Schnelles Denken, langsames Denken

Ein Kommentar zu dem gleichnamigen Buch von Daniel Kahneman

Einleitung

Mit dem Buch beabsichtigt der Autor, typische Fehler und Fehlurteile im menschlichen Denken aufzuzeigen, um damit zu deren Vermeidung beizutragen, die Selbsterkenntnis zu fördern und resultierende Fehlhandlungen zu reduzieren.

Der Psychologe Daniel Kahneman bemerkte, dass zahlreiche Menschen sich bei Urteils-und Entscheidungsfindungen des Alltags weniger von rationalen Überlegungen leiten lassen als vielmehr von Beispielfällen, die ihnen auf Grund ihrer zufällig persönlich erlebten Häufigkeit am ehesten in Erinnerung blieben und deshalb intuitiv am schnellsten einfielen. Er diskutierte dieses Problem mit dem Statistiker und Entscheidungsforscher Amos Tversky und gemeinsam entwickelten sie eine Theorie zur Erklärung systematischer Verzerrungen bei der Urteils- und Entscheidungsfindung unter Ungewissheit, die ihm 2002 zur Zuerkennung des Nobelpreises für Wirtschaft verhalf.

Intuitive Urteile und Entscheidungen beruhen entweder auf fundiertem umfangreichen Expertenwissen oder auf dem Ersatz einer komplizierten Problemsituation durch eine einfacher zu lösende, für die das Erinnerungsvermögen erlebte oder vorgedachte Beispiele schnell parat hat. Im ersteren Fall sind die Lösungen meistens richtig, im letzteren aber weitaus weniger, weil häufig viele wichtige Umstände nicht berücksichtigt werden. Erst wenn einem nicht schnell genug eine Expertenlösung oder eine intuitive heuristische Lösung einfällt, beginnt man rational und gründlicher über eine Lösung anstehender Fragen nachzudenken. Den Schwerpunkt des Buches bildet die Aufklärung dieser Eigenarten unseres Denkens.


2 Systeme als Grundelemente der Urteils- und Entscheidungstheorie

Deutlich sind zwei kognitive Systeme zu unterscheiden:

Zu den Funktionen des Systems 1 gehören Eindrücke und Gefühle sowie angeborene Fähigkeiten, die wir mit vielen Tieren gemeinsam haben. Es arbeitet auf der Basis von Gelerntem und Erinnertem und mobilisiert bei Bedarf die Aufmerksamkeit des Systems 2. Das System 2 kann nur Aufgaben erfüllen, auf die die Aufmerksamkeit gerichtet ist, es erfordert volle Konzentration auf die Lösung komplizierter Aufgaben und kann dabei die Funktionen des Systems 1 abschalten.

Das System 1 kann vom System 2 programmiert werden und enthält das aktuelle Weltmodell des Individuums, das seinen Handlungen automatisch zu Grunde gelegt wird. Wenn ein Ereignis wahrgenommen wird, das gegen das Weltmodell von System 1 verstößt, wird das System 2 aktiviert und es versucht, Übereinstimmung herzustellen.

Das System 2 enthält das Selbstbewusstsein und kann das System 1 kontrollieren. Da diese Kontrolle anstrengend und oft nicht nötig ist, weil das System 1 meist gut und schnell operiert, wird sie normalerweise unterlassen. Es gibt aber spezifische Situationen, in denen das System1 irrt. Auch wenn wir wissen, dass dies der Fall ist, bedarf es größerer Anstrengungen des Systems 2, daraus resultierende Denkfehler zu vermeiden.


Aufmerksamkeit und Anstrengung

Kahneman gelang es, eine Methode zu entwickeln, um die mit der Lösung einer Aufgabe verbundene mentale Anstrengung durch Bestimmung der Pupillenvergrößerung quantitativ zu messen. Er konnte experimentell nachweisen, dass das System 2 eine gestellte Aufgabe nur dann übernimmt, wenn das System 1 keine Lösung bereit hält, und die mentale Anstrengung zur Lösung anstehender Aufgaben dabei möglichst gering hält. Durch Steigerung der Schwierigkeit von Aufgaben konnte die aufgebrachte Anstrengung genau vermessen und der Zeitpunkt und Schwierigkeitsgrad ermittelt werden, bei dem der Proband das Bemühen um die Lösung der Aufgabe einstellte. Hierbei zeigten sich eindeutig unterschiedliche Fähigkeiten der einzelnen Probanden, die davon bestimmt wurden, wie viele Daten der Proband in der Lage war, in seinem Kurzzeitgedächtnis zur gleichzeitigen Bearbeitung bereitzuhalten. Letzteres ist genetisch bedingt und durch Erfahrung und Lernen beeinflussbar.

 

Die Kontrollfunktion des Systems 2

Normalerweise steuert das System 1 die Handlungen des Individuums unbewusst auf Grund der in seinem Weltmodell gespeicherten Erfahrungen. Parallel dazu arbeitet das System 2 mit niedriger Anstrengung an der Selbstkontrolle dieser Handlungen, nimmt neue Erfahrungen auf und verbessert so bewusst das Weltmodell des Systems 1 und führt damit die Handlungen willentlich auf einer höheren Ebene weiter. Werden von der Außenwelt kompliziertere Aufgaben gestellt, die das System1 nicht bewältigen kann, wird die Aufmerksamkeit und die Selbstkontrolle des Systems 2 auf diese Aufgaben konzentriert und die messbare mentale Anstrengung erhöht sich. Empirische Untersuchungen zeigten, dass offenbar das Ausmaß der mentalen Anstrengungen nach oben begrenzt ist und bei kognitiver Überlastung die Kontrolle über das System 1 nachlässt. Die damit verbundene Erschöpfung ist am Blutzuckerspiegel nachweisbar und reduziert die mentale Leistungsfähigkeit, was an mehreren Beispielen gezeigt wird.
Die Bereitschaft, die mentalen Anstrengungen zu erhöhen, ist von Mensch zu Mensch verschieden, erfordert erhöhte Selbstkontrolle und kann durch Erziehung trainiert werden, ist aber zum Teil auch genetisch bedingt. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist mit Intelligenz positiv korreliert, hohe Intelligenz schützt aber nicht vor kognitiven Fehlern des Systems 1.

 

Die Assoziationsmaschine

Das System 1 ist auch zuständig für die Aufbewahrung von Erinnerungen an frühere Erlebnisse. Stößt die Wahrnehmungsfunktion des Systems 1 auf Einzelheiten früherer Erlebnisse, so wird normalerweise unbewusst die gesamte komplexe Situation ins Gedächtnis gerufen, die zur Zeit des Erlebnisses bestanden hat. Das System ist dann in der Lage, andere damit verknüpfte Einzelheiten leichter und schneller wiederzuerkennen und lenkt die Aufmerksamkeit auf das mögliche Neuerscheinen dieser Objekte und Situationen, es ist „geprimt“. Der Autor führt zahlreiche Beispiele aus dem täglichen Leben an, in denen dies geschieht. Diese Eigenschaft des Systems 1 wird häufig ausgenutzt, um andere Personen zu beeinflussen und deren Aufmerksamkeit in vorgegebene Richtungen zu lenken und diese zu bestimmten Handlungen zu verführen. Eine derartige Beeinflussung ist durchgängig nachweisbar, obwohl diese von den betreffenden Personen meist nicht bemerkt wird und sogar abgeleugnet wird, wenn sie darauf hingewiesen werden, weil ihr System 2 in diesem Moment beginnt sich einzuschalten und glaubt, völlig willentlich und eigenständig gehandelt zu haben.

