Die egoistische Information

Kommentar zu dem Buch von Peter Mersch


Vorbemerkungen

Bei dem Buch „Die egoistische Information“ handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung der bereits im Buch „Systemische Evolutionstheorie“ von Peter Mersch dargestellten verallgemeinerten Theorie der Evolution, deren wesentliche Züge ich bereits in meinen Kommentaren Systemische Evolutionstheorie ( Mersch) und Systemische Evolutionstheorie 2 vorgestellt habe. Gegenüber diesen älteren Fassungen zeichnet sich das neue Buch vor allem durch eine konsequentere Systematik und eine präzisere Formulierung der Grundbegriffe und Grundprinzipien der Systemischen Evolutionstheorie aus, die eine klare Abgrenzung von der biologischen Evolutionstheorie und eine Abgrenzung ihres Anwendungsbereiches ermöglichen. Darüber hinaus wird gezeigt, dass die Systemische Evolutionstheorie eine allgemeinere Theorie darstellt, aus der sich sowohl die biologischen Evolutionstheorien als auch wesentliche Merkmale sozialer und ökonomischer Evolutionstheorien ableiten lassen.

Der Anwendungsbereich der Systemischen Evolutionstheorie umfasst ausdrücklich biologische und soziale Systeme, in denen die Sammlung, Bearbeitung, Speicherung und Nutzung von Informationen eine zentrale Rolle spielt. Der Titel „Die egoistische Information“ soll wohl von vornherein darauf hinweisen, dass mit dieser Theorie das in der Dawkin'schen Theorie im Mittelpunkt stehende „Egoistische Gen“ als ein biologischer Spezialfall von Information betrachtet werden kann, im Übrigen aber “Information“ die verallgemeinerte Rolle der Gene spielt. Damit wird aber auch der metaphorische Charakter des „egoistischen Gens“ auf die „egoistische Information“ übertragen. Nach meinem Empfinden ist diese Bezeichnung in beiden Fällen ein Kategorienfehler, denn weder Gene noch Informationen sind Evolutionsakteure. Die eigentlichen Akteure sind die Systeme, die egoistisch Informationen oder Gene sammeln und verwerten. Wenn man dies nicht vergisst, mag die Bezeichnung unwichtig sein.

Wichtig aber ist, dass für den Evolutionsmechanismus letztlich nicht der die biologische Fitness definierende Lebenszeitfortpflanzungserfolg der Evolutionsakteure oder die Verbreitung der Gene entscheidend ist, sondern der für die Systemische Evolutionstheorie zentrale Begriff der Vermeidung von Verlusten an absoluten und komparativen Kompetenzen der Systeme zur Gewinnung der für ihr Überleben erforderlichen Ressourcen. Durch dieses neue Paradigma gelingt die Erweiterung der Evolutionstheorie auf soziale Prozesse, was von Peter Mersch behauptet und bewiesen wird.

Das Interesse der Evolutionsakteure an der Verlustvermeidung von komparativen Kompetenzen resultiert aus dem II. Hauptsatz der Thermodynamik, der zugleich ein ständiges Anwachsen von Entropie und Unordnung im Universum konstatiert und damit einen Zerfall und Verlust der von den Evolutionsakteuren benötigten Ressourcen bedeutet und somit deren Existenz bedroht. Evolution ist damit als ein naturgesetzlicher Prozess zu begreifen, der dem II. Hauptsatz der Thermodynamik „entgegenwirkt“. Obwohl mit dieser Feststellung ein Anschluss der systemischen Evolutionstheorie an die Evolution der unbelebten Natur erfolgt, beschränkt Mersch die Gültigkeit, die Aussagen und die Anwendbarkeit der Theorie ausdrücklich auf Evolutionsformen der belebten Natur und schließt chemische und kosmische Evolution aus. Unter diesen Voraussetzungen ist Evolution identisch mit dem Anwachsen von Information und Wissen der Evolutionsakteure über ihre Umwelt.



