Evolutionspotenzial in der DDR
Wie Vesper für die Bundesrepublik untersuchte Wolfgang Engler in seinen Buch "Die Ostdeutschen" soziologische Entwicklungen in der DDR, betrachtete aber weniger statistische Verteilungen, sondern die Entstehung und Entwicklung gesellschaftlicher Krisensituationen in der DDR und die Haltung der Bevölkerung hierzu. Die erste dieser Krisen wurde durch die nach dem Scheitern der Bemühungen Stalins zur Bildung einer deutschen Konföderation 1952 in Angriff genommenen Maßnahmen zum beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR durch Enteignungen, Verstaatlichungen, Preiserhöhungen und Normerhöhungen ausgelöst. Nach dem Tode Stalins im März 1953 wurden diese Maßnahmen zwar wieder zurückgenommen, die Normerhöhungen aber blieben und führten zum Aufstand vom 17. Juni und in der Folgezeit zu einem Spannungsverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Regierung, das dazu führte, das später immer dringender erforderliche ökonomische Korrekturmaßnahmen von den Regierenden nicht mehr gewagt wurden, unterblieben und dadurch weitere Krisen auslöst wurden. Von den Geistesschaffenden wurde dieser Aufstand kaum unterstützt. Erst nach den Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU rebellierten Teile der Kulturschaffenden, die radikalere Veränderungen des politischen Kurses in der DDR erreichen wollten ( Harich, Janka, Bloch, Merker, Behrens). Diese Bewegung wurde aber von den Arbeitern nicht unterstützt und von den Regierenden rigoros mit Hilfe von Strafmaßnahmen unterdrückt. Die wirtschaftliche Situation in der DDR aber konnte durch die Schließung der Grenze 1961 stabilisiert werden und es begannen kulturelle und wirtschaftliche Reformbewegungen, die von oben unterstützt und geduldet wurden.
Die kulturellen Reformen wurden mit dem 11.Plenum des ZK 1965 von Walter Ulbricht gestoppt, um auf wirtschaftlichem Gebiet das Neue Ökonomische System gegen seine Gegner in den eigenen Reihen um so besser durchsetzen zu können. Die kulturellen Reformer konnten erfolgreich vereinzelt werden und gaben ihren Widerstand auf. Die wirtschaftlichen Reformen aber führten nicht dazu, dass die Betriebe ökonomisch selbständiger wurden und gezwungen waren, rationeller zu arbeiten, sondern die Werkleitungen nutzten zusammen mit ihren Belegschaften die Lücken der Gesetzgebung, um die Produktion auf solche Produkte zu konzentrieren, mit denen leicht Gewinne zu machen waren, mit denen sie dann ihr Lohnniveau anheben konnten. Dadurch wuchsen die Disproportionen weiter an, das NÖS wurde auf Eis gelegt und nicht konsequent umgesetzt. Besonders nach der unter Mithilfe von Breschnew erwirkten Ablösung von Walter Ulbricht durch Erich Honecker wurde die Planung und Leitung wieder verstärkt zentralisiert und aufkommende Unzufriedenheit hierüber durch die Auflegung der Sozialprogramme des Wohnungsbaues und die konsequente Erhöhung des Lebensstandards paralysiert. Dass durch diese Politik die Entwicklung neuer Technologien und die Erneuerung der Produktionsgrundlagen ins Hintertreffen geriet, wurde erst in den 80er Jahren offensichtlich. Mit der Erhöhung des Lebensstandards wurde das Interesse der Arbeiter auf die Erhöhung ihres Wohlstandes gelenkt und die politischen Interessen erlahmten. In den Kreisen der künstlerischen Intelligenz erwachsender Widerstand brach mit der Ausweisung von Biermann 1976 zunächst voll aus, konnte aber durch einen Kompromiß in Bahnen gelenkt werden, die den Künstlern gewisse Freiheiten ließen, direkte Angriffe auf die Staatsmacht aber unterbanden. In den 80er Jahren bewegte sich dann nichts mehr, das kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben stagnierte, es gab kaum noch jemanden, der den politischen Kurs uneingeschränkt für richtig hielt, aber nur wenige hatten Lust, sich für eine Veränderung stark zu engagieren. In den Mittelpunkt der Interessen rückten Wohnung, Auto, Datsche und Reisen. Dies änderte sich erst wieder mit dem Auftreten von Gorbatschow und den zunehmenden politischen Differenzen der SED-Führung zu ihm.
Die Arbeiter hatten in der DDR zwar nicht die politische Herrschaft, aber sie dominierten sozial und kulturell in der Gesellschaft. Dabei gab es weder wesentliche Vermögensunterschiede noch Standesgrenzen. Die Nachteile, die sich aus niedrigerer Bildung und Qualifikation gegenüber der Leiterklasse und der Intelligenz ergaben, wurden hinsichtlich ökonomischer Fragen durch größeres Geschick in der Feierabend- und Heimwerkertätigkeit ausgeglichen. Ein niedrigeres Engagement in politischen Organisationen hatte weniger Nachteile und mehr Vorteile bezüglich Freizeittätigkeit und Unabhängigkeit und führte zu einem nie gekannten Selbstbewußtsein in der Arbeiterklasse. "Dass Arbeit zunächst Dienst an fremden Bedürfnissen und Existenzgarantie nur dann ist, wenn diese angemessen befriedigt werden, hielt der Arbeiter für eine boshafte Verdrehung der Tatsachen." Soziale Gleichheit und ökonomische Unabhängigkeit war das Selbstverständliche und übermäßiger Reichtum wurde beargwöhnt. Letzterer entstand durch außergewöhnliche Privilegien und durch Westverwandtschaft und wurde durch die unpopulären Intershops noch gefördert, wodurch in den 80iger Jahren der Konfliktstoff anwuchs.
Die politisch engagierten in der DDR lassen sich in drei Generationen aufgliedern. Die erste Generation der DDR-Bürger waren die Jahrgänge um 1920 und früher, sie bildeten die Aufbaugeneration, waren der DDR sehr verbunden und gehörten entweder zu der Funktionärselite oder zu den oppositionellen Partisanen.(Janka, Harich,Bloch, Schirdewan, Oelßner). Die zweite Generation waren die um 1930 Geborenen. Diese engagierten sich in den 60er Jahren und sind verantwortlich für die Reformen und für die Aufbruchstimmung der 60iger Jahre. Sie wollten einerseits sich anbahnende Verkrustungen lockern, scheuten aber davor zurück, die verdienten Funktionäre der ersten Generation zu entmachten. Ein Teil dieser Leute paßte sich an und übernahm in den 70er Jahren die Führung, während ein anderer Teil sich weiterhin mit abnehmender Konsequenz für politische Veränderungen einsetzte. Die dritte Generation der um 1950 Geborenen war die kritische Generation der 68er Jahre. Sie gliederten sich in den 70er Jahren kritisch in das gesellschaftliche Leben ein und zerfielen etwa 1980 in zwei Gruppen. Die erste Gruppe versuchte Systemveränderungen von innen aus den staatskonformen Organisationen und Institutionen heraus zu bewirken. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stand die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, nicht Humanisierung und Moral. Die zweite Gruppe stellte sich außerhalb des Systems und versuchte durch oppositionelle Umweltgruppen und kirchliche Organisationen Veränderungen zu erreichen. Beide Gruppen bekämpften sich gegenseitig und waren nicht in der Lage, in der Wendezeit weiterführende strategische Konzeptionen zu entwickeln. Die führungslose Masse der Menschen vertraute sich deshalb der politischen Führung der Bundesrepublik an.