 

Kognitive Leichtigkeit

Normalerweise ist das System 1 mit großer Leichtigkeit ständig damit beschäftigt, die einlaufenden Wahrnehmungen der Sinne zu verarbeiten und auf Übereinstimmung mit dem aktuellen Weltmodell zu überprüfen. Dabei werden geringfügige Abweichungen, Veränderungen und Ergänzungen mühelos eingearbeitet. Wiederholte Erfahrungen und klare Darstellungen festigen das Weltmodell und erzeugen gute Laune, fühlen sich vertraut an und erscheinen als wahr. Abweichende neue Erfahrungen werden zunächst nicht geglaubt und für unwahr gehalten, lenken die Aufmerksamkeit darauf und aktivieren das System 2, was mentale Anstrengung erfordert, um die neuen Erkenntnisse einzuarbeiten. Die mit Leichtigkeit aufgenommenen Erkenntnisse werden eher für wahr gehalten, als die nur mit Anstrengung erarbeiteten, weshalb leicht falsche Erkenntnisse und Illusionen entstehen. Es ist deshalb wichtig, neue Erkenntnisse wiederholt und mit großer Klarheit zu vermitteln.

 

Normalität und Kausalität

Die wesentliche Funktion des Systems 1 besteht darin, ein persönliches Modell unserer Umwelt, in dem das repräsentiert ist, was normalerweise passiert, aufrecht zu erhalten und zu aktualisieren. Dabei entsteht ein Netzwerk miteinander verknüpfter Vorstellungen, das die Struktur von Ereignissen in unserem Leben abbildet und unsere Interpretation der Gegenwart sowie unsere Zukunftserwartungen bestimmt. Gleichzeitige und regelmäßig aufeinanderfolgende Ereignisse werden automatisch als kausal verbunden erlebt und wenn überraschende neue Ereignisse auftauchen, sucht das System 1 automatisch diese einzuordnen und kausal zu verknüpfen. Blitzschnell bemerkt man dabei, dass manche Ereignisse und Aussagen nicht zueinander passen und ignoriert werden müssen, aber wenn wenig Erfahrungen vorliegen, werden auch unzulässige oder illusionäre Kausalketten konstruiert. Es ist Aufgabe des langsamen Systems 2, diese Ungereimtheiten aufzuklären und zu beseitigen, aber dies erfordert mentale Anstrengung und erfolgt häufig nicht, insbesondere wenn statistische Gesetzmäßigkeiten eine Rolle spielen.

Voreilige Schlussfolgerungen

Unser Denksystem 1 neigt dazu, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. Dies ist effizient, wenn wir in einer komplexen Situation viel wissen und schnell handeln müssen. Die Entscheidungen sind dann mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig und gut. Aber wenn wir nur wenig wissen, sind sie riskant und mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch. Dies kann nur durch Einschalten des Systems 2 verhindert werden, aber wir sind häufig dazu zu faul.

Das System1 geht immer vom bekannten Wissen aus und ignoriert immer alles, was wir nicht wissen, aber wissen müssten, um richtige Urteile fällen zu können. Deshalb glauben wir auch leicht alle Aussagen, die unsere eigenen Erwartungen bestätigen. Nichtglauben einer Aussage ist eine Operation des Systems 2, was mentale Anstrengungen erfordert. Deshalb glauben wir falsche Aussagen auch leichter, wenn das System 2 gerade abgelenkt und mit anderen Aufgaben beschäftigt ist.

Aufeinanderfolgende Informationen werden entsprechend ihrer Reihenfolge gewichtet und spätere werden von den früheren beeinflusst. (Halo-Effekt). Dies führt dazu, dass neue Informationen verfälscht und fehlende Informationen gar nicht bei Veränderungen unseres Weltmodells berücksichtigt werden. Im Endeffekt führt dies zur Selbstüberschätzung unseres Wissens, zur Höherbewertung der zu unserem Weltmodell passenden Nachrichten und zur Vernachlässigung des statistischen Gewichts unbekannter Informationen.

Die Bildung von Urteilen

Das Denksystem 1 ist schnell in der Lage, die Eigenschaften von Objekten qualitativ zu bewerten und Intensitäten miteinander zu vergleichen, Mittelwerte zu bilden und Einzelobjekte in Kategorien einzuordnen. Dabei werden auch einzelne Eigenschaften zusammengefasst und Prototypen zugeordnet, was nicht immer richtig ist. So werden z. B. bei Wahlen Politiker von wenig politisch informierten Personen häufig nach ihrem Aussehen und ihrer Redegewandtheit bewertet. Mengen werden nur bis zu 4 Einzelobjekten von System 1 quantitativ erkannt. Für alle darüber hinausgehenden Fragen ist das langsamere System 2 zuständig, z.B. wenn die Anzahl oder eine Summe gefragt ist oder eine Einordnung in eine mehrwertige Notenskala erfolgen soll. In solchen Fällen sind von System1 keine präzisen Antworten zu erwarten. System 2 arbeitet aber mit mentaler Anstrengung und gibt sich deshalb leicht mit den von System 1 bereitgestellten schnellen Vorschlägen zufrieden. Dabei wird häufig eine schwierige Frage durch eine leichter zu beantwortende Frage ersetzt, was der Betreffende oft nicht einmal bemerkt. So entstehen bereits auf der Wahrnehmungsebene Verzerrungen und Illusionen, die zu falschen Vorstellungen führen. Wenn eine schwierige Frage gestellt ist, die wir nicht leicht lösen können, ersetzen wir sie unbewusst durch eine ähnliche Frage, für die wir die Lösung kennen.

 

Fehlerhafte Bewertung statistischer Ergebnisse

Kahneman konnte nachweisen, dass auch sehr viele Forscher, die an sich grundsätzlich mit statistischen Gesetzmäßigkeiten vertraut sind, die Zuverlässigkeit der Ergebnisse von zu kleinen Stichproben drastisch überschätzen und regelmäßig zu kleine Stichproben für ihre Forschungen wählen. Während die Mittelwerte zufällig mit Fehlern behafteter Größen bei ausreichender Größe der Stichprobe noch zuverlässige Werte liefern, sind die Abweichungen vom Mittelwert grundsätzlich mit größeren Fehlern behaftet. Dies wird häufig nicht berücksichtigt, wenn Schlussfolgerungen zu maximalen Abweichungen vom Mittelwert gezogen werden und Ursachen für Abweichungen gesucht werden, die rein zufällig bedingt sind. Kausale Erklärungen von Zufallsereignissen sind aber zwangsläufig meistens falsch. Auch wenn man in der Lage ist, die erforderliche Größe einer Stichprobe exakt zu berechnen, wird diese meist nur intuitiv gewählt.

Der überzogene Glaube an die Aussagekraft kleiner Stichprobenbefunde ist nur ein Beispiel für eine allgemeinere Illusion – wir schenken dem Inhalt von Nachrichten generell mehr Aufmerksamkeit als der Information über ihre Zuverlässigkeit und gelangen damit zu einer Sicht der Welt, die einfacher und kohärenter ist, als es die Daten rechtfertigen. Die vom Autor hierfür angeführten Beispiele sind aufschlussreich. Wir sind geneigt, zunächst nach Ursachen zu suchen, statt danach zu fragen, was alles hätte auch anders verlaufen können.

 

Verankerung

Es kommt im Alltag häufig vor, dass wir Größen schätzen müssen, über die wir nichts Genaues wissen. Entsprechende Studien zeigen, dass die geschätzten Werte immer von Vorgaben und Umgebungsbedingungen beeinflusst werden, die eigentlich nichts mit dem betrachteten Problem zu tun haben. Es gibt 2 unterschiedliche Methoden, die wir anwenden, um Schätzwerte zu finden. Das zunächst angesprochene System 1 wird durch einen vorgegebenen Wert zunächst unbewusst auf eine bestimmte Umgebungssituation orientiert und nimmt einen Schätzwert an, der in dieser Situation als angemessen erscheint (Priming), ohne gründlich zu recherchieren. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass auch völlig zusammenhanglose zufällige Vorgaben den Schätzwert beeinflussen.

