproduktionserfolg des betreffenden Individuums negativ beeinflusst werden. Es scheint deshalb ausgeschlossen, dass das Gewissen evolutionär biologisch adaptiven Ursprungs ist. Die beiden Autoren versuchen deshalb eine Helfertheorie zu etablieren, welche die Entstehung des Gewissens auf den während der ontologischen Entwicklung des Individuums auftretenden Eltern – Kind – Konflikt zurückführt.
Gewissensgenese im Spannungsfeld des Eltern/Kind – Konflikts
Neueste psychologische Untersuchungen zeigten, das Kinder bereits im sehr frühen Alter unter dem Einfluss ihrer Eltern und Erzieher ein moralisches Verhalten verinnerlichen und vorgegebene Regeln befolgen, die soziale Kontakte erleichtern und regulieren. Dies geschieht offenbar auf der Grundlage eines angeborenen, prosozialen Verhaltens, das eine spontane Hilfsbereitschaft erkennen lässt. Kinder befolgen vorgegebene Regeln aus Angst, die Liebe ihrer Eltern zu verlieren, ohne deren weitere Konsequenzen zu übersehen. Sie verinnerlichen damit die Anschauungen ihrer Eltern, die ihnen gegenüber Altruismus verlangen, womit die Grundlagen des Gewissens gelegt werden, das keinerlei rationales Verständnis der Konsequenzen verlangt.
Der genetische Eltern/Kind – Konflikt
Verhaltenseigenschaften werden um so stärker genetisch fixiert, je größer ihre genetische Fortpflanzungswahrscheinlichkeit ist. Bei der Säugung der Kinder wirkt sich das so aus, dass die Mutter genetisch veranlagt ist ihr Kind so lange zu stillen, wie der erzielte Nutzen für das Kind größer ist als der Nutzen, den ein weiteres Kind ziehen könnte. Das Kind jedoch ist genetisch veranlagt so lange die Säugung zu verlangen, bis ein mögliches Folgekind, das zu 50% die gleichen Gene besitzt, ebenso zur Verbreitung dieser Gene beitragen könnte. Hieraus resultiert das Baby-Geschrei genau in der Entwöhnungsphase zwischen diesen Zeitpunkten, das danach spontan aufhört.
Der zeitlich begrenzte Helfer – Konflikt
In einer Fortpflanzungsgemeinschaft wie der Familie werden solche Verhaltenseigenschaften genetisch fixiert, die den Reproduktionserfolg der Familie insgesamt optimieren. Je nach den konkreten Lebensbedingungen hat die Evolution drei verschiedene Strategien zur Maximierung des Reproduktionserfolgs entwickelt:
Maximierung der Zahl der Geburten
Maximierung des Brutpflegeaufwandes erhöht die Überlebenschancen
Erziehung und Ressourcenvererbung zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der Kinder
Gemessen am Reproduktionserfolg der Familie entwickelt sich der familiäre Altruismus der Eltern solange, wie der dafür notwendige Aufwand kleiner ist als der Nutzen für die Familie. Der Altruismus der Kinder aber wird erst genetisch fixiert, wenn der Nutzen für die Familie das Doppelte des Aufwands übersteigt, den das Kind dafür zu erbringen hat, weil Geschwister nur 50% der Gene im Durchschnitt gemeinsam haben. Grundsätzlich erwarten Eltern deshalb von ihren Kindern mehr familiären Altruismus, als diese im eigenen Interesse zu leisten gewillt sind. Während jüngere Kinder mehr familiäre Ressourcen verbrauchen als sie für die Familie beitragen können, kehrt sich dieses Verhältnis mit zunehmendem Alter um, was zur Ablösung des Kindes von der Familie führt. Aus diesen Verhältnissen ergeben sich die Eltern/Kind – Konflikte bei der Bewertung der Helferrolle der Kinder in der Familie. Möglicherweise hat die optimale Lösung dieser innerfamilären Konflikte wesentlich dazu beigetragen, dass die Gattung Mensch die Ressourcen mobilisieren und konzentrieren konnte, die ihr den evolutionären Vorsprung gegenüber dem Tierreich ermöglichten. Damit einher geht eine verlängerte Kindheit und Jugendzeit, die auch der Ausbildung einer Gewissensmoral sicher dienlich war.
