Evolutionäre Erkenntnistheorie (Vollmer)
1. Evolution der Erkenntnisfähigkeit
1.1. Erkenntnis ist eine adäquate interne Rekonstruktion und Identifikation äußerer Objekte im Subjekt. Die evolutionäre Erkenntnistheorie setzt den hypothetischen Realismus voraus, demnach ist alle faktische Erkenntnis hypothetisch, also vorläufig, fehlbar und nicht sicher. Es gibt eine reale Welt, unabhängig von unserem Bewußtsein; sie ist strukturiert, zusammenhängend und quasikontinuierlich; sie ist teilweise erkennbar und erklärbar durch Wahrnehmung, Denken und eine intersubjektive Wissenschaft.
1.2. Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der biologischen Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen sind genetisch determiniert und im Rahmen der statistischen Streuung für alle Menschen mehr oder weniger gleich.
1.3. Weil biologische Anpassungen niemals ideal sind, ermöglichen die subjektiven Erkenntnisstrukturen, weil über Jahrmillionen getestet, zwar keine absolut wahre, aber doch eine angemessene Rekonstruktion realer Objekte, die mindestens in Bezug auf den mesokosmischen Lebensraum aber auch nicht völlig falsch sein kann.
1.4. Wahrnehmung, Erfahrung und theoretische (wissenschaftliche) Erkenntnis sind aufeinander aufbauende Erkenntnisstufen. Bei der Wahrnehmung erfolgt die innere Rekonstruktion realer Objekte unbewußt und unkritisch, in der Erfahrung aber bewußt, wenn auch noch unkritisch, in der theoretischen Erkenntnis schließlich bewußt und kritisch. Wahrnehmung ist interpretierte Empfindung und somit die unterste Stufe der Erkenntnis.
1.5. Das Gehirn ist als Überlebensorgan entstanden, als nützliches Instrument zur Wahrnehmung und Sammlung von Informationen (Erfahrung) und als solches genetisch determiniert. Seine Nutzung zur theoretisch - wissenschaftlichen Erkenntnis ist ein Nebenprodukt und nicht biologisch oder genetisch determiniert. Objektive Erkenntnis ist deshalb möglich und wahrscheinlich, aber nicht beweisbar, perfektes Wissen aus logischen Gründen unmöglich.
1.6. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht Ergebnisse der biologischen, sondern der kulturellen Evolution. Eine Erweiterung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im Sinne einer biologisch - genetischen Evolution würde Jahrmillionen dauern und ist deshalb für die kulturelle Entwicklung des Menschen irrelevant.
1.7. Die Welt, an die sich unser Erkenntnisapparat im Laufe der Evolution angepasst hat, ist nur ein Ausschnitt der wirklichen Welt, der sog. Mesokosmos. Der Mesokosmos ist die Welt der mittleren Dimensionen, die in der Zeit von Sekunden bis zu Jahrzehnten, in den Abständen von Millimetern bis zu Kilometern, in den Geschwindigkeiten von Ruhe bis zu 10 m/s ,in den Massen von Gramm bis zu Tonnen und in den Temperaturen von -10 Grad bis zu 100 Grad reicht und bei der Komplexität von 100 Wechselwirkungen endet.
1.8. Der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung ist nur der Mesokosmos zugänglich. Darüber hinaus kann nur theoretisch - wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden, deren reale Objekte nur dann "anschaulich" gemacht werden können, wenn ihre reguläre Transformation in den Mesokosmos möglich ist. Die Objekte der modernen Physik können nicht in den Mesokosmos transformiert werden und können deshalb auch nicht anschaulich sein. Anschaulichkeit ist kein Wahrheitskriterium.
1.9. Die theoretische Erkenntnis erfolgt durch unterschiedliche Projektionen realer Objekte auf unsere Sinnesorgane unter Verlust von Information. Die dadurch ausgelösten Empfindungen werden als Projektionen von hypothetisch postulierten äußeren Objekten interpretiert, die daraus intern zu rekonstruieren sind. Einunddasselbe reale Objekt hat je nach Entfernung, Projektionsrichtung und Art des Sinnesorgans unterschiedliche Projektionen und kann nur anhand seiner Invarianten als das gleiche Objekt erkannt werden. Der Erkenntnisfortschritt führt also zur Entdeckung von varianten Zügen der Natur.
