Biologie, die Wissenschaft des Lebens (nach Ernst Mayr)

  1. Unbelebte und belebte Welt gehorchen beide den universalen Gesetzen, welche die physikalischen Wissenschaften entdeckt und analysiert haben. Doch lebende Organismen folgen außerdem noch den Anweisungen des genetischen Programms und bilden eine Hierarchie von immer komplexeren Systemen, von Molekülen, Zellen und Geweben, bis hin zu ganzen Organismen, Populationen und Arten. In jedem höheren System treten Merkmale auf, die sich allein aus Kenntnis der Bestandteile nicht hätten voraussagen lassen. Dieses Phänomen der Emergenz beschränkt sich jedoch nicht auf die belebte Welt.
  2. Lebende Organismen haben folgende charakteristischen Fähigkeiten:
  1. Ziele aller Wissenschaften, also auch der biologischen Wissenschaften sind die Befriedigung der Neugierde und die Verbesserung der Welt. Ob Wissenschaft wertfrei ist oder Werte begründet oder untergräbt, ist umstritten. Mayr betont jedoch die Wissenschaft als großartige Leistung des menschlichen Geistes.
  2. In der Biologie gibt es kaum universale Gesetze wie in den physikalischen Wissenschaften. Die Gesetzmäßigkeiten der Biologie sind meistens probabilistischer Art. Die meisten Streitpunkte der Wissenschaften resultieren aus unterschiedlichen Definitionen der verwendeten Begriffe.
  3. Die Biologie ist in großen Teilen eine historische Wissenschaft und die von ihr untersuchten Phänomene haben immer mindestens 2 verschiedene Ursachen, eine funktionale und eine evolutionäre, die zudem keine ein-eindeutige Erklärung liefern. Eine Ursache kann so zu verschiedenartigen Ergebnissen führen und ein Ergebnis kann verschiedene Ursachen haben. Deshalb ist die Biologie von vornherein pluralistisch angelegt.
  4. Das menschliche Gehirn hat sich mit seiner gegenwärtigen Struktur und Kapazität vor etwa 100000 Jahren als Überlebensinstrument herausgebildet und ist deshalb grundsätzlich in der Lage, den für das Leben des Menschen wichtigen Teil der Welt richtig zu erfassen. Es besteht aus 3 Regionen mit unterschiedlichen Funktionen. Der erste Teil enthält erblich festgelegte Programme, die bereits bei Geburt vorliegen und die Lebensfunktionen und das Verhalten in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen steuern. Der zweite Teil ist für die Ausführung offener Programme geeignet, deren spezifische Funktionen erst im Jugendalter festgelegt werden und die Übernahme der von den vorherigen Generationen erworbenen Eigenschaften und Erfahrungen ermöglichen. Diese Programme ändern sich im späteren Leben kaum noch (z.B. Muttersprache). Ein dritter Teil speichert die im Laufe des weiteren Lebens erworbenen Informationen und Erfahrungen und ermöglicht die weitere geistige Entwicklung des Menschen. Hierfür scheinen sich nicht spezifische neuronale Strukturen zu bilden, sondern lediglich Funktionsprogramme und Daten gespeichert zu werden. Dieser Teil ermöglicht auch wissenschaftliche und künstlerische Betätigung.
  5. Ungeachtet der Tatsache, daß wir wohl niemals in der Lage sein werden, die absolute Wahrheit zu erkennen und daß sich zahlreiche Wissenschaftler lediglich der Zusammenstellung bereits bekannter Fakten und Zusammenhänge widmen, gibt es dennoch laufend echte Fortschritte auf allen Gebieten der wissenschaftlichen Erkenntnis, allerdings nicht immer geradlinig. Dies weist Mayr anhand der Zellbiologie explizit nach.
  6. Mayr lehnt die Kuhnsche Theorie der Wissenschaftsentwicklung, wonach längere Zeiten normaler Entwicklung durch kurzfristige Revolutionen, in denen sich die Paradigmen der Wissenschaften schnell verändern abgelöst werden, zumindestens für das Gebiet der Biologie ab. Vielmehr entwickeln sich die Wissenschaften in einem Darwinschen Prozess der Variation und Selektion..
  7. Alle Wissenschaften, auch die biologischen, beginnen mit der Beschreibung und Ordnung von Fakten und schreiten fort zu Analysen, Erklärungen und Theorien. Wegen der Vielfalt des Lebens ist die Beschreibung und Klassifikation ein besonders umfangreicher Teil der Biologie.
  8. Die Entwicklung des Individuums wird durch die in den Genen fixierten Programme gesteuert. Die während der Ontogenese entstehende somatische Umgebung der Gene bewirkt dabei aber auch die Zu- und Abschaltung spezifischer Gene, welche die Entwicklung der Organe steuern, während die Umweltbedingungen kaum darauf Einfluß nehmen. Die Evolution mitgliederreicher Arten schreitet unter diesen Bedingungen nur langsam voran, weil der Genpool eine große Variationsbreite besitzt und sich Mutationen in der Art nur langsam durchsetzen. Die Variationsbreite des Genpools ermöglicht dagegen eine Anpassung der Art an sich ändernde Umweltbedingungen. Kleinere Populationen einer Art entwickeln sich daher schneller, weil sich positive Mutationen schneller in der Population durchsetzen.
