Zum Entwicklungsstand eines Gesellschaftssystems

1. Entsprechend den Überlegungen zur Strategie der Evolution wäre der Entwicklungsstand eines Gesellschaftssystem durch die Komplexität seiner wirtschaftlichen und politischen Strukturen bestimmt. In dieses Bewertungsmaß geht sowohl der Umfang und die Vielfalt des Produktionssortimentes wie auch der hierarchische und netzartige Aufbau seiner politischen und wirtschaftlichen Strukturen, der Lebensstandard und die Kulturlandschaft ein.

2. Gesellschaftlicher Fortschritt ist die Zunahme der Komplexität des Gesellschaftssystems. Fortschrittliche Parteien und Organisationen fördern durch ihre Tätigkeit die Komplexität des Gesellschaftssystem, konservative sind an der Erhaltung des bestehenden Systems interessiert und reaktionäre Parteien wollen die Komplexität einschränken und auf früher vorhandene Zustände reduzieren.

3. Die Zunahme der Komplexität des Gesellschaftssystem erfordert zwangsläufig auch eine Zunahme der zentralen Regulierung des Gesamtsystems, wobei natürlich die Selbstregulierung untergeordneter Teilsysteme eine unerläßliche Voraussetzung ist, auf die nicht verzichtet werden kann, und die zentrale Regulierung auch aus einer Selbstorganisation der Ordnungsparameter des Gesamtsystems erwachsen muß.

4. Schätzt man die politische Entwicklung der DDR unter diesen Gesichtspunkten ein, so kommt man zu der Schlußfolgerung, daß in den Anfangsjahren beim Aufbau neuer Strukturen enorme fortschrittliche Leistungen zu verzeichnen waren, während etwa ab 1980 reaktionäre Tendenzen auftraten und ausgesprochen konservative Elemente sich durchsetzten und das Urteil der Geschichte dementsprechend ausfiel. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte auch die faktische Unterschätzung der Rolle der Gesellschaftswissenschaften und deren notwendiger Weiterentwicklung. Obwohl die Ende der sechziger Jahre entstandene Systemtheorie der politischen Ökonomie des Sozialismus wesentliche Elemente der Selbstregulierung der Wirtschaftseinheiten theoretisch begründete, wurden diese nie konsequent in die Praxis überführt. Deshalb war die zunehmende Komplexität der Wirtschaftsstrukturen durch zentralistische Führung nicht mehr zu bewältigen. Derartig komplexe Systeme sind auf die in der Evolution bewährten Methoden der selbständigen Ausselektierung uneffektiver Teilsysteme angewiesen , wenn die Fehlerrate bei der Reproduktion des Gesamtsystems hinreichend klein und die Evolutionsrate hinreichend groß gehalten werden soll . Ursache für die faktische Nichteinführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der DDR war die offensichtlich starke Abhängigkeit von der Wirtschaft der Sowjetunion, die zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit dieser Maßnahmen nicht erkannte. Ulrich Weiß kommt in seinem Aufsatz "Hort des Bösen oder gelobtes Land, Fragen zur Geschichte der DDR" sogar zu der Schlußfolgerung, daß die Abwendung von dieser Linie der endgültige Beweis war für die Unfähigkeit des realsozialistischen Systems zu einer Weiterentwicklung in Richtung Sozialismus - Kommunismus. Diese Aussage ist jedoch zu relativieren, wenn man berücksichtigt, daß natürlich auch das NÖS entscheidende Mängel hatte. So ist z. B. die der sozialistischen Planwirtschaft und insbesondere auch dem NÖS zugrunde gelegte Annahme, man könne den Wert und damit auch den Preis einer Ware aus den Kosten der Produktion bestimmen, grundsätzlich falsch. Diese Annahme wurde ja auch im Außenhandel ignoriert. Dort galten grundsätzlich die Preise des kapitalistischen Weltmarktes, weil die sozialistische Ökonomie keine wirksame andere Methodik zu deren Ermittlung hatte.