Die biologische Evolutionstheorie

Hier werden die der weithin als Standardmodell der biologischen Evolution akzeptierten synthetischen Evolutionstheorie zugrunde liegenden Thesen kurz erläutert und festgestellt, dass diese Theorie vier bei der Evolution auftretende Probleme nicht befriedigend zu erklären vermag, sodass zusätzliche Annahmen erforderlich waren, um die auftretenden Widersprüche zu beseitigen. Diese Problematik wurde bereits im Vorläuferbuch „Systemische Evolutionstheorie“ im Kapitel „Hintergrund“ von Mersch als Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen Theorie behandelt.



Grundbegriffe der Systemischen Evolutionstheorie

Die in der Systemischen Evolutionstheorie als Neuerungen gegenüber der Darwinschen Theorie ausgewiesenen und eingeführten Begriffspaare Kompetenz – Fitness, Reproduktionsinteresse – Fortpflanzungserfolg, Selbstreproduktive Systeme – Organismen, Kernkompetenzen - Kompetenzverlustvermeidung, Recht des Stärkeren – Recht des Besitzenden, Kompetenzerhaltungsebenen, Genpool und Kompetenzpool werden exakt definiert und ausführlich erläutert. Durch die zusammengefasste Erläuterung dieser Grundbegriffe auf 28 Seiten gegenüber nur 8 Seiten in früheren Darstellungen ergibt sich zwar nichts grundsätzlich Neues, jedoch wird eine solide Grundlage geschaffen, auf der das Verständnis der theoretischen Zusammenhänge und die spätere Beweisführung für den Wahrheitsgehalt der Systemischen Evolutionstheorie aufbauen kann und ihr größerer Anwendungsbereich und die höhere Wahrheitsähnlichkeit im Vergleich zur biologischen Evolutionstheorie nachweisbar ist. Mit Hilfe dieser Grundbegriffe beschreibt Mersch das Evolutionsmodell der Systemischen Evolutionstheorie (auf Seite 64) wie folgt: „Die Evolution der belebten Natur beruht auf dem Wirken von (informationsverarbeitenden) selbstreproduktiven Systemen (sogenannten Evolutionsakteuren), die fortwährend bestrebt sind, absolute und komparative Kompetenzverluste (Wissensverluste, Informationsverluste: in Relation zur Umwelt und Wettbewerbern) zu vermeiden. Die Akteure sind zu einem solchen Verhalten gezwungen, da sie in einem energetisch zerfallenden Universum (in welchem der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gilt) existieren.“



Verhaltensmodelle

Evolutionstheorien beruhen meistens auf der Annahme eines Modells für das Verhalten der Evolutionsakteure. Inwieweit das jeweilige Evolutionsmodell realistisch ist, erweist sich dann daran, wie genau die tatsächlichen Evolutionsprozesse von der Theorie beschrieben werden und wie viele im Evolutionsprozess auftretende Erscheinungen im Widerspruch zur Theorie stehen und ohne Zusatzannahmen nicht erklärt werden können.

Die den verschiedenen Evolutionstheorien zugrunde liegenden Verhaltensmodelle werden miteinander verglichen und dem Modell der Systemischen Evolutionstheorie gegenübergestellt. Dabei erweist sich, dass letzteres Modell mit seiner vom tatsächlichen Wissen über die Umwelt abhängigen Ausrichtung des Reproduktionsinteresses auf unterschiedliche Kompetenzen des Evolutionsakteurs am besten geeignet ist, tatsächlich beobachtbare Evolutionserscheinungen zu interpretieren. Dies betrifft nicht nur die biologischen Prozesse, sondern auch die sozialen Verhaltensweisen des Menschen, die nicht nur durch Genegoismus und ökonomische Optimierung gekennzeichnet sind.

Das Verhaltensmodell der Systemischen Evolutionstheorie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Evolutionsakteure ihre Handlungen an einem inneren Modell ihrer Umwelt ausrichten, welches sie laufend weiter zu verbessern bestrebt sind, um besser an die Ressourcen zu gelangen, die sie für Ihre dauerhafte Existenz benötigen.