1.10. Eine wissenschaftliche Erkenntnis ist nur dann objektiv, wenn sie, d. h. ihre Wahrheit, invariant ist gegenüber den Bedingungen, unter denen sie gewonnen wurde, wenn sie also unabhängig ist vom Beobachter, vom Bezugssystem, von der Prüfmethode und von willkürlichen Konventionen. Diese Invarianzkriterien sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend für einen Beweis der Objektivität, sie rechtfertigen aber die hypothetische Annahme der Objektivität.(Siehe auch Evolution in den Wissenschaften)
1.11. Die Mathematik ist als Strukturwissenschaft a priori wahr, sagt aber nichts über die reale Welt aus. Weil die Realität strukturiert und trennbar ist, kann Mathematik auf sie angewendet werden und projiziert dann bestimmte Aspekte der Realität in unser Bewußtsein.
1.12. Die Objektivität einer kausalen Beziehung ist dadurch gegeben, daß im Gegensatz zu einer bloßen Aufeinanderfolge zweier Ereignisse eine Übertragung von Energie in irgendeiner Form von der Ursache zur Wirkung erfolgt.
2.1. Die Evolutionstheorie ist eine empirisch - wissenschaftliche Theorie, auf deren Grundlage die Biologie von einer rein beschreibenden zu einer erklärenden Wissenschaft wurde.
2.2. In der biologischen Evolution wirken folgende sechs maßgebenden Evolutionsfaktoren zusammen:
- Zufällig und ungerichtet auftretende Mutationen sind die entscheidende Grundlage für das Evolutionspotential. Ihre phänotypischen Auswirkungen sind nicht gesetzmäßig mit den auslösenden Ursachen verknüpft, bilden jedoch die Basis für die Anpassungsfähigkeit der Spezies.
- Selektion ist wegen der Endlichkeit der Nahrungs- und Energiequellen unvermeidlich und wird nur bei günstigen Umweltbedingungen vorübergehend aufgehoben. Sie ist maßgebend für den Erhalt der (Erb-) Information, für die Anpassung an veränderte Umweltbedingungen und ermöglicht die infraspezifische Höherentwicklung der Arten.
- Die Annidation (Einnischung) erlaubt auf der Grundlage der Existenz und Neuentstehung ökologischer Nischen die Koexistenz verschiedenartiger Organismen und ist maßgebend für die Artenvielfalt.
- Die Isolation von Teilpopulationen ermöglicht die Bildung und Aufspaltung der Arten und beschleunigt deren Entwicklung, da sich neue Merkmale nicht in der gesamten Population durchsetzen müssen.
- Gendrift ist die allmähliche Verschiebung der Häufigkeitsverteilung im Genbestand einer Population und hängt von der Größe der Population ab. Statistische Schwankungen der Populationsgröße führen in kleinen Populationen zu einer Erhöhung der Evolutionsgeschwindigkeit.
- Die Genrekombination bei Paarung und Kreuzung erlaubt das gleichzeitige Ausprobieren vieler grundsätzlich lebensfähiger Varianten und erhöht die Evolutionsgeschwindigkeit der Arten.