  9. Die Darwinsche Evolution besteht aus zufälliger Variation der Gene und Selektion des Phänotyps nach der Gesamtheit seiner Eigenschaften. Die Zufälligkeit bedingt, daß nicht zwangsläufig besseres entsteht. Es entsteht deshalb auch keine Vollkommenheit. Die Selektion setzt stets am Individuum an und bewirkt lediglich eine Verschiebung der mittleren Eigenschaften einer Population. Durch Veränderung der Umgebungsbedingungen kann auch besseres zugrunde gehen und weniger gutes neue Entwicklungschancen erhalten. Insbesondere können durch Aussterben von Arten andere Arten sich ausbreiten oder durch die Entstehung neuer Arten alte aussterben. Fortschritt ist damit lediglich ein Nebenprodukt des Zufalls und der Selektion. Gruppenselektion kann nur eintreten, wenn innerhalb einer Gruppe soziales Verhalten Bedeutung hat, welches über zweiseitige Beziehungen hinausgeht. Die Darwinsche Theorie wird durch die Molekularbiologie in allen Aussagen gestützt, da
  1. Sprache, Gehirn und Kultur entwickelten sich vor 300 000 Jahren sehr rasch, als das Jagen in kleinen Gruppen vorherrschte. In diesen Gruppen waren Individuen mit großen Gehirnen stark im Vorteil, die Sterblichkeitsrate war hoch und die kleine Population förderte eine schnelle Evolution. Vor 100 000 Jahren kam die Entwicklung des Gehirns zum Stillstand. Man vermutet, daß hierfür die Vergrößerung der Gruppen die Ursache war. In diesen größeren Gruppen hatten Individuen mit größeren Gehirnen nicht mehr so starke Fortpflanzungsvorteile und die Individuen mit kleineren Gehirnen genossen stärkeren Schutz, so daß deren Sterblichkeitsrate sank. Die kulturelle Entwicklung verlagerte die Konkurrenz und Selektion von innerhalb der Gruppe zu den Gruppen untereinander, so daß von nun an weniger die individuelle Intelligenz als vielmehr die Kultur der Gruppe die Evolution beförderte. Dieser Trend verstärkte sich besonders mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht vor 10 000 Jahren.
  2. Die in der Massengesellschaft des modernen Menschen riesige Größe des Genpools verhindert die weitere genetische Entwicklung des Menschen und die weltweite Kommunikation die Speziation der Rassen. Gleichzeitig ermöglicht die Individualität und Vielfalt des menschlichen Genotyps die vielseitige Zusammenarbeit und Arbeitsteilung in einer sozialen Struktur und ist damit die Grundlage der modernen Gesellschaft.
  3. Gleichheit aller Menschen kann nur Gleichheit vor dem Gesetz und Chancengleichheit bedeuten, aber niemals vollkommene Identität, denn es gibt keine 2 Individuen, deren Genotypen und Phänotypen wirklich gleich sind. Das Gleichheitsprinzip angesichts der biologischen Vielfalt des Menschen richtig anzuwenden erfordert deshalb große Sensibilität und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Dies ist ein Problem der Kultur, der Ethik und Moral.
  4. Die Entwicklung von Ethik und Moral sind eng mit der genetischen und kulturellen Entwicklung des Menschen verbunden. Ein Individuum ist in 3-facher Hinsicht Ziel der Selektion: als Individuum, als Familienmitglied und als Mitglied einer sozialen Gruppe. Als Individuum werden nur eigennützige Neigungen von der Selektion belohnt, in den anderen beiden Kontexten aber auch Altruismus. Altruistisches Verhalten gibt es auch im Tierreich auf der Basis des Instinkts, ethisches Verhalten setzt jedoch geistige Fähigkeiten voraus, wie die Fähigkeit, die Folgen seiner eigenen Handlungen vorauszusehen, die Fähigkeit, Werturteile zu fällen und die Fähigkeit, zwischen alternativen Handlungsweisen zu wählen. Was als moralisch gilt, hängt von der Größe der Gruppe, mit der man verbunden ist, und von ihrem Verhältnis zur Umgebung ab. Es setzen sich die traditionellen Normen durch, die der Gruppe die größere Beständigkeit verleihen. Die moralischen Eigenschaften der Individuen sind zum kleineren Teil angeboren, zum größeren Teil kulturell erworben entsprechend den 3 funktionellen Möglichkeiten des Gehirns (siehe 6.) (Siehe auch die Evolution der Psyche )
  5. Mayr vertritt eindeutig die Auffassung, daß die traditionellen westlichen moralischen Normen zu starr und der heutigen globalen Situation nicht mehr angemessen sind. Das betrifft insbesondere 3 große ethische Probleme unserer Zeit:

Die im letzten Satz getroffene Aussage scheint mir zu eng und widerspricht im Grunde dem sonst auch von Mayr vertetenen Evolutionsgedanken. Stabiles Gleichgewicht wäre das Ende der Evolution, das kann wohl nicht gemeint sein. Vielmehr muß wohl quantitatives Wachstum in weit größerem Umfang durch qualitatives abgelöst werden.

  1. Eine detaillierte Darstellung der biologischen Evolution, ihrer wissenschaftlichen Begründungen und eine Widerlegung der Argumente ihrer Gegner ist in Ernst Mayrs Buch "Das ist Evolution" enthalten.

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