Bei der 2. Methode wird das Denksystem 2 aktiviert und nimmt den vorgegebenen Wert, wenn er nicht schnell als offensichtlich falsch erkannt werden kann, als Ausgangspunkt, um sich durch rationale Überlegungen einem besseren Wert anzunähern. Der Annäherungsvorgang wird abgebrochen, wenn die Grenze eines Unsicherheitsintervalls erreicht wird, in dem rationale Überlegungen nicht mehr weiterführen. Der Schätzwert liegt im Mittel deshalb immer in Richtung auf den Vorgabewert falsch und ermöglicht die quantitative Bestimmung eines Ankerungsindexes. Der Ankerungsindex ist eine von der Person abhängige Eigenschaft. Personen, die die Wirkung der Verankerung kennen und berücksichtigen, haben einen geringeren Ankerindex als in dieser Hinsicht unbedarfte, können ihn aber nicht auf Null drücken. Der Ankerindex kann bei Verhandlungen erfolgreich zur Beeinflussung des Verhandlungsgegners benutzt und missbraucht werden. Viele Menschen bezweifeln aber die Wirksamkeit des Ankereffekts, weil sie glauben, in ihrem Willen nicht beeinflussbar zu sein. Dies kann in vielen Fällen widerlegt werden.

 

Verfügbarkeitsheuristik

Die Beurteilung der Häufigkeit, Wichtigkeit und Bedeutung eines Ereignisses oder einer Situation hängt weniger vom konkreten Inhalt einer Erinnerung an dieses Ereignis als vielmehr von der Leichtigkeit ab, mit der wir uns an Ereignisse dieser Kategorie erinnern. Dies ist ein Hinweis darauf, dass eine solche Beurteilung vorwiegend eine Leistung des automatischen Denksystems 1 ist und zu einer systematischen Verzerrung des Urteils führt.

Persönliche Erfahrungen, Bilder und anschauliche Beispiele sind leichter verfügbar als Begebenheiten, die anderen widerfahren sind, bloße Worte oder Statistiken. Die Bedeutung der ersteren wird deshalb überschätzt. Es ist möglich, aber anstrengend, diese Verzerrung durch bewusstes Aktivieren des Systems 2 zu vermindern.

 

Bewertung von Nutzen und Risiko

Die von der Verfügbarkeitsheuristik hervorgerufene Verzerrung beeinflusst insbesondere auch die Bewertung von Risiken. Da Erinnerungen an katastrophale Ereignisse, die vor kurzer Zeit stattfanden, sehr viel leichter verfügbar sind als die an weiter zurück liegende, wird die Bewertung solcher Ereignisse in hohem Maße durch die jüngste Vergangenheit bestimmt. Ferner werden emotional ansprechende Ereignisse mit größerer Leichtigkeit erinnert als rational erfahrene und erhalten daher ein größeres Gewicht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Informationsmedien vorzugsweise emotionale, ungewöhnliche und erschreckende Nachrichten verbreiten, weil diese leichter angenommen werden, was eine Verfügbarkeitskaskade erzeugt, die solchen Nachrichten ein größeres Gewicht gibt. Unser Geist scheint nicht in der Lage zu sein, Risiken objektiv einzuschätzen, weil erstens nicht zwischen kleinen und vernachlässigbar kleinen Risiken unterschieden werden kann und zweitens kleine Risiken durch Verfügbarkeitskaskaden in den Medien überdimensional aufgebauscht werden.

Die Wahrnehmungsverzerrung in den Risiken wirkt sich auch in der Bewertung des Nutzens menschlicher Technologien aus. In Studien ist nachweisbar, dass der Nutzen risikoarmer Technologien überschätzt wird und der Nutzen risikoreicherer Technologien geringer bewertet wird, als er tatsächlich ist. Wir machen uns unser Weltmodell kohärenter als es die reale Welt ist. In der Wirtschaftspolitik hat dies häufig eine falsche Verteilung von Ressourcen zur Folge. Hinzu kommt, das es Risikoforscher gibt, die davon ausgehen, dass Risiko grundsätzlich nicht real existiert und nicht objektiv bestimmt werden kann, weil es immer durch seinen Einfluss auf die Kultur des Menschen bewertet werden müsse. Kahneman ist der Meinung, dass bei politischen Entscheidungen zu Risiken sowohl die die objektiven Risikoberechnungen von Experten als auch die subjektiv verzerrten Meinungen der Öffentlichkeit berücksichtigt werden müssen, auch wenn man die auftretenden Widersprüche dadurch nicht völlig beseitigen kann.

 

Fehlerhafte Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten

Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses oder einer Situation wird immer von zwei Ausgangsinformationen bestimmt: von der Wahrscheinlichkeit möglicher alternativer Ereignisse und Situationen der gleichen Kategorie (Basisrate) und von der Qualität und Zuverlässigkeit von Zusatzinformationen, die das betrachtete Ereignis beschreiben.

Sind die Wahrscheinlichkeiten alternativer Ereignisse unbekannt, so ermittelt das Denksystem 1 bestmögliche Wahrscheinlichkeiten intuitiv allein aus der repräsentativen Beschreibung des zu betrachtenden Ereignisses. Sind Wahrscheinlichkeiten alternativer Ereignisse bekannt, wird diese Basisrate intuitiv vernachlässigt, auch wenn die Zuverlässigkeit der Zusatzinformationen fragwürdig ist. Dadurch kann die eingeschätzte Wahrscheinlichkeit völlig unzutreffend sein. Bei wenig vertrauenswürdigen Zusatzinformationen sollten diese vernachlässigt werden. Dann liefert die Basisrate allein die bessere Wahrscheinlichkeit des Ereignisses und die intuitive Antwort ist meistens falsch.

Eine relevante Regel zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit stellt die Bayessche Statistik bereit. Ausgangspunkt muss demnach stets eine plausible Basisrate sein, die sich aus der Wahrscheinlichkeit der möglichen alternativen Ereignisse ergibt. Das Ergebnis ist dann an Hand der Glaubwürdigkeit der Zusatzinformationen zu modifizieren, was stets die Aktivierung des Denksystems 2 erfordert.

 

Repräsentativität kontra Logik

Kahneman konnte an einer Reihe verblüffender Beispiele zeigen, dass auch gebildete und intelligente Probanden elementarste logische Regeln in solchen Situationen häufig nicht beachten, in denen Ihr Denksystem 2 nicht aktiviert oder durch die gezielt spezifische Fragestellung abgelenkt wird und das System 1 die Frage intuitiv durch konstruierte repräsentative kausale Zusammenhänge erklären kann. So wird häufig die logische Regel missachtet, dass die Wahrscheinlichkeit für das gleichzeitige Eintreten zweier Ereignisse niemals größer sein kann als die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten nur eines dieser Ereignisse. Solche logischen Fehlschlüsse treten besonders dann auf, wenn das Problem durch Mittelwertbildung scheinbar gelöst werden kann, tatsächlich aber summiert oder subtrahiert werden muss, was das System 1 nicht leisten kann. Ein nicht spezifiziertes Ereignis wird dann irrtümlich als unwahrscheinlicher eingeschätzt als ein spezifiziertes der gleichen Kategorie, wenn es vor kurzem schon einmal vorgekommen ist.

