Philosophie der biologischen Evolution

Eine vollständig determinierte Welt müßte ablaufen wie ein Uhrwerk. In ihr gibt es keine Probleme und keine Möglichkeit, die Abläufe irgendwie zu beeinflussen. Die reale Welt ist nicht von dieser Art. Popper kommt aus solchen philosophischen Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Evolution, die er in den folgenden Thesen zusammenfaßt:

1. Alle Organismen, angefangen von den primitivsten Arten bis zu den heute lebenden, sind ständig mit dem Lösen von Problemen beschäftigt.

2. Diese Probleme sind objektive Probleme, sie lassen sich nachträglich hypothetisch rekonstruieren.

3. Die Problemlösung erfolgt immer nach der Methode von Versuch und Irrtum: Neue Reaktionen, neue Formen, neue Organe, neue Verhaltensweisen, neue Hypothesen werden versuchsweise entwickelt und durch Fehlerelimination kontrolliert.

4. Die Fehlerelimination geschieht entweder durch die völlige Ausschaltung nicht erfolgreicher Formen (die Ausmerzung untüchtiger Formen durch die natürliche Auslese) oder durch (versuchsweise) Entwicklung von Steuerungsmechanismen, die unbrauchbare Organe, Verhaltensnormen oder Hypothesen abändern oder unterdrücken.

5. Der Einzelorganismus schiebt in seinem Körper die Steuerungen zusammen, die während der Entwicklung seiner Art ausgebildet wurden - ganz wie er in seiner ontogenetischen Entwicklung teilweise seine phylogenetische Entwicklung wiederholt.

6. Der Einzelorganismus ist eine Art Speerspitze der evolutionären Folge von Organismen, zu denen er gehört (seiner Art): Er ist selbst eine versuchsweise Lösung, der neue ökologische Nischen ausprobiert, sich eine Umwelt wählt und sie verändert. Er verhält sich damit zu seiner Art fast genauso wie die Handlungen (das Verhalten) des Einzelorganismus zu diesem Organismus: Der Einzelorganismus und sein Verhalten sind beides Versuche, die der Fehlereliminierung zum Opfer fallen können.

7. Der Grundablauf der Ereignisse bei der Evolution ist folgender:

Ausgangsproblem --> vorläufige Lösungen --> Fehlerelimination --> Folgeproblem

8. Das Schema 7. ist dem Schema des Neodarwinismus ähnlich. Nach dem Neodarwinismus gibt es jedoch nur ein Problem: das Problem des Überlebens. Und es gibt nur eine Art der Fehlerelimination: die Tötung des Organismus. Es wird übersehen, daß sich das Folgeproblem wesentlich vom Ausgangsproblem unterscheidet.

9. Die von Popper vorgeschlagene Evolutionstheorie unterscheidet zwischen dem Ausgangsproblem und dem Folgeproblem und zeigt, daß die Probleme oder Problemsituationen, mit denen der Organismus fertigzuwerden sucht, oft neu und selbst Ergebnisse der Evolution sind. Damit erklärt sich das schöpferische Element der Evolution.

10. Das neue Schema sieht die Entwicklung fehlereliminierender Steuerungen vor (Warnorgane wie das Auge), das sind Steuerungen, die Fehler eliminieren können, ohne den Organismus zu töten. Damit wird es letzten Endes möglich, daß unsere Hypothesen an unserer Stelle sterben.

11. Die Versuche und Irrtümer eines Wissenschaftlers bestehen aus Hypothesen. Bei Tieren und primitiven Menschen wird eine falsche Hypothese oder Erwartung dadurch ausgemerzt, daß die natürliche Auslese jene Organismen beseitigt, die diese Hypothese aufstellen und an sie glauben. Der wahre Wissenschaftler kritisiert seine falsche These selbst und läßt sie an seiner Stelle sterben, wenn sie sich nicht bewährt.

12. Das Bewußtsein erlangt evolutionäre Bedeutung, in dem es als übergeordnetes Fehlereliminationssystem arbeitet und eine "plastische" Steuerung realisiert. Große Mutationen in der Verhaltenssteuerung der Organismen haben eine größere Bedeutung für die Evolution als Mutationen der Ausführungsorgane. Während eine günstige Mutation in der Verhaltenssteuerung eine nachfolgende unabhängige Mutation der Ausführungsorgane in der selektiven Bewertung unterstützen kann, ist eine Rückwirkung im umgekehrten Falle nicht möglich.

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