2.3. Durch das Wirken der Evolutionsfaktoren kann die Mikroevolution ausreichend erklärt werden, bei der vorausgesetzt werden muß, daß jeder einzelne Evolutionsschritt zu einer Verbesserung der Überlebenschancen beiträgt. Bei der Makroevolution führen aber erst viele aufeinanderfolgende Evolutionsschritte zu einer merklichen Erhöhung der Fitneß. Deshalb muß bei der Makroevolution davon ausgegangen werden, das die sich entwickelnden Organe eine Doppelfunktion hatten, wobei die erste Funktion in jeden Einzelschritt zur Erhöhung der Fitneß beitrug, die zweite Funktion aber zunächst ohne Bedeutung war und erst nach einer langen Folge von Einzelmutationen nützlich wurde. Obwohl es viele Einzelbeispiele für die Entwicklung solcher Doppelfunktionen gibt, verbleiben noch zahlreiche Lücken bei der Erklärung von Makroevolutionen. Diese Lücken sind bedingt durch die in der Biologie immense Anzahl möglicher Kombinationen, von denen nur ein verschwindender Bruchteil zufällig realisiert wird. (Es gibt im Weltall "nur" 10^80 Elementarteilchen, aber allein die Zahl der möglichen Drosophila - Varianten wird auf mindestens 10^3000 geschätzt). Es ist deshalb auch in Zukunft nicht zu erwarten, daß die Evolutionstheorie die biologische Evolution "vollständig" erklären kann.
2.4. Eine gesetzmäßige Abfolge von Ereignissen begründet nur dann eine kausale Beziehung, wenn ein Energieübertrag von der Ursache zur Wirkung erfolgt. Ob ein Ereignis zufällig oder kausal begründet ist, kann deshalb empirisch überprüft werden. Kausale Beziehungen in der Realität werden dabei genauso wie regelmäßige zeitliche Abfolgen durch logische Beziehungen in der Theorie abgebildet. Die Zuordnung der kausalen Beziehungen der Welt zu logischen Beziehungen der Theorie ist zwar eindeutig, aber nicht eindeutig umkehrbar. Im Mesokosmos gibt es keine regelmäßig aufeinanderfolgenden, nicht direkt oder indirekt kausal bedingten Ereignisse. Ob das auch im Mikrokosmos gilt, ist zur Zeit offen.
2.5. Die Wissenschaft kann auch einmalige Ereignisse beschreiben, aber nur wenn und wo es kausale Beziehungen gibt, kann sie diese untersuchen und erklären.
3. Geist und Materie
3.1. Vertreter des psychoneuralen Dualismus akzeptieren heute nur noch den Interaktionismus als wissenschaftlich vertretbar, der Gehirn und Geist als zwei unterschiedliche "Substanzen" sieht, die in enger aktiver und gegenseitiger Wechselwirkung stehen. Der Dualismus fragt nicht danach, wie der Geist entstanden ist. Er war schon immer da oder wurde mit der Materie geschaffen.
3.2. Vom Standpunkt einer systemtheoretisch orientierten evolutionistischen Identitätstheorie aus ist der Geist eine Funktion des Gehirns, die erst auf einer gewissen Organisationshöhe des Zentralnervensystems auftritt. Die evolutionistische Identitätstheorie steht eigentlich auf dem Boden des dialektischen Materialismus und grenzt sich lediglich von dessen unpräzise definierten Begriffen des dialektischen Umschlagens von angehäufter Quantität in neue Qualität ab, da Quantität und Qualität unterschiedliche Kategorien sind, die nicht ineinander überführt werden können. Das Entstehen einer neuem Qualität ist vielmehr ein Effekt, der darauf beruht, daß ein System neue Eigenschaften besitzen kann, die bei seinen Elementen noch nicht vorhanden sind (Emergenz).
3.3. Zahllose Experimente zeigen, wie eng die Beziehungen zwischen Gehirn- und Bewußtseinsprozessen sind. Sie bestätigen die identistische Vermutung, daß jedem geistigen Zustand oder Vorgang ein materieller entsprechen müsse, da er ja letztlich mit einem solchen identisch sei. Aber alle diese Befunde lassen sich auch dualistisch deuten, denn was durch einen Faktor, eine Ursache eine Substanz erklärt werden kann, das kann alle mal und erst recht durch zwei Faktoren, zwei Ursachen, zwei Substanzen erklärt werden. Der Dualismus läßt sich deshalb weder logisch noch empirisch zwingend widerlegen. Er ist nach Popper eine nicht prüfbare Theorie und der Identismus muß deshalb als die leichter prüfbare Theorie dem Dualismus vorgezogen werden, auch wenn letzterer nicht widerlegt werden kann.