 

Unterschiedliche Bewertung statistischer und kausaler Informationen

Studien mit Gruppen verschiedener Probanden zeigten, dass bei der adhoc- Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten die Basisraten statistischer Natur immer dann vernachlässigt werden, wenn kein kausaler Zusammenhang zwischen den der Basisrate zu Grunde liegenden Ereignissen und den spezifischen Informationen, die die zu bewertenden Ereignisse näher beschreiben, vorhanden ist oder nicht leicht konstruiert werden kann. Dies liegt daran, dass die menschliche Psyche generell die Eigenschaft zeigt, eine langjährig erworbene Überzeugung nur dann zu ändern, wenn überraschend nicht dazu passende Ereignisse dies zwingend fordern. Es ist deshalb auch typisch, dass statistische Informationen viel schwerer eine vorhandene Überzeugung verändern können als beispielhafte kausal verknüpfte und selbst erlebte Abläufe. Deshalb versucht der Autor in diesem Buch auch seine Erkenntnisse vorwiegend an Hand von den Leser überraschenden Beispielen zu vermitteln.

 

Regression zum Mittelwert

Wenn aus einer statistischen Gesamtheit von Entitäten, deren Eigenschaften von mehr als einem unabhängigen Parameter bestimmt sind, eine Stichprobe nach Extremwerten einer bestimmten Eigenschaft ausgewählt wird, so verschieben sich die Eigenschaften der ausgewählten Entitäten aus statistischen Gründen in den meisten Fällen in Richtung zum Mittelwert der Gesamtheit, wenn eine zweite Abfrage dieser Eigenschaften zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt. Dieses Verhalten wird entweder ignoriert, oder wenn es bemerkt wird, wird eine falsche kausale Erklärung dazu erfunden. Tatsächlich entsteht der Effekt nur rein statistisch dadurch, dass solche Eigenschaften stets auch von zufälligen Parametern abhängen, die nicht beachtet werden. Der Autor beschreibt an mehreren Beispielen, dass auch Fachleute, die mit der Wahrscheinlichkeitstheorie vertraut sein müssten, oft solchen Irrtümern erliegen.

Immer dann, wenn verschiedene Eigenschaften einer statistischen Gesamtheit von Entitäten nicht exakt korreliert sind, der Korrelationskoeffizient also kleiner als eins ist, kommt es zur Regression zum Mittelwert, weil dann diese Eigenschaften von mehreren voneinander unabhängigen Parametern statistisch bestimmt sind. Unser Intellekt neigt dann aber zunächst zu einer kausalen Erklärung und kommt mit bloßer Statistik nicht gut zurecht.

Wie vermeidet man verzerrte Voraussagen?

Vernünftiges Handeln erfordert zutreffende Voraussagen. Wir sollten uns bewusst machen, dass unser schnelles Denksystem 1 stets zunächst verzerrte Voraussagen liefert, welche alle beschriebenen Denkfehler und Irrtümer enthalten. Für gute und zutreffende Voraussagen müssen wir uns anstrengen und unser Denksystem 2 einsetzen. Dazu sind folgende Schritte notwendig:

Zu jedem Einzelereignis ist zunächst die relevante Bezugskategorie zu finden und die Basisraten-Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, die eine intuitive Vorhersagewahrscheinlichkeit für den Referenzwert liefert.

Die zur Verfügung stehenden Einzelinformationen sind intuitiv bezüglich ihres Abstandes zu den typischen Referenzwerten der Bezugskategorie zu bewerten und ihre eventuelle Extremität einzuschätzen.

Die Qualität der Zusatzinformationen und ihr Korrelationskoeffizient in Bezug auf die gesuchte Voraussage ist zu schätzen.

Die intuitiv geschätzten individuellen Abstände zu den Referenzwerten sind um den Faktor des Korrelationskoeffizienten zu reduzieren.

Das Verfahren ist aufwändig und kann deshalb nur bei wichtigen Voraussagen angewendet werden. Es führt zur Verminderung der Selbstüberschätzung und zur Beseitigung extremer Voraussagen, die nur bei sehr guter, meist nicht vorliegender Qualität aller Zusatzinformationen gerechtfertigt sind.

 

Die Illusion des Verstehens

Daniel Kahneman trägt eine Menge an Beispielen zusammen, die zu dem Schluss führen, unser Intellekt sei so beschaffen, dass wir uns einbilden, die Welt wäre einfacher und kohärenter beschaffen als sie es wirklich ist. Wir konstruieren aus den in der Vergangenheit erlebten Ereignissen und den daraus verfügbaren beschränkten Informationen eine bestmögliche kohärente Geschichte und vernachlässigen alles, was wir nicht wissen und was sich hätte auch ereignen können. Wir glauben diese Geschichte verstanden zu haben und überschätzen die Zuverlässigkeit dieses „Wissens“. Wie unzuverlässig dieses Wissen ist, zeigt sich daran, dass die Zukunft nicht wirklich vorausgesagt werden kann und wenn eine Voraussage tatsächlich eintritt, bilden wir uns ein, wir hätten es gewusst und ignorieren den Zufall. Tritt ein überraschendes Ereignis ein, das nicht der Voraussage entspricht, suchen wir sofort nach der Ursache und korrigieren unser Wissen. Dieses Verhalten ist natürlich vernünftig und notwendig für die Planung zukünftiger Handlungen, aber wir sollten uns stets der darüber hinaus weiterhin vorhandenen Unsicherheit unseres Wissens bewusst sein. Dies ist aber häufig nicht der Fall und führt zu erheblichen Fehleinschätzungen bei der Beurteilung von Entscheidungen von Führungskräften in beiden Richtungen: Bei Erfolg zu positive und bei Misserfolg zu negative und daher ungerechte Beurteilungen.

 

Die Illusion der Gültigkeit

Die Illusion des Verstehens hat eine Illusion über die Gültigkeit unserer Meinungen zur Folge. An einer Reihe von Beispielen kann Kahneman zeigen, dass unser Denksystem 1 aus dürftigen Informationen weitreichende Schlussfolgerungen zieht und nicht bemerkt, dass wir für unsere für erwiesen gehaltenen Meinungen nur wenig stichhaltige Belege haben. Insbesondere legen wir intuitiv wenig Wert auf statistisch belegte Fakten und vernachlässigen diese, wenn unsere persönlich gewonnenen Erfahrungen in Widerspruch zu diesen zu stehen scheinen. Es lässt sich nachweisen, dass dies auch für die Gutachten kompetenter Experten zutrifft, die ihre sich später als richtig erweisenden Voraussagen weitaus höher bewerten als ihre Irrtümer, auch wenn sie im Prinzip über ihre Irrtumswahrscheinlichkeiten informiert sind. Kahneman vertritt die Auffassung, dass auch kompetente Experten solche Irrtümer nicht vermeiden können, denn die Welt sei eben komplizierter und undurchschaubarer als sie uns im Allgemeinen erscheint.

 

Intuitionen oder Formeln zur Bewertung komplexer Situationen?

Um die bislang beschriebenen systematischen Denkfehler zu vermeiden, vergleicht der Autor zwei verschiedene Methoden, um z. B. die Eigenschaften einer Person und ihrer Eignung zur Ausführung bestimmter Tätigkeiten zu beurteilen. Die erste und naheliegende Methode besteht darin, mit den auszuwählenden Personen ein unvorbereitetes Interview über die auszuführende Tätigkeit zu führen und das Verhalten und die Aussagen der betreffenden Personen zu vergleichen und daraus intuitiv die geeignetste Person hierfür auszuwählen. Diese Methode wird häufig praktiziert und von kompetenten Experten für die beste gehalten. Kahneman hält aber eine andere Methode für wesentlich zuverlässiger: Zunächst solle man eine Liste von etwa sechs voneinander unabhängigen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenstellen, die für die auszuführende Tätigkeit wesentlich sind, und dann einige Fragen stellen, deren Beantwortung eindeutige Rückschlüsse auf diese Merkmale zulassen. Anhand der Antworten sollte dann eine Benotung jedes einzelnen Merkmals von 1 bis 5 erfolgen und die Person ausgewählt werden, die die höchste Summe der Noten erreicht. Eine entsprechende Formelmethode solle man auch in beliebigen anderen komplexen Situationen anwenden, um zu einer zuverlässigeren Beurteilung zu gelangen, als sie ein intuitiver Vergleich mit ähnlichen, erinnerten Situationen liefern könnte. Doch warum sollte die zweite formalere Methode besser sein?