Wettbewerbskommunikationen

Evolution erfordert die Aneignung und Nutzung der Ressourcen der Umwelt durch die Evolutionsakteure, die dabei untereinander als Konkurrenten im Wettbewerb stehen. In der ursprünglichen, von Darwin beschriebenen Evolution galt als übliche Kommunikationsform der Akteure das Recht des Stärkeren, der sich verfügbare Ressourcen, wenn erforderlich, mit Gewalt aneignete, was sich in der Formel Kampf ums Dasein ausdrückt.

Im Bereich der sexuellen Selektion entwickelte sich dann bereits bei bestimmten Tierarten, insbesondere bei den Vögeln, als neue Form der Kommunikation das Recht des Besitzenden, das in der sozialen Evolution des Menschen immer mehr in den Vordergrund trat. In entwickelten menschlichen Gesellschaften wird das Verfügungsrecht des Besitzers an Ressourcen aller Art von den an den Ressourcen Interessierten anerkannt. Eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Systemischen Evolutionstheorie auf die soziale Evolution war es deshalb, dem Recht des Besitzenden in dieser Theorie mindestens die gleiche Bedeutung wie dem Recht des Stärkeren einzuräumen. Die damit verbundene Problematik, die auch zur weiteren Ausdifferenzierung der Märkte und der Reproduktionsinteressen führt, wird in diesem Abschnitt diskutiert.



Informations- und Wissensentstehung

Die im Vorgängerbuch im Kapitel Kompetenzerhalt zur Erläuterung von Kompetenzerwerb und Kompetenzerhalt verstreut aufgeführten Grundlagen der evolutionären Erkenntnistheorie werden hier ausführlicher im Abschnitt Erkenntnistheorie zusammengefasst. In diesem Abschnitt wird besonders deutlich, dass die Informationen, die die Evolutionsakteure aus ihrer Umwelt beziehen, ihre Bedeutung erst dadurch erhalten, dass sie der Bewahrung der Kompetenzen für den Erwerb von Ressourcen durch den Evolutionsakteur dienen. Dies drückt sich darin aus, dass dem Evolutionsakteur dadurch ein Modell seiner Umwelt mit einer niedrigeren Informationsentropie zur Verfügung steht, welches es ermöglicht, seine Chancen für den Ressourcenerwerb zu erhalten oder gar noch zu erhöhen. Das rechtfertigt die Bezeichnung der Evolution als einen Prozess des fortgesetzten Erwerbs von Information und die Bezeichnung semantischer Information als ein Produkt der Evolution. Klar wird auch herausgestellt, dass sich durch den Erwerb von Information das Wissen des Evolutionsakteurs vermehrt und dass sich die Informationsentropie der Umwelt stets nur auf das Modell der Umwelt bezieht, das der jeweilige Evolutionsakteur aktuell besitzt. Aus einem falschen Weltmodell resultiert so eine erhöhte Informationsentropie der Umwelt.

Die Evolution der Evolutionsakteure ist verbunden mit der besseren Anpassung ihres Weltmodells an die Realität der Umwelt, was gleichzeitig die Senkung von dessen Informationsentropie bedeutet. Jede Veränderung der realen Umwelt verschlechtert aber die Passung des Weltmodells und erhöht damit dessen Informationsentropie. Um ihre Kompetenzen zur Erlangung der notwendigen Ressourcen aufrechtzuerhalten, müssen die Evolutionsakteure ständig ihr Weltmodell verbessern, um dessen natürlichen Passungsverlust auszugleichen. Die Verbesserung ihres Weltmodells ist jedoch ebenfalls ein Evolutionsprozess, der seinerseits den Gesetzmäßigkeiten der Evolution (wie bei einfachen Lebewesen, deren Weltmodell in den Genen gespeichert ist) unterliegt, also einer zunächst zufälligen Veränderung (Mutation) und nachträglichen Bewertung des Erfolgs, der die Verbesserung des Modells bestätigt (Fortpflanzungserfolg) und zufällig schlechtere Modelle verwirft. Jeder Evolutionsakteur ist somit ständig daran interessiert, dass sich sein Weltmodell (komparativ) nicht verschlechtert und dessen Informationsentropie nicht zunimmt. Dies ist die Grundlage seines Interesses an Kompetenzerwerb und Kompetenzerhaltung und begründet die wichtigste These der Systemischen Evolutionstheorie.

