Die Triebkräfte der biologischen Evolution
1. Strategie und Triebkräfte der biologischen Evolution hat Reichholf in seinem Buch "Der schöpferische Impuls" genauer analysiert. Seine Schlußfolgerungen werden in den folgenden Thesen zusammengefaßt.
2. Reichholf betont, daß erworbene Eigenschaften niemals im Erbgut an die kommende Generation weitergegeben werden. Häufigkeitsverschiebungen in der Verteilung von Erbeigenschaften werden durch die Selektion hervorgerufen, wenn sich die Umweltbedingungen verändern. Neue Eigenschaften entstehen durch zufällige Mutationen des Erbgutes, wobei die Variationsbreite durch die Selektion immer wieder eingeschränkt wird und dadurch eine Anpassung der Population an die Umweltverhältnisse erfolgt. Die Übertragung erworbener Verhaltenseigenschaften durch Lehr- und Lernprozesse wird von Reichholf an keiner Stelle betrachtet, darf aber meines Erachtens nicht vernachlässigt werden.
3. Bei gravierenden Veränderungen der Umwelt können einzelne Organe, die unter den alten Bedingungen allmählich entstanden sind und von andersartig gestalteten Organen anderer Arten funktionell nicht sehr verschieden sind, plötzlich ihre besondere Eignung für ganz andere Funktionen erweisen. In einem solchen Fall führt das zu einem Selektionsvorteil der betreffenden Art, der zu einem schnellen Anstieg der Häufigkeit und Bedeutung dieser Art führen kann. Zunächst bedeutungslose Mutationen, die sich allmählich angesammelt haben, können so plötzlich für die Entwicklung einer Art entscheidende Bedeutung erlangen und irrtümlich den Eindruck erwecken, als wären sie aus in der neuen Umgebung erworbenen Eigenschaften entstanden.
In diesem Zusammenhang weist Robert Wesson in seinem Buch "Die unberechenbare Ordnung" insbesondere darauf hin, daß oft komplizierte Organe vieler Lebewesen nur schlecht oder bei weitem nicht optimal an die Umweltbedingungen angepaßt sind und eine Entwicklung dieser Organe durch viele zufällige Mutationen und Selektion äußerst unwahrscheinlich ist, weil in den Zwischenstufen diese Organe unmöglich die Fitneß der Art wesentlich beeinflußt haben können. Entscheidend für solche Entwicklungen scheint vielmehr zu sein, daß die morphologische Entwicklung der Organe aus den inneren Bedingungen des betreffenden Lebewesens heraus vorgegeben ist und durch Mutationen lediglich ein Übergang aus dem Gebiet des einen Attraktors in das Gebiet eines anderen Attraktors erfolgt und erst das Endergebnis einer Selektion unterliegt. Die Anforderungen der Anpassung können nicht vorschreiben, wie sich die Organe im einzelnen zu entwickeln haben.
4. In vielen Fällen erzeugen die Stoffwechselprodukte neuer Arten einen Überschuß bestimmter Substanzen, die das vorher vorhandene ökologische Gleichgewicht erheblich stören. Die so entstehenden neuartigen Umweltbedingungen führen zu einer schnellen Entwicklung weiterer neuer Arten von Lebewesen durch den oben. beschriebenen Mechanismus, wobei gleichzeitig eine gewisse Anzahl der früher vorhandenen Arten ausstirbt. (Siehe Ökosysteme)
5. Sind durch die in These 4 beschriebenen Prozesse die Rohstoffüberschüsse aufgebraucht, so führt der dadurch entstehende Nahrungsmangel zu einer allmählichen Differenzierung der Arten, die durch Spezialisierung alle noch vorhandenen ökologischen Nischen besetzen.
6. Die biologische Evolution ist durch einen ständigen Wechsel zwischen Mangel und Überschuß charakterisiert, der zu einem Wechsel zwischen Zeiten der schnellen Herausbildung neuer Arten mit Zeiten der Herausbildung einer großen Artenvielfalt führt. Das vielzitierte ökologische Gleichgewicht ist ein Trugbild, in dem jede Evolution zum Erliegen käme.
7. Die Richtung des Evolutionsprozesses ist durch die zunehmende Emanzipation der Lebewesen von den Zwängen der Umwelt bestimmt. In dieser Hinsicht hat der Mensch die bislang höchste Entwicklungsstufe erreicht. Seine Weiterentwicklung steht im Zusammenhang mit den Veränderungen der Umwelt, die er selbst ungewollt hervorruft.
8. "Was für das Überleben zählte, waren nicht Größen oder Einzelleistungen, nicht die stärksten Gebisse oder die größten Sprungweiten, sondern die Bandbreite der Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Diese spiegelt am besten die Entwicklung des Gehirns wieder." Obwohl Reichholf feststellt, daß mit dem menschlichen Bewußtsein die Information eine gänzlich neue Qualität im Vergleich mit der im Erbgut fixierten Information erhält, betrachtet er den Menschen nur als höchstentwickeltes biologisches Wesen und zieht keinerlei Schlußfolgerungen im Hinblick auf sein gesellschaftliches Verhalten in einem gesellschaftlichen System oder gar zur Evolution gesellschaftlicher Systeme.
Die ökologische Krise wird jedoch die äußeren Bedingungen stellen, die die Menschheit zur Weiterentwicklung ihres Bewußtseins und ihrer gesellschaftlichen Organisationsformen zwingen werden.
9. In seinem Buch "Zeit und Wissen" stellt C.F. Weizsäcker fest, daß offensichtlich der Tod des Individuums keine Unvollkommenheit, sondern ein effektives Mittel zur Beschleunigung der Evolution der Arten darstellt: Kurzlebige Arten haben häufiger Gelegenheit zu mutieren.
Bei vielzelligen Organismen kann die schnelle Evolution der Zellen vorteilhaft für die Zellen, aber schädlich für den Organismus sein (Krebs). Die strenge Trennung genetischer von somatischen Zellen ist ein Schutzmechanismus, der die Vererbung solcher Mutationen verhindert.