 

Wann können wir der Intuition von Experten vertrauen ?

Kahneman hat mit einem Gegner der von ihm bevorzugten formalen algorithmischen Methode, dem Entscheidungsforscher Gary Klein, sieben Jahre zusammengearbeitet, um ihre entgegengesetzten Ansichten zu erforschen und aufzuklären und kam zu folgendem Ergebnis:

Wenn Experten durch jahrelange Tätigkeit auf einem Gebiet ihre Kompetenz erworben haben, auf dem es viele Regelmäßigkeiten und nur wenige Überraschungen gibt, sind sie tatsächlich in der Lage intuitive Urteile zu fällen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen, wenn sie in das gleiche Gebiet fallen, auf dem die Kompetenz erworben wurde. Diese Urteile beruhen auf dem Wiedererkennen früher erfahrener ähnlicher Situationen. Infolge der Häufigkeit des Zutreffens solcher Urteile überschätzen diese Experten aber häufig ihre diesbezüglichen Fähigkeiten und sind nicht in der Lage, die Unzuverlässigkeit ihrer Aussagen einzuschätzen, sobald sie mit Fragen konfrontiert werden, die ihren Erfahrungsbereich verlassen. In diesen Grenzbereichen und besonders auf Gebieten, in denen es weniger Regelmäßigkeiten und viele unerforschte Zusammenhänge gibt, werden die intuitiven Urteile von Experten unzuverlässig und die formalen algorithmischen Methoden liefern mit wenigen Ausnahmen wesentlich bessere Ergebnisse. Dessen ungeachtet werden solche intuitiven Expertenurteile dennoch oft mit hoher Überzeugungskraft vorgetragen und von der umgebenden Fachwelt anerkannt.

 

Selbstüberschätzung und wie man sie vermeiden kann

Eine kritische Analyse zahlreicher im alltäglichen Leben zu bewältigender Probleme zeigte, dass wir häufig eine zu optimistische Einschätzung der Situation vornehmen und vorhandene Risiken in unserem Verhalten nicht beachten. Ursache ist, dass wir gute Erfahrungen leichter im Gedächtnis behalten als negative und alles das, was wir nicht selbst erlebt haben, bei der Bewertung nicht berücksichtigen. Da sich diese Eigenschaft häufig im gesellschaftlichen Leben positiv auswirkt, weil sonst viele vorwärtsweisende Entscheidungen nicht getroffen und verwirklicht werden würden, wird die daraus resultierende Tatkraft von Führungskräften gesellschaftlich akzeptiert und positiv bewertet, was deren Selbstüberschätzung noch verstärkt. Dennoch ergeben sich aus diesem Verhalten mitunter große wirtschaftliche Verluste, die man im Rückblick hätte gern vermeiden wollen. Organisationen gelingt es besser als Einzelpersonen, übermäßigen Optimismus zu zähmen. Als hierfür geeignete Methode wird folgendes empfohlen:

Wenn die Organisation kurz davor steht, eine wichtige Entscheidung zu treffen, aber noch keinen bindenden Beschluss gefasst hat, solle man alle kompetenten Mitarbeiter dazu auffordern, anzunehmen, dass der zu fassende Beschluss realisiert worden sei und nach einem Jahr zu einer Katastrophe geführt habe. In 5 bis 10 Minuten solle dann jeder eine kurze Beschreibung des möglichen Verlaufes zu diesem Ergebnis verfassen. Man erreicht damit, dass mögliche Risiken noch einmal durchdacht werden und vermeidet die Gefahr, dass nach der Beschlussfassung aufkommende Zweifel an dessen Richtigkeit schnell unter den Tisch gekehrt werden.

 

Die neue Erwartungstheorie

Die Standarttheorie der Volkswirtschaftslehre geht davon aus, dass alle Entscheidungen der Marktteilnehmer rational nach den Regeln der Erwartungsnutzentheorie erfolgen. Wirtschaftlichen Entscheidungen liegen immer Voraussagen über zukünftige Entwicklungen zu Grunde, die grundsätzlich unsicher und mit einer geschätzten Wahrscheinlichkeit falsch sind. Der zu erwartende Nutzen ergibt sich dann immer aus dem mit der Eintrittswahrscheinlichkeit gewichteten, aus der jeweiligen Entscheidungsvariante berechenbaren Nutzen. Seit der von Fechner (1801-1887) begründeten Psychophysik wird der sog. Psychologische Nutzen dabei aus der eintretenden relativen Vermögensänderung, bezogen auf das jeweilige Ausgangsvermögen berechnet. Betragsmäßig gleiche Gewinne und Verluste werden damit gleich gewichtet, das psychologische Gewicht nimmt aber mit zunehmendem Ausgangsvermögen ab. Kahneman und Tversky konnten jedoch zeigen, dass die Mehrzahl der Menschen Gewinne und Verluste psychologisch unterschiedlich bewertet. Risikofreudige Personen bewerten Verluste um einen Faktor 1,5 höher als Gewinne, risikoscheue aber um einen Faktor 2,5. Der Verlustaversionskoeffizient steigt mit steigenden Verlusten. Diese Erkenntnisse werden in der Neuen Erwartungstheorie berücksichtigt. Der Referenzpunkt, auf den Gewinne und Verluste bezogen werden, ist dabei nicht immer der Status quo, sondern kann auch ein mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteter anderer Wert sein. Dieser emotional von Enttäuschung und Reue bestimmte Wert ist jedoch hochgradig unsicher.


Der Besitztumseffekt

Die unterschiedliche Bewertung von Gewinnen und Verlusten hat zur Folge, dass die Preise für Tauschgüter und Besitztümer von Käufern und Verkäufern verschieden bewertet werden. Während bei Tauschgütern die Preise von Käufern und Verkäufern gleichbewertet (Tauschwert) werden, setzen bei Besitztümern, die für den Besitzer einen eigenen Gebrauchswert haben, Verkäufer einen höheren Preis an als Käufer. Ein sinkender Verkaufspreis im Einzelhandel wird deshalb vom Käufer als Gewinn wahrgenommen und steigert den Umsatz, während ein steigender Verkaufspreis als Verlust gewertet wird und den Umsatz bremst. Wegen der Verlustaversion ist der negative Effekt steigender Preise auf den Umsatz bei Gebrauchsgütern größer als der positive fallender Preise. Kein Besitztumseffekt wird dagegen erwartet, wenn Eigentümer ihre Güter als Wertträger für zukünftige Tauschgeschäfte betrachten, eine übliche Einstellung auf Handels- und Finanzmärkten. Der Besitztumseffekt ist vom Referenzpunkt abhängig, der Gewinn und Verlust trennt, und der ist von Vermögen und Kultur beeinflusst.

 

Gesellschaftliche Auswirkungen der Verlustaversion

Unser Denksystem1 bewertet Verluste automatisch immer höher als Gewinne. Der Referenzpunkt, von dem aus Gewinne und Verluste zählen, ist häufig der Status quo, kann aber auch ein angestrebtes Ziel oder eine allgemein anerkannte Regel sein. Bei Verhandlungen über die Änderung von Regeln und Verträgen suchen die Verhandlungspartner deshalb immer hartnäckig einmal erreichte Positionen zu verteidigen und einseitige Verluste zu vermeiden. Daher kommt es oft zu Ausnahmeregelungen für einzelne Partner, um deren momentanen Besitzstand zu wahren und Nachteile zu mindest zeitweise zu vermeiden. Individuelle Handlungen zur Vermeidung von Verlusten werden dann auch eher gesellschaftlich akzeptiert als Maßnahmen zur Steigerung des Gewinns. So trägt der individuelle Egoismus zur Wahrung des Besitzstandes auch zur Durchsetzung solidarischer Regeln und zur Stabilisierung der Gesellschaft bei.