Im Evolutionsprozess sind Energieerwerb, Energieverbrauch, Informationserwerb und Senkung der Informationsentropie eng miteinander verbunden. Nachhaltiger Energieerwerb erfordert Informationserwerb zur Senkung der Informationsentropie und Informationserwerb erfordert Energieverbrauch, der durch Energieerwerb gedeckt werden muss.

Unser physikalisches Weltbild wird von einer Vorstellung bestimmt, nach der alle energetischen Prozesse in eine Richtung laufen, in der die Entropie des Universums ständig wächst. Diese Richtung charakterisiert einen Zeitpfeil, der auch psychologisch Vergangenheit und Zukunft definiert und die Richtung der Evolution bestimmt, die dem Prozess des ständigen Anwachsens der Entropie entgegenwirkt. Die hier auch erläuterte, von Stephen Hawkings stammende Definition dreier verschiedener, aber zusammenfallender Zeitpfeile, des thermodynamischen, des psychologischen und des kosmischen, charakterisiert drei Zeitmodelle, die der Beschreibung dreier unterschiedlicher Prozesse dienen. Ich bevorzuge eine Vorstellung, der zufolge physikalische, psychologische und evolutionäre Prozesse in einer einheitlichen Zeit ablaufen, die jedoch unserer Wahrnehmung nicht direkt zugänglich ist. Deshalb muss man auch zugestehen, dass die drei Zeitmodelle eine objektive, reale Zeit nur genähert beschreiben können. Nicht einfach erklärbare (relativistische) Unterschiede der Zeitmodelle sind somit eine Folge der Art und Weise, in der der Zeitablauf jeweils gemessen wird und Ausdruck fehlenden Wissens, also Informationsentropie. Diese Vorstellung ist mit den Darlegungen von Mersch verträglich, wird aber von ihm in Bezug auf das Zeitmodell nicht so klar vertreten.



Fitness

In biologischen Evolutionstheorien wird die Fitness als der für die Selektion entscheidende Parameter meist als Lebenszeitfortpflanzungserfolg definiert. Dies ist aber nicht richtig. Entscheidend für die Durchsetzung der günstigsten Mutationen ist nicht die Anzahl der Nachkommen eines Individuums in seiner Lebenszeit, sondern die Anzahl der Nachkommen pro Generationszeit. Für einfache Lebewesen, deren unterschiedliche Merkmale sich nur im Fortpflanzungserfolg ihrer Gene widerspiegeln, brauchen Reproduktionsinteressen für unterschiedliche Kompetenzen noch nicht in Betracht gezogen werden. Zur Beurteilung ihrer Evolutionsfähigkeit genügt dann ein Vergleich der auf die Generationszeit bezogenen Fitness.

Die Fitness eines Individuums wird in der Systemischen Evolutionstheorie nicht auf den Fortpflanzungserfolg bezogen, sondern als relative Leistungsfähigkeit bei der Erlangung einer bestimmten der Kompetenzerhaltung dienenden Ressource definiert. Die Gesamtfitness eines Individuums ergibt sich dann als Mittelwert der für einzelne Kompetenzen bestimmten Werte.



Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie

Hier werden die Prinzipien der systemischen Evolutionstheorie in ähnlicher Form wie bereits in den früheren Publikationen Merschs zusammengestellt, die ich bereits in Systemische Evolutionstheorie ( Mersch) kommentiert habe.

Beziehung zur biologischen Evolutionstheorie

Für einfache Lebewesen, die ausschließlich Gene reproduzieren und keine sozialen Gemeinschaften bilden, sind die Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie und der biologischen Selektionstheorie äquivalent. Die Theorie der egoistischen Gene lässt sich aus der Systemischen Evolutionstheorie unmittelbar ableiten, wenn die Reproduktionsinteressen der Evolutionsakteure undifferenziert auf die Kompetenzen Selbsterhalt und Fortpflanzung gerichtet sind. Die systemische Evolutionstheorie entspricht somit dem wissenschaftlichen Korrespondenzprinzip.