Die Eskalation des Helfer – Konflikts
In einigen Gesellschaften eskaliert der zeitlich begrenzte Helferkonflikt und zeigt sich je nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen. Grundlage ist immer, dass Eltern ihre Kinder altruistisch so erziehen, dass diese ihre eigenen Interessen hinter die der Eltern und der Familie zurückstellen. Häufig sind die gesellschaftlichen Umstände und die ökonomischen Verhältnisse so gestaltet, dass es für die Familie nützlicher ist, wenn eines der Kinder gegenüber den übrigen besonders gefördert und hervorgehoben wird, anstatt alle Kinder gleichmäßig zu bedenken. Ausdrucksformen dieser Haltung zeigen sich in
der Erziehung der Kinder zum Zölibat und zur Unterdrückung ihrer eigenen Reproduktion
Auswahl des erstgeborenen Sohnes zum Kronprinzen und Erziehung und Vorbereitung der übrigen Nachkommen für ein Leben im Kloster
der erstgeborene Sohn erbt den Hof, die anderen werden Mägde und Knechte
die älteren Töchter werden zu Helfern und Erziehern für die jüngste Tochter, die als Nachfolgerin der Mutter eine besondere Ausbildung und Mitgift erhält und möglichst günstig zu verheiraten ist.
Die Kinder werden zur Arbeit in die Welt geschickt und haben mit ihrem Einkommen die zurückgebliebene Familie zu unterstützen.
Solche Verhaltensweisen werden evolutionär nicht mehr vorzugsweise von der Selektion der Gene herausgebildet und gefördert, sondern bilden sich erst in der kulturellen Evolution aus, in der der Lebenserfolg weniger durch die biologische Fitness als vielmehr durch den ökonomischen Erfolg und seine gesellschaftliche Repräsentation bestimmt wird. Die Motivation der individuell benachteiligten Familienmitglieder kann dann nicht mehr aus egoistischen Szenarien abgeleitet werden, sondern erfordert eben eine ausgeprägte Erziehung zu kollektiver Wertschätzung und zu Eigenschaften wie Heldentum und Opferbereitschaft, die eine stabile Grundlage im Gewissen finden müssen.
Eine weitere Eskalation dieses Szenarios zeigt sich in seiner Ausdehnung über die Familiengrenzen hinaus, indem Mitglieder der Familie zum Militärdienst und für öffentliche Dienste rekrutiert und gewissensmoralisch verpflichtet werden, im Extremfall bis zum Selbstmordattentat.
5. Die Perspektive der Kinder
Menschenkinder kommen unselbständig zur Welt und sind besonders in den ersten Lebensjahren auf die Fürsorge und Betreuung durch die Eltern angewiesen. Die Liebe und Fürsorge der Eltern müssen sie sich durch Gehorsamkeit erkaufen. Gehorsame Kinder werden besser betreut als ungehorsame und haben deshalb höhere Überlebens- und Fortpflanzungschancen. Dies sind die evolutionären Bedingungen dafür, dass besonders jüngere Kinder bedingungsloses Vertrauen in ihre Eltern setzen und deren Ansichten und Anweisungen kritiklos übernehmen und ausführen. Der von den Eltern geforderte familiäre Altruismus wird deshalb vielfach übernommen und verinnerlicht. Er bildet die Grundlage für die auch im späteren Leben wirksame Gewissensmoral. Erst ältere und selbständig werdende Kinder sind in der Lage, die elterlichen Ansichten und Anweisungen kritisch zu hinterfragen und damit die zweite Säule des Altruismus aufzubauen, die nach dem gegenseitigen Vorteil fragt. Nach Ansicht der Autoren besteht das menschliche Moralsystem aus genau diesen beiden Säulen, einer altruistischen Moral, die optimale soziale Vorteile sucht, und einer Gewissensmoral, die auf den in der Kindheit anerzogenen Regeln und Normen beruht. Letztendlich sind es deshalb die Eltern, welche die für das Gewissen verantwortlichen Gene herausselektieren, in dem sie die gehorsamen Kinder bevorzugen und ihnen bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen bereiten.
6. Der evolutionäre Ursprung der Gewissensmoral
Eine Gegenüberstellung der Navigatortheorie und der von den Autoren entwickelten Helfertheorie des Gewissens weist eindeutig darauf hin, dass die im Abschnitt 2. dargelegten Eigenschaften des Gewissens sich weitaus besser aus der Helfertheorie ableiten lassen. Es muss daher angenommen werden, dass sich das typisch menschliche Gewissen im Zusammenhang mit der Entwicklung der kooperativen familiären Fortpflanzungsgemeinschaften des Menschen herausgebildet hat, die auch die Verlängerung von Kindheit und Jugendzeit ermöglicht haben. Die durch die Abhängigkeit von den Eltern entstandene Gewissensmoral befördert eindeutig nicht den Egoismus des Individuums, sondern das Wohl der Familie. Ihre Ausdehnung über die Familie hinaus ist dann als Relikt der ontologischen Entwicklung zu betrachten und bedarf weiterer Erforschung.
6.8.2014
Bertram köhler