 

Systematische Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten

Ursache der Verlustaversion des Denksystems 1 ist eine systematischen Verzerrung der Intuitiven Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten, mit denen wir unsere Erwartungen bei Entscheidungen gewichten. Sehr kleine Wahrscheinlichkeiten werden vollständig vernachlässigt und kleine Wahrscheinlichkeiten durch den „Möglichkeitseffekt“ bis zum fünffachen des realen Wertes überschätzt. Wahrscheinlichkeiten in der Nähe von 1 werden durch den „Sicherheitseffekt“ zu gering bewertet, der Sicherheitsabstand von 1 wird bis zum Faktor 10 überbewertet. Für den mittleren Bereich verbleibt deshalb nur etwa 2/3 des realen Erwartungsgewichts. Von der Neuen Erwartungstheorie wird das berücksichtigt, wodurch ein neues viergeteiltes Muster der Verhaltensökonomik entsteht, welches das Muster der rationalen Entscheidungstheorie ersetzt.

Im Bereich 1 werden hohe Gewinne mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet. Der Sicherheitseffekt erzeugt Angst vor Enttäuschung und führt zu risikoscheuen, nichtoptimalen Entscheidungen.

Im Bereich 2 werden mit geringer Wahrscheinlichkeit hohe Gewinne erwartet. Der Möglichkeitseffekt erzeugt Hoffnung auf einen hohen Gewinn und führt zu risikofreudigen Entscheidungen und zum Verwerfen sicherer Varianten mit geringerem Gewinn.

Im Bereich 3 werden mit geringer Wahrscheinlichkeit hohe Verluste erwartet. Die Furcht vor einem hohen Verlust führt zu risikoscheuen Entscheidungen, die durch aufwändige Versicherungen abgedeckt werden, um mit kostspieligen Zahlungen geringe Risiken zu umgehen.

Im Bereich 4 werden mit hoher Wahrscheinlichkeit große Verluste erwartet. In der Hoffnung, diese Verluste vermeiden zu können, werden risikofreudige Entscheidungen gefällt, auch wenn nur geringe Aussichten auf Erfolg bestehen.

Nach diesem Muster kann das Verhalten vieler Menschen bei Verhandlungen, Wetten, Glücksspielen und Gerichtsprozessen erklärt werden: Die übliche Übergewichtung unwahrscheinlicher Ereignisse führt so zu unrationellen Ergebnissen.

 

Warum wird die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse falsch bewertet?

Auch wenn Sie wissen, wie die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu berechnen ist, wird das Entscheidungsgewicht, das Sie einem Ereignis zuordnen, zunächst von dem schnellen Denksystem 1 festgelegt. Deshalb hat die Anschaulichkeit und die Leichtigkeit, mit dem einem konkrete Ereignisse einfallen, erheblichen Einfluss auf die Zuordnung eines Entscheidungsgewichtes. Eigene Erfahrungen erhalten stets ein höheres Gewicht als Beschreibungen eines Ereignisses und seltene Ereignisse, die man noch nie erlebt hat, werden unterbewichtet. Auch wenn das Ereignis Emotionen auslöst, wird das Gewicht verstärkt, besonders wenn es durch die Darstellung in den Medien wiederholt erlebt und gesellschaftlich reflektiert wird. Für die Umsetzung von Wahrscheinlichkeiten in Entscheidungsgewichte spielt das Format eine wesentliche Rolle, in dem die Wahrscheinlichkeiten angeboten werden. Konkrete Angaben von Häufigkeiten werden genauer in Entscheidungsgewichte umgesetzt als abstraktere Angaben in %, als Chancen oder als Risiken.

 

Risikostrategien

Jede einfache Wahlentscheidung zu Gewinnen oder Verlusten lässt sich in eine Kombination mehrerer Entscheidungen zerlegen, in denen es um Wahrscheinlichkeiten zur Erzielung von unterschiedlichen Gewinnen und Verlusten mit einem gleichen Endergebnis geht. Kahneman zeigt, an solchen Beispielen, dass die asymmetrische Verlustaversion des Denksystems 1 zu logisch nicht konsistenten Entscheidungen führt, die im Ergebnis im Mittel immer größere Verluste und kleinere Gewinne zur Folge haben, als wenn strikt rational entschieden worden wäre. Das Denksystem 1 ist nicht in der Lage, logisch konsistente rationale Entscheidungen zu treffen. Um diese Inkonsistenzen bewusst zu machen, ist zu empfehlen, Risikoentscheidungen immer in kombinierte Einzelentscheidungen zu zerlegen, wodurch das Denksystem 2 aktiviert wird, das solche Inkonsistenzen eher aufdecken kann. Der automatischen Verlustaversion sollte man nur folgen, wenn existenzbedrohende Verluste zu vermeiden sind oder wenn optimistische Selbstüberschätzung zum Ruin führen könnte. In der Praxis sind Risikostrategien rational, die z.B. beim Abschluss von Versicherungen immer diejenige mit dem größtmöglichen Selbstbehalt und die Ablehnung von erweiterten Produktgarantieversicherungen in Betracht ziehen.

 

Mentale Buchführung verursacht Kosten

Die meisten Menschen sind keine ökonomisch rationalen Agenten, sondern folgen den ökonomischen Entscheidungen ihres Denksystems 1 mit den ausgeprägten Unterschieden in der Bewertung von Gewinnen und Verlusten und erliegen ihrer Verlustaversion. Dabei wird jede zu treffende Entscheidung und Handlung einzeln nach ihrem individuellen gefühltem Erfolg bewertet, was in der Summe zu vermeidbaren Zusatzkosten führt, die für die Absicherung überbewerteter Verluste eingesetzt werden. Dies gilt sowohl für die Rettung nicht mehr aussichtsreicher Projekte wie auch für das weitere Halten von Aktien, die an Kurs verloren haben. Ein rational handelnder, erfahrener Händler und Manager sollte nicht abzuwendende Verluste einzelner Projekte schnell wegstecken und sich neuen, erfolgreicheren Vorhaben zu wenden, um eine günstige Gesamtbilanz zu erzielen.

Bei der Bewertung eines erlittenen Verlustes gibt es aber eine weitere Asymmetrie. Wenn der Verlust eingetreten ist, weil eine Entscheidung getroffen wurde, die vom normalen Standard abwich, ist die einsetzende Reue oder der zu erwartende Tadel weitaus heftiger als wenn er eingetreten wäre, weil man eine ungewöhnliche Entscheidung nicht getroffen hätte. Dieser Aspekt bevorzugt eine Entscheidung, die möglichst nicht von der normalen standardisierten Handlungsweise abweicht, auch wenn die Abweichung einen Verlust vermindert hätte, und verstärkt damit die Wirkung der Verlustaversion.

Obwohl die Verlustaversion zu ökonomischen Verlusten führt, ist sie eine weitverbreitete Tatsache und moralisch und gesellschaftlich weitgehend anerkannt. So sind z.B. in Europa als Folge der Verlustaversion jegliche Handlungen juristisch verboten, die Menschen oder der Umwelt schaden könnten, auch wenn kein zweifelsfreier wissenschaftlicher Nachweis der Unbedenklichkeit erbracht werden kann.