Soziale Evolution

Während in vorangegangenen Fassungen der Systemischen Evolutionstheorie in sozialen Systemen auftretende Erscheinungen im Kapitel Anmerkungen lediglich unter den Gesichtspunkten dieser Theorie analysiert und erklärt wurden, wird jetzt die soziale Evolution als Hauptgegenstand der Systemischen Evolutionstheorie systematisch beschrieben und in den Mittelpunkt gestellt. Damit erscheinen die neuen typischen Merkmale der sozialen Evolution, die diese von der biologischen Evolution unterscheiden, wie Kooperation und Altruismus, Selbstbeschleunigung der Evolution („Red-Queen-Wettbewerb“), Arbeits- und Kompetenzteilung, Allmendeproblematik und Entstehung eines Fairness-Empfindens als direkte Folgerungen aus den theoretischen Grundprinzipien der systemischen Evolutionstheorie und bedürfen keiner zusätzlichen Erklärung.

Einen besonderen Abschnitt widmet Mersch der Erklärung von Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile als einer direkten Schlussfolgerung aus den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie. Er zeigt, dass Arbeitsteilung und Kooperation immer dann Vorteile bringen, wenn die einzelnen Akteure verschiedene Tätigkeiten mit unterschiedlicher Effektivität verrichten können und die Ergebnisse allen zur Verfügung stehen. In den Wirtschaftswissenschaften ist dieser Effekt als Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile bekannt. In der Marktwirtschaft resultiert daraus die bessere Wettbewerbsfähigkeit größerer Unternehmen mit ausgeprägter Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung bringt nicht nur eine höhere Arbeitsproduktivität mit sich, sondern sie ist auch evolutionär stabil, weil durch die Spezialisierung der Individuen auf bestimmte Tätigkeiten ein Qualifizierungseffekt erzeugt wird, der die unterschiedliche Effektivität der Individuen im Hinblick auf die verschiedenen Spezialgebiete laufend verstärkt. Arbeitsteilung ist deshalb kein Nebeneffekt wirtschaftlicher Kooperation, sondern ihr wesentlicher Bestandteil, der die soziale Evolution der Gesellschaft begründet und vorantreibt. Die Bildung von Superorganismen in Form von Wirtschaftsunternehmen wird dadurch zur evolutionär stabilen Strategie.

Der Nachweis der Äquivalenz des ökonomischen Ricardo-Theorems mit den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie wird an Hand numerischer Beispiele geführt. Eine Verallgemeinerung auf mehrere Akteure mit mehreren unterschiedlichen Kompetenzen und Leistungen ist problemlos möglich. Die Zahlenwerte wurden so gewählt, damit auch unter ungünstigen Verhältnissen Vorteile für alle Kooperationspartner aufweisbar sind. Problematisch scheint aber die ungewichtete Mittelung der Fitnesswerte über alle unterschiedlichen Leistungen, da nicht selbst erbrachte, sondern getauschte Leistungen die Fitness der Tauschpartner nicht mehr beeinflussen können. Das zu berücksichtigen, dürfte aber nur zum Nachweis weiterer Vorteile der arbeitsteiligen Kooperation führen, weil dadurch die Fitness beider Tauschpartner gegenüber Einzelgängern steigt. Dieser Effekt ist in der Tabelle 20 der Gesamtwerterzeugungen je Akteur berücksichtigt, aber nicht in der Gesamtfitness lt. Tabellen 5 und 26, und erzeugt einen Druck zur Ausweitung der Kooperation und weiterer Spezialisierung (Nischenbildung).