3.4. Die für den Menschen unvergleichbare Verschiedenheit der materiellen und psychischen Vorgänge beruht auf der Tatsache, daß der Mensch bislang zwar die Bausteine des Gehirns kennt, aber nicht seine innere Struktur. Physische und psychische Vorgänge aber sind verschiedene Projektionen der Struktur des Gehirns. Die wesentlichen neuen Eigenschaften eines Systems werden aber nicht nur durch seine Bausteine, sondern vor allem durch seine Struktur bestimmt.
3.5. Die drei das Bewußtsein charakterisierenden Gehirnfunktionen, Gedächtnisfunktion, die Abbildfunktion und die Simulationsfunktion, sind zwar für die biologische Evolution nicht zwingend notwendig, führen aber zu Überlebensvorteilen, was ihre Entstehung und Beibehaltung erklärt.
4. Die Evolution der Wissenschaft
4.1. Wissenschaft hat kognitive und praktische Ziele. Kognitive Ziele sind Beschreibung und Erklärung, praktische Ziele sind Voraussage und Anwendung. Das entscheidende Merkmal des Wissens ist auf der kognitiven Seite seine Wahrheit und auf der praktischen Seite seine Nützlichkeit. Beide Ziele können nicht unabhängig voneinander verfolgt werden. Wer Wissenschaft um der Erkenntnis willen betreibt, dem dienen die Anwendungen als der Bereich, wo Hypothesen getestet werden und wer praktisches Handeln als Ziel sieht, dem dient Erkenntnis als Mittel zum Zweck. Wissen bedeutet Überleben und Macht.
4.2. Die Welt ist ein großes und komplexes System. Größe beruht auf den räumlichen Abmessungen, Komplexität auf der Anzahl der Bestandteile und der Zahl und Verwickeltheit ihrer Beziehungen. Die Welt hat aber nicht die maximal mögliche Komplexität, denn dann wäre sie strukturlos und völlig unregelmäßig, es gäbe keine Gesetzmäßigkeiten und alles wäre zufällig. Die kognitive Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, von den Redundanzen der Welt Gebrauch zu machen, um eine möglichst einfache, redundanzfreie Beschreibung zu finden. Die Vereinheitlichung der Wissenschaften bedeutet die Beseitigung der Redundanzen in der Beschreibung der Welt.(Kolmogorows Definition der Komplexität vorausgesetzt)
4.3. Vereinheitlichung der Wissenschaften bedeutet Vereinheitlichung der Methodik und Vereinheitlichung der Terminologie und des Sprachgebrauches und beruht auf der Isomorphie der Strukturen und der inneren Widerspruchsfreiheit der Welt. Obwohl sich viele komplizierte Gesetze und Strukturen auf einfache reduzieren lassen, hat die Reduktion auch Grenzen, und zwar dort, wo komplexe Systeme gegenüber ihren Bestandteilen qualitativ neue Eigenschaften aufweisen. Emergenz ist nicht reduzibel.
4.4. Die Ontologie ist eine allgemeine Wissenschaft, die empirische Fakten beschreibt, die in vielen Wissenschaftsdisziplinen auftreten, aber von keiner von ihnen behandelt werden. Die Ontologie versucht zu beantworten, wie die Welt beschaffen ist.
Die Erkenntnistheorie untersucht die allgemeinen Beziehungen zwischen der Beschaffenheit der Welt und unserem Wissen über die Welt.
Die Methodologie untersucht und verallgemeinert die Art und Weise, in der wir zu unserem Wissen über die Welt gelangen.
4.5. Die Vereinheitlichung der Wissenschaft beruht auf folgenden ontologischen Erkenntnissen:
Die reale Welt ist ein einziges einheitliches System, das in sich zusammenhängend ist.
Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Welt beruhen (räumlich) auf physikalischen Wechselwirkungen und (zeitlich) auf kausalen Prozessen.
Die Teilsysteme der Welt sind hierarchisch strukturiert und näherungsweise trennbar.