5. Differenziert muß der zweifellos vorhandene Mangel an Demokratie in der DDR eingeschätzt werden. Einerseits waren die Unterdrückung abweichender Meinungen kompetenter Funktionäre und die strikte Parteidisziplin eine wesentliche Ursache für das Unterbleiben rechtzeitiger Korrekturen des politischen Kurses. Andererseits wurde diese Unterdrückung abweichender Meinungen gerade durch die formale Betonung der führenden Rolle der nicht immer kompetenten Arbeiterklasse und deren Anrufung seitens der Parteiführung durch demokratisch aussehende und zum großen Teil auch demokratisch zustande gekommene Zustimmungserklärungen zum aktuellen politischen Kurs bewirkt. Die politische Entwicklung in der DDR und in der Wende und Nachwendezeit hat gezeigt, daß offenbar die Mehrheit der Bürger noch kein tiefergehendes Interesse und Verständnis für politische Entwicklungen hat und Fragen ihres persönlichen Wohlergehens im Mittelpunkt ihres Interesses stehen. Diese Haltung zeigte sich in der Breite der opportunistischen Einstellungen in der DDR und setzt sich fort in der zunehmenden Nichtwählerbewegung in der BRD. Das ist ein Ausdruck dafür, daß das Verhalten der Individuen durch ihr jeweiliges individuelles Bewußtsein bestimmt wird, das in Richtung einer Anpassung des Individuums an seine gesellschaftliche Umwelt wirkt, und daß das gesellschaftliche Bewußtsein in sehr unterschiedlichem Maße das individuelle Bewußtsein durchdringt. Wie im Beitrag "Evolution des Bewertungskriteriums" gezeigt, erfordert die zukünftige Lösung der gesellschaftlichen Probleme einen weiteren Ausbau des gesellschaftlichen Bewußtseins und ein stärkeres Eindringen in das individuelle Bewußtsein.

Die Erfahrungen der Geschichte zeigen immer wieder, daß nicht oberflächliche demokratische Willensäußerungen, sondern erst ein tiefgründigeres Eindringen des gesellschaftlichen Bewußtseins in das Bewußtsein der Individuen solche Veränderungen des Gesellschaftssystems bewirken können, die sein Funktionieren auch im Sinne einer weiteren Evolutionsfähigkeit sichern.

Eine auf die fortschrittliche Weiterentwicklung der Gesellschaft orientierte Demokratie sollte diesen Zustand akzeptieren und den wirklich an politischen Fragen der weiteren Gesellschaftsentwicklung interessierten Bürgern weitgehende Mitbestimmungsrechte einräumen (Gewährleistung der Evolutionsfähigkeit), aber nicht versuchen, durch propagandistische Manipulationen den Nichtinteressierten zu veranlassen, ein Interesse vorzutäuschen, wie dies in der DDR praktiziert wurde und was auch heute in der Bundesrepublik vor allem im Wahlkampf die Regel ist. Auch wenn die Forderungen parlamentarischer und außerparlamentarischer demokratischer Willensäußerungen häufig inhaltlich nicht mit den objektiv notwendigen evolutionären Schritten in Übereinstimmung sind, bilden solche Willensäußerungen doch ein Regulativ, das durch seine Wirkungen und Gegenwirkungen dazu beiträgt, die für die weitere Evolutionsfähigkeit notwendige Stabilität und Flexibilität des Gesellschaftssystems zu gewährleisten. Der Zustand des gesellschaftlichen Bewußtsein gehört zu den objektiven Bedingungen der weiteren Evolution.

In der mehrheitlichen Nichtübereinstimmung demokratischer Willensäußerungen mit objektiv notwendigen Evolutionsschritten äußert sich eine Unreife des individuellen und gesellschaftlichen Bewußtseins , deren Nichtbeachtung letzten Endes auch die wirksame Realisierung dieser Schritte in Frage stellen würde.

6. Auch das wirtschaftliche und politische System der Sowjetunion entsprach nicht den an ein evolutionsfähiges System zu stellenden Anforderungen, weshalb diese letztendlich zum Untergang verdammt war. Besonders deutlich zeigt dies Jakowlew in seinem Buch "Die Abgründe meines Jahrhunderts", in dem er nachweist, dass auch die von Gorbatschow eingeleitete Reformation des sozialistischen Systems nicht zum beabsichtigten Ziel führte, weil die Grundvoraussetzungen für ein evolutionsfähiges Gesellschaftssystem nicht gegeben waren und auch aus subjektiven und objektiven Gründen nicht geschaffen werden konnten.

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