Nach der Systemischen Evolutionstheorie können Evolutionsakteure mit mehreren unterschiedlichen Kompetenzen evolvieren, wenn sie miteinander kooperieren und eine nichtnegative Korrelation zwischen ihren komparativen Kompetenzen zur Erlangung von Ressourcen und den Interessen zu deren Reproduktion besteht. (Ricardo-Bedingung). Diese Bedingung ergibt sich unmittelbar aus dem Verhaltensmodell der Akteure, das der SET zugrunde liegt, und muss nicht gesondert gefordert werden. Eine darüber hinausgehende, strengere Forderung zur nichtnegativen Korrelation zwischen den einzelnen Kompetenzen und den zugehörigen Reproduktionsinteressen jedes Akteurs besteht nicht, es müssen lediglich die Gesamtkompetenzen nichtnegativ mit den Gesamtreproduktionsinteressen des Akteurs korrelieren. Haben diese Akteure nur ein einziges Interesse, das auf ihre Fortpflanzung gerichtet ist, reduziert sich diese Bedingung auf die Darwin-Bedingung der biologischen Evolution. Das demografisch-ökonomische Paradoxon resultiert aus der Tatsache, dass es in der sozialen Evolution unterschiedliche Kompetenzen und Reproduktionsinteressen gibt, weshalb die Darwin-Bedingung der biologischen Evolution dort nicht anwendbar ist. Für die Systemische Evolutionstheorie (im Folgenden auch SET genannt) ist das demografisch-ökonomische Phänomen kein Paradoxon, sondern resultiert aus den auf den verschiedenen Kompetenzerhaltungsebenen unterschiedlichen Reproduktionsinteressen der Akteure. Dieser Unterschied wurde in den früheren Veröffentlichungen zur SET noch nicht so deutlich herausgestellt.

Ich halte allerdings die in diesem Zusammenhang geführte Diskussion für die Unterscheidung von adaptiven und neutralen Evolutionen wie auch das extra dafür definierte Prinzip natürliche Reproduktionsinteressen für überflüssig. Die damit ausgegrenzten „neutralen Evolutionen“ sind an keiner Stelle Gegenstand der Systemischen Evolutionstheorie und bedürfen daher keinerlei Erörterung, sie liegen völlig außerhalb ihres Anwendungsbereiches. Mindestens dies müsste am Ende der Diskussion deutlich klargestellt werden.

Nicht überflüssig ist hingegen die Erörterung der Theorie der Verwandtenselektion. Die biologische Evolutionstheorie begründet die Bildung eusozialer Gemeinschaften damit, dass in Ihnen eine höhere Gesamtfitness im Sinne eines größeren Fortpflanzungserfolgs der eigenen Gene erreicht werden kann. Davon ausgehend müssten in diesen Sozialgemeinschaften die weniger fitten Individuen als Königinnen gewählt werden. Wie Mersch zeigt, führt das aber dazu, dass sich sowohl die Kompetenzen der Individuen wie auch die der Gesamtgemeinschaft verringern, was im Widerspruch zur Darwin-Bedingung der Evolution steht. Auf der Grundlage der aus der SET folgenden Ricardo-Bedingung würden aber die fittesten Individuen zu Königinnen erwählt, wodurch die Kompetenzen sich erhöhen und die Darwin-Bedingung erfüllt wird. Da außerdem in der realen Evolution normalerweise die fittesten Individuen die größeren Chancen zur Fortpflanzung haben, kann dies als Bestätigung der SET und ihrer größeren Realitätsnähe im Vergleich mit biologischen Evolutionstheorien betrachtet werden.

Während in der biologischen Evolution die Selektion der Evolutionsakteure auf ihrem Fortpflanzungserfolg beruht, bewirkt ihre in der SET neu definierte Fitness als komparative Kompetenz zur Erlangung von Ressourcen und Reproduktionspotenzial auch eine völlig neue Art der sozialen Selektion. In der Natur hängt der individuelle Reproduktonserfolg primär von den genetischen Merkmalen der Individuen ab, in einem Sozialstaat dagegen vorrangig von den individuellen sozialen Rollen und der sozialen Organisation des Staates. Die soziale Selektion wird von Selektionsfaktoren bestimmt, die von Menschen und von sozialen Organisationen geschaffen wurden und damit auch verändert werden können. Erst dadurch erhalten individuell unterschiedliche Reproduktionsinteressen ein besonderes Gewicht.