 

Inkohärenz bei der Bewertung von Sachverhalten

Verschiedene psychologische Studien zeigten, dass die emotionale und moralische Bewertung ähnlicher Sachverhalte und Handlungen sehr stark vom angebotenen Kontext abhängig ist. Während die Intensität verschiedener Eindrücke, die zur selben Kategorie gehören, im allgemeinen noch ziemlich einheitlich bewertbar ist und diese in einer konsistenten Reihenfolge eingeordnet werden können, lassen sich Sachverhalte, die zu unterschiedlichen Kategorien gehören, nicht konsistent miteinander vergleichen. Bei unterschiedlichem Kontext und in verschiedenen Umgebungen kommt es dann häufig zu unterschiedlichen Beurteilungen, die nicht miteinander verträglich sind. Das hat z.B. zur Folge, dass im Gerichtswesen Verstöße, Straftaten und Bestrafungen nur innerhalb ein und derselben Kategorie in einer sinnvollen Reihenfolge der Schwere geordnet werden können und miteinander vergleichbar sind. Nur durch solche Vergleiche sind Straftaten und die Höhe der Bestrafungen gerecht festsetzbar, eine isolierte Bewertung einer einzelnen Handlung führt zu inkonsistenten Urteilen.

Der menschliche Intellekt ist nicht in der Lage, konsistente emotionale und moralische Urteile zu fällen, die über die Grenzen unterschiedlicher Kategorien hinaus gerecht erscheinen. Dies hat auch zur Folge, dass die Bestimmungen des Gerichtswesens über die Grenzen der verschiedenen Behörden und Länder hinweg nicht kohärent miteinander vergleichbar sind.

 

Sind wir fähig, rational zu entscheiden?

An vielen Beispielen und experimentellen psychologischen Studien kann Kahneman zeigen, dass die Entscheidungen der meisten Menschen in vielen Situationen weniger vom realen Sachverhalt als vielmehr von der Darstellung und Beschreibung des zu entscheidenden Problems bestimmt werden. Dies trifft nicht nur für Probanden zu, die mit den zu entscheidenden Fragen weniger vertraut sind, sondern auch für ausgewiesene Fachleute. Ursache ist die Dominanz des Denksystems 1, das zunächst immer eine emotional und moralisch beeinflusste Entscheidung herbeiführt. Die meisten Menschen schalten erst das trägere Denksystem2 ein, wenn sie speziell darauf hingewiesen werden, dass es unterschiedliche Beschreibungen des gleichen Sachverhaltes gibt, die sie selbst zu inkonsistenten Entscheidungen veranlasst.

Neurowissenschaftler haben in tausenden von Experimenten festgestellt, dass unterschiedliche Hirnregionen aktiviert werden, je nach der Art des zu lösenden Problems, wie es beschrieben und wie es in der jeweiligen Situation entschieden wird, wobei auch charakterliche Eigenheiten der jeweiligen Person eine Rolle spielen.

Bei emotional aufgeladenen Beschreibungen wird die für emotionale Erregungen zuständige Region des Hirn, die Amygdala, aktiviert, die sehr schnell auf emotionale Reize reagiert und die Entscheidung des Denksystems 1 vorbereitet und einleitet.

Eine Hirnregion, die mit Konfliktlösung und Selbstkontrolle assoziiert ist, der Cortex cingularis anterior, wird aktiv, wenn der Proband sich nicht für seine emotional bevorzugte Lösung entscheidet, alternative Beschreibungen in Betracht zieht und den Vorschlägen seines Denksystems 1 widersteht.

Gewöhnlich rational handelnde Probanden zeigten keine neuronalen Hinweise auf innere Konflikte und fanden durch Einschalten des Denksystems 2 eine von Emotionen wenig beeinflusste logische Entscheidung.

Es ist eine unwiderlegbare Tatsache, dass von den meisten Menschen aller Berufsgruppen und Bildungsstufen oft solche von Emotionen bestimmte und irrationale Entscheidungen in Ökonomie, Medizin und Justiz getroffen werden. Dieses psychologisch begründete Verhalten muss selbstverständlich bei Entscheidungen berücksichtigt werden und wird der von Kahneman entwickelten Neuen Erwartungstheorie zu Grunde gelegt. Das kann aber nicht bedeuten, dass die traditionelle Erwartungsnutzentheorie in der Ökonomie jede Bedeutung verliert und durch die neue Theorie ersetzt werden müsste. Es gibt eben auch immer eine nicht unbedeutende Menge von Menschen, die gelernt haben, sich rational zu verhalten, wie die experimentellen Ergebnisse der psychologischen Studien ebenfalls zeigen.

 

Erfahrungsnutzen und Entscheidungsnutzen

Die tiefere Ursache irrationaler Entscheidungen ist darin zu suchen, dass die Bedeutung des Nutzens nicht eindeutig definiert ist. Rationale Entscheidungen, die wir als widerspruchsfrei empfinden, beruhen stets auf der Ermittlung eines messbaren wahrscheinlichen Nutzens des Ergebnisses einer Entscheidung. Der erfahrene Nutzen einer Entscheidung resultiert jedoch aus einem Gefühl von Lust oder Schmerz, der mit der Entscheidung verbunden ist. Kahneman führte nun einige experimentelle Studien durch, um dieses Gefühl auf einer Skala messbar zu machen. Er benutzte dazu die Reaktionen von Probanden, denen ein Schmerz von unterschiedlicher Dauer und messbarer Intensität zugefügt wurde. Dabei stellte er fest, dass der erfahrener Nutzen negativ als Schmerz empfunden werden kann, dessen Intensität und Dauer momentan anders bewichtet wird, als er sich in der Erinnerung darstellt. Für die Bemessung der momentanen Schmerzerfahrungen ist die Aufsummierung der momentan berichteten Schmerzintensitäten maßgebend, was einer Gleichbewichtung von Intensität und Dauer der Schmerzempfindungen entspricht. In einer späteren Erinnerung an die Schmerzerfahrungen gewichtete der Proband jedoch nur die höchste Schmerzempfindung und die Intensität des Schmerzes am Ende des Versuchszeitraums, während die Dauer der Schmerzempfindung keinerlei Bedeutung für die Bewertung der Stärke des Schmerzes hatte. Das prinzipiell gleiche Verhalten wurde auch bei Tierversuchen gefunden. Diese empirischen Befunde erhärten die allgemeinere These, dass Menschen auf Grund ihres unvollkommenen Gehirns nur selten in der Lage sind, rationale und konsistente, widerspruchsfreie Entscheidungen mit optimalem ökonomischen Nutzen zu treffen.

 

Das Leben als eine Geschichte

Kahneman verallgemeinert hier die an Schmerzerfahrungen gefundenen experimentellen Ergebnisse auf Gefühle aller Art und behauptet, dass auch bei Lust,Trauer und Mitleid nur die Höchstintensität und und die Intensität der jüngsten Empfindungen dauerhaft erinnert werden. Dies zeige sich bei Erinnerungen an vergangene Lebensabschnitte. Hierzu werden aber keine empirischen Ergebnisse von Studien mitgeteilt. Die von Kahneman beschriebenen diesbezüglichen subjektiven Erfahrungen sind für mich jedoch nicht nachvollziehbar. Möglicherweise ist er selbst nicht voll von seiner Behauptung überzeugt, denn im nächsten Abschnitt beschreibt er Ergebnisse von Studien, die auch andere Schlussfolgerungen zulassen.

 

Erlebtes Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit

Kahneman beschreibt zwei Methoden, um ein zuverlässiges Maß für das erlebte Wohlbefinden und die globale Lebenszufriedenheit zu finden. Bei der ersten Methode werden seine Probanden von einem Computerprogramm während sie ihren normalen Alltagstätigkeiten nachgehen in unregelmäßigen Zeitabständen nach ihrem momentanen Wohlbefinden dabei befragt. Da dieses Verfahren aufwendig ist und störend sein kann, entwickelte er ein zweites Verfahren, in dem er die Probanden am Ende jedes Tages aufforderte, ihre Tätigkeit während dieses Tages in unterschiedlich lange Episoden einzuteilen und ihr jeweiliges Wohlbefinden dabei zu klassifizieren. Zunächst wurden mehrere tausend Probanden befragt und die Ergebnisse analysiert. Ein Vergleich der beiden Methoden zeigte, dass sie im wesentlichen die gleichen Ergebnisse lieferten. Die zweite Methode wurde dann auf Millionen von Befragten in 150 Ländern angewandt.

