Evolution und Entropieproduktion
Das Wesen eines Evolutionsprozesses besteht nach allgemeiner Auffassung darin, dass sich eine selbst im Zuge der Evolution entstandene Struktur durch innere Prozesse oder durch einen zufälligen Anstoß von außen weiterentwickelt, wächst und in Folge einer anschließenden Auseinandersetzung mit der Umwelt eine komplexere Struktur aufweist, als der Ausgangssituation entspricht. Charakteristisch für eine solche Evolution ist es, dass innerhalb eines abgrenzbaren Volumens eine Strukturbildung erfolgt, die verbunden ist mit einer Abnahme des Entropiegehaltes und gleichzeitigem Export von Entropie in einem Umfang, der durch den II. Hauptsatz der Thermodynamik gefordert wird, um dem ständigen Zuwachs der Gesamtentropie Rechnung zu tragen. Prigogine hat gezeigt, dass derartige Evolutionsvorgänge nur in nichtlinearen dissipativen Systemen fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht möglich sind.
In solchen dissipativen Systemen kann sich fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht ein Fließgleichgewicht herausbilden, in dem der Energie- und Entropieinhalt innerhalb des Systems einen zeitlich konstanten Wert erreicht und die Struktur durch ständigen Import von freier Energie und Export von Entropie aufrechterhalten wird. Das Fließgleichgewicht ist dadurch charakterisiert, dass die Entropieproduktion pro Zeiteinheit innerhalb des Systems ein Minimum erreicht. Minimale Entropieproduktion bedeutet bei zeitlich konstanter Temperatur gleichzeitig auch minimalen Verbrauch an freier Energie. Sinkt die Zufuhr von freier Energie unter diesen kritischen Wert, so zerfällt die Struktur und das System geht in den thermodynamischen Gleichgewichtszustand über. Lebewesen befinden sich im ausgewachsenen Zustand in einem solchen Fließgleichgewicht. Im Jugendalter aber findet Strukturbildung statt, die durch erhöhten Energiebedarf und erhöhten Entropieexport ermöglicht wird. Das bedeutet aber noch keine Evolution, sondern nur die Reproduktion des früher bereits Vorhandenen und den Übergang eines von der vorangegangenen Generation gesetzten Anfangszustandes in das optimale Fliessgleichgewicht mit minimaler Entropieproduktion.
(Extensiv) erweiterte Reproduktion ist ebenfalls noch keine echte Evolution. Es werden dabei zunächst keine neuartigen Strukturen gebildet, es wird aber weniger strukturierte Materie in höherstrukturierte Materie umgewandelt, was ebenfalls Verringerung des Entropieinhaltes, Export von Entropie und Verbrauch von freier Energie bedeutet.
Bildung neuer Arten durch Mutationen und intensiv erweiterte Reproduktion aber ist Evolution und bedeutet Schaffung neuartiger, komplexerer Strukturen mit niedrigerem Entropieinhalt, erhöhten Bedarf an freier Energie sowie erhöhten Entropieexport.
Die weitere Evolution der Menschheit ist daher immer mit einer Erhöhung des Energiebedarfes und letzten Endes mit einer Erhöhung des Entropieexportes der Erde in den Weltraum, also unabhängig von der Art und Weise der Primärenergieerzeugung mit einer Erhöhung der Strahlungstemperatur der Erde verbunden.
Die weitere Evolution könnte theoretisch aber auch zu neuen Strukturen führen, die neue Fließgleichgewichte mit niedrigerer Entropieproduktion pro Zeiteinheit als die derzeitige ermöglichen. Aus einer Forderung nach Konstanthaltung des Entropieexportes der Erde würde dann eine Bedingung für die zulässige Komplexitätszunahme beim Übergang von alten zu neuen Produktionstechnologien folgen. Eine neue Produktionstechnologie dürfte dann nur eingeführt werden, wenn die über ihre Lebensdauer integrierte Entropieproduktion gegenüber der alten Technologie um mindestens den Betrag sinkt, um den die Komplexität der neuen Produktionsstruktur zunimmt, gemessen an der Absenkung der in dieser Struktur gebundenen Informationsentropie. Nachhaltige Entwicklung könnte man also dann als erreicht ansehen, wenn der Primärenergieverbrauch als Maß der Entropieproduktion schneller sinkt als die Komplexität der Produktionsstruktur zunimmt. Es gibt jedoch keine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit, nach welcher die laufende Entropieproduktion einer höherentwickelten, komplexeren dissipativen Struktur niedriger sein muss als die einer weniger komplexen.( Siehe z. B. Ebeling, S. 45, Abb.2.2.7)
Ob eine solche Bedingung jemals eingehalten werden kann, ist daher mehr als fragwürdig. In der Vergangenheit wuchs die Komplexität der Produktionsmittel um jährlich etwa 4 % , wenn man als groben Schätzwert der relativen Komplexitätszunahme die Akkumulationsrate zugrundelegt, während der Primärenergieverbrauch als grober Maßstab der laufenden Entropieproduktion um 2 % stieg. Der gesamte Entropieexport der Menschheit (Wärme und Müll) dürfte sich daher unter diesen Annahmen um 6% pro Jahr erhöhen. Eine Strukturbildung bei sinkendem Energieverbrauch aber wurde bisher nirgends realisiert. Das 3-Liter-Auto kann bisher eben nicht allgemein eingeführt werden, obwohl es technisch möglich ist, weil die Zunahme der Komplexität in seiner Struktur die Abnahme der Entropieproduktion durch den geringeren Verbrauch nicht aufwiegt. Es sieht deshalb fast so aus, als wäre auf grund des II. Hauptsatzes der Thermodynamik eine weitere Entwicklung der Menschheit ohne Erhöhung des Energieverbrauchs und damit ohne Erhöhung der Strahlungstemperatur der Erde nicht möglich.
Die Entwicklung der Menschheit ohne Erhöhung der Energieproduktion pro Kopf wäre also ein Perpetuum mobile III. Art.
Eine ganz andere Frage ist es, ob man ein angestrebtes Produktionsziel nicht mit weniger Energieaufwand erreichen könnte. Diese Fragestellung betrifft die Minimierung der laufenden Entropieproduktion durch Fremd oder Selbstorganisation ohne echte Evolution und die Erhöhung der Energieeffektivität auf das technisch machbare, was natürlich immer sinnvoll ist.