In Sozialen Evolutionen treten altruistische Merkmale der Evolutionsakteure in Erscheinung, deren Entstehung und evolutionäre Stabilisierung von den durch Egoismus der Evolutionsakteure geprägten biologischen Evolutionstheorien unterschiedlich und nur mit zusätzlichen Annahmen erklärt werden können. Diese altruistischen Erscheinungen und ihre Erklärungen werden von Mersch vom Standpunkt der SET aus diskutiert und neu interpretiert. Gesamtfitnesstheorie und Verwandtenselektion, spieltheoretische und Status erhöhende Begründung des reziproken Altruismus, Multilevel-Selektion und sexuelle Arbeitsteilung, Bewertung von Gemeingütern und Entstehung einer Fairness-Ethik erscheinen so in einem neuen Licht.



Diverse evolutionstheoretische Themen

Die Systemische Evolutionstheorie erhebt den Anspruch, eine verallgemeinerte Evolutionstheorie zu sein, also über die biologische und soziale Evolution hinaus für jedwede Art adaptiver Evolution zu gelten und deren spezielle Probleme beschreiben und erklären zu können. Unter diesem Aspekt ist festzustellen:

Mersch beweist in diesem Abschnitt an zahlreichen Beispielen den bedeutenden Erklärungswert der Systemischen Evolutionstheorie.



Anwendungen

Die wenigen hier diskutierten Anwendungsmöglichkeiten weisen lediglich auf das diesbezügliche große Potenzial der Systemischen Evolutionstheorie hin. Eigentlich wird nur das demografisch-ökonomische Paradoxon mit den in der systemischen Evolutionstheorie gängigen Begriffen analysiert und erklärt.

Richtig ist die Vorstellung, dass sich auf der Grundlage der Systemischen Evolutionstheorie realistischere Wirtschaftssimulationen realisieren lassen müssten, aber gemacht wird das eben noch nicht.



Offene Fragen und Themen

Hier werden zwar offene Probleme genannt, aber Vermutungen zu ihrer Beantwortung helfen wohl nicht weiter, Wege zu ihrer Lösung aber werden nicht aufgezeigt. Die Evolutionstheorie ist offensichtlich eine Erfahrungswissenschaft, die evolutionär gewonnene Erkenntnisse systematisch aufbereiten und zu theoretisch formulierten Thesen verallgemeinern muss, um zu einem besser angepassten Weltbild der Evolutionsakteure zukommen. Dies muss mit den gleichen Methoden erfolgen, die auch die Evolution anwendet. Das heißt, die Evolutionsakteure selbst müssen die systemische Evolutionstheorie auf dem jeweils erreichten Stand in ihr Weltbild aufnehmen und zur verbesserten Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt nutzen. Erst aus den daraus erzielten Erfolgen erst lassen sich Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der Theorie ziehen.

Das von Peter Mersch vorgelegte Buch bietet meines Erachtens einen guten Ausgangspunkt für die Lösung der o.a. Fragen. Insbesondere für das soziale Verhalten der Bürger und der Unternehmen als Superorganismen gibt das Buch zahlreiche Anregungen für die Qualifizierung ihrer Verhaltensrichtlinien. Zu schwach beleuchtet scheinen mir aber die auf höheren Evolutionsebenen agierenden Superorganismen, die prinzipiell ebenfalls selbstreproduktive Systeme sind, aber spezifische Reproduktionsinteressen haben und die soziale Evolution in hohem Maße beeinflussen können. Die Interessen und Verhaltensweisen von Vereinen, Parteien, gesellschaftlichen Einrichtungen, Kommunen und Staaten werden kaum diskutiert, wahrscheinlich ist der Autor mangels eigener Erfahrungen in diesen Bereichen mit der Behandlung dieser Problematik überfordert. Es wäre zu begrüßen, wenn ein erfahrener Politiker oder Friedensforscher hier einsteigen und die in diesen Organisationen wesentlichen Merkmale aus dem Blickwinkel der Systemischen Evolutionstheorie analysieren und erörtern würde. Das könnte die mir wichtig erscheinende Anwendung dieser Theorie in der Politik wesentlich fördern.


11.6.2014

Bertram Köhler