Umfangreiche Analysen ergaben, dass erlebtes Wohlbefinden und globale Lebenszufriedenheit zwei völlig voneinander verschiedene Lebensqualitäten beschreiben, die von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden. So beeinflusst z.B. der Bildungsstand die eigene Lebenszufriedenheit, hat aber wenig Einfluss auf das erlebte Wohlbefinden, während der Gesundheitszustand das erlebte Wohlbefinden stärker beeinträchtigt als die Lebenszufriedenheit. Ein steigendes Haushaltseinkommen erhöht das erlebte Wohlbefinden nur bis zu einer von Land zu Land unterschiedlich hohen Grenze, während die Lebenszufriedenheit auch weit darüber hinaus weiter ansteigt.

 

Was bestimmt die Lebenszufriedenheit?

Die globale Lebenszufriedenheit wird durch mehrere komplex miteinander verwobene Faktoren bestimmt. Einerseits ist sie korreliert mit dem erlebten Wohlbefinden, weil beide zu einem gewissen Teil durch genetisch verankerte Dispositionen des Temperaments bestimmt sind, wie Studien über getrennt aufwachsende Zwillinge zeigen. Für diesen Teil treffen die Verzerrungen durch Erinnerungen zu, die dazu führen, dass die emotional stärksten Emotionen und die zuletzt erlebten Befindlichkeiten stärker bewichtet werden, als ihrer Dauer entspricht. Entscheidenden Einfluss auf die Lebenszufriedenheit hat aber nicht die Stimmungslage, sondern inwieweit die in der Jugend gesetzten Lebensziele im Erwachsenenalter erreicht und verwirklicht werden konnten oder ob Abstriche gemacht werden mussten und ob positive oder negative Tendenzen überwiegen.

 

Gesamtbetrachtung

Erlebtes Wohlbefinden und globale Lebenszufriedenheit bestimmen die wesentlichen Persönlichkeitseigenschaften der Menschen und werden in zunehmendem Maße auch als Kriterien und Leitplanken zu Entscheidungen für eine erfolgreiche und sinnvolle Wirtschaftspolitik in den Blick genommen und erforscht. Ein wichtiges Element ist dabei die Selbstbetrachtung und Selbsteinschätzung der Individuen, die ihr Selbstwertgefühl bestimmen. Es zeigte sich, dass zwei unterschiedliche Gesichtspunkte wesentlich sind, die aber zu widersprüchlichen Beurteilungen führen. Kahneman nennt sie das erlebende Selbst und das erinnernde Selbst. Alle Erinnerungen werden zwar durch das erlebende Selbst gebildet, erfahren aber durch das erinnernde Selbst eine andere und mitunter entgegengesetzte Bewertung.

Quelle des erlebenden Selbst ist das intuitive Denksystem 1 mit seinen schnellen und emotionsgeladenen Entscheidungen, das auch die Auswahl für die Ablage der Erlebnisse im Langzeitgedächtnis bestimmt. Das erinnernde Selbst muss auf die Inhalte des Langzeitgedächtnisses zurückgreifen und verwendet das langsame und anstrengende Denksystem 2, um Widersprüche aufzudecken, logische Zusammenhänge herzustellen und Schlussfolgerungen für die Zukunft abzuleiten und zu bewerten. Das Denksystem 2 ist in der Lage, korrigierend auf das Denksystem1 einzuwirken, allerdings nur langfristig. Es ist naheliegend, dass die gegenseitige Beeinflussung der beiden Denksystem nicht zur völligen Beseitigung aller Widersprüche führt, sondern häufig eines der Systeme das andere dominieren wird. Je nach dem, welches der Systeme dominiert, sind menschliche Individuen mehr oder weniger Econs oder Humans.

Kahneman definiert Econs als Menschen, die als rationale Agenten in der Lage sind, alle zur Verfügung stehenden Informationen zu widerspruchsfreien Entscheidungen zu verarbeiten und damit stets zu ihrem persönlichen Nutzen zu handeln. Das Modell des rationalen Agenten ist das Grundmodell der Chicagoer Schule der liberalen Ökonomie und bildet die intellektuelle Grundlage der libertären politischen Philosophie, derzufolge die individuelle Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt werden darf, solange die Entscheidungen Einzelner andere nicht schädigen. In einer Nation von Econs darf die Entscheidung von Econs staatlicherseits nicht beeinflusst werden, denn Econs machen per Definition von selbst keine Fehler.
Demgegenüber sind Humans reale Menschen, deren Denken allen Irrtümern und Fehlschlüssen unterliegt, dem das Denksystem 1 auf Grund der oben beschriebenen Funktionen und Eigenschaften ausgesetzt ist. Deshalb ist es angebracht, ihnen zu helfen und zu erleichtern, ihre Denkfehler zu erkennen, ohne sie zu bevormunden, und sie davor zu schützen, dass ihre Denkfehler von Econs ausgenützt werden.

Econs und Humans sind natürlich Extreme eines kontinuierlichen Spektrums. Je nach dem, wie stark das Denksystem 1 das andere dominiert, verhalten sich reale Menschen mehr oder weniger wie reine Humans und Econs.

Letztendlich ist für die Persönlichkeitseigenschaften und das reale Verhalten der Individuen also das Verhältnis der Denksysteme 1 und 2 maßgebend. Um vernünftige Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir beide. Ein Ausgleich der Nachteile des Denksystems 1 gelingt besser, wenn die umfassenderen Fähigkeiten von Organisationen zur Verfügung stehen und einsetzbar sind. Eine libertär-paternalistische repräsentative Demokratie, die diese Fähigkeiten nutzt, ist deshalb einer Diktatur oder einer unstrukturierten Basisdemokratie vorzuziehen.

 

Zusammenfassende Bewertung des Buches

Das Buch bietet interessante Einblicke in die Psychologie des menschlichen Verhaltens und deren gesellschaftliche Auswirkungen. In der Darstellungsweise wendet es die psychologischen Erkenntnisse Kahnemans an und beschreibt deshalb seine Erkenntnisse weniger an Hand verallgemeinerter theoretischer Lehrsätze, sondern versucht vielmehr durch Darlegung interessanter alltäglicher Beispiele deren Aufnahme in das Denksystem 1 zu erleichtern und den Leser aufzufordern, sein Denksystem 2 zu aktivieren und die Beispiele selbst zu analysieren. Die Methode ist also darauf angelegt, den Glauben des Lesers an die Richtigkeit der Erkenntnisse Kahnemans durch Anwendung seiner eigenen Erkenntnisse zu stärken. Es erscheint deshalb auch angebracht, die Frage aufzuwerfen, ob er den von ihm gefundenen psychologischen Regeln nicht selbst unterliegt und die Gültigkeit seiner eigenen Lehre überschätzt. Diese Frage muss letztlich jeder für sich selbst entscheiden, deshalb kann die Lektüre dieses Kommentars das eigene Lesen des Buches nicht ersetzen, sondern nur anregen. Gemäß dem Titel des Buches konzentriert sich der Autor auf die Vermeidung von Fehlentscheidungen aus der Sicht des Individuums auch dort, wo es um Entscheidungen über gesellschaftliche und politische Probleme geht. Entscheidungen über politische Fragen müssen aber auch aus einer überindividuellen Sicht auf Rationalität geprüft werden. Aus dieser Perspektive bietet das Buch von „Kreschnak, Horst:  Rationales Entscheiden in Geschichte und Gegenwart „ wesentlich weitergehende und tiefgründigere Analysen.



Juli 2017
Bertram Köhler