Komplizierte Systeme sind in einem einzigen Evolutionsprozeß und gemäß kausalen Gesetzen aus einfachen hervorgegangen.
4.6. Erkenntnistheoretisch beruht die Einheit der Wissenschaft auf der adäquaten Rekonstruktion und Identifikation der realen Strukturen der äußeren einheitlichen Welt im Bewußtsein.
Die Naturgesetze sind Regelmäßigkeiten im Verhalten realer Systeme und gelten ohne Ausnahme, wenn wir sie einmal richtig erkannt haben.
Unser Erkenntnisapparat ist selbst ein Ergebnis der biologischen Evolution.
4.7. Methodologische Einheit der Wissenschaft bedeutet:
- Unsere Beschreibungen der Welt müssen widerspruchsfrei sein.
- Unser faktisches Wissen muß intersubjektiv formuliert und prüfbar sein, es muß objektiv, d.h. invariant sein.
- Wissenschaftliche Begriffe sind durch Definitionen und wissenschaftliche Hypothesen durch Ableitungen soweit wie möglich zu reduzieren.
- Kausale Beziehungen in der Natur sind auf logische Beziehungen in unseren Theorien abzubilden.
- Komplizierte Systeme sind aus ihren Bestandteilen heraus zu erklären (Reduktionismus). Wo dies nicht möglich ist, sind die Ursachen hierfür zu suchen.
4.7. Obwohl die Vielfalt und Unüberschaubarkeit der Wissenschaften zunimmt, nimmt auch ihre Vereinheitlichung zu. Jede einzelne Wissenschaft durchläuft eine Evolution von der einfachen Beschreibung über die Systematisierung zur kausalen Begründung und Erklärung der Fakten und Prozesse der Welt und es vollzieht sich eine ontologische, erkenntnistheoretische und methodologische Vereinheitlichung aller Wissenschaftsdisziplinen. Wenn alle Systeme in einem historisch einmaligen Prozeß fortschreitender Integration durch kausale Prozesse entstanden sind und wenn Kausalbeziehungen der Natur auf logische Beziehungen in wissenschaftlichen Theorien abgebildet werden, dann muß es möglich sein, die evolutive Einheit der Natur in einer deduktiven Einheit der Wissenschaft zu spiegeln, auch wenn mit wachsender Komplexität immer neue Probleme entstehen.
4.8. Die kosmische Evolution ist ein gerichteter Prozeß mit wachsender Komplexität und kausaler Verknüpfung, bei der das Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit eine faszinierende Rolle gespielt hat. Es sieht so aus, als ob der Einfluß des Zufalls mit wachsender Komplexität zunimmt. In eben dieser Weise entwickelt sich auch die Wissenschaft.
4.9. Die Vereinheitlichung der Wissenschaft darf nicht im Sinne eines naiven Reduktionismus verstanden werden, der ursprünglich z. B. zum Ziel hatte, die biologischen Gesetze aus rein physikalischen Gesetzen abzuleiten oder zu erklären. Eine solche Ableitbarkeit ist rein aus systemtheoretischen Gründen nicht zu erwarten, da ein biologisches System wegen der Vielzahl seiner Bestandteile eine immense Zahl (>10^3000) von Realisierungsmöglichkeiten besitzt, die niemals deterministisch ableitbar sind. Dasselbe gilt für die Chemie. Approximativ sind die chemischen Gesetze aus den quantentheoretischen ableitbar, aber wir schaffen es wegen der Komplexität chemischer Systeme einfach nicht, die für eine strenge Reduktion erforderlichen Rechnungen durchzuführen. Die Realisierbarkeit eines systemtheoretisch entschärften Reduktionismus ist deshalb nicht beweisbar, aber auch nicht widerlegbar und kann deshalb durchaus weiterhin Grundlage einer einheitlichen Wissenschaftstheorie sein.
4.10. Die Evolution realer Systeme vollzog sich im Laufe von Jahrmilliarden in der Reihenfolge Physikalische Systeme, Chemische Systeme, Biologische Systeme, Bewußte Systeme, Soziale Systeme. In eben dieser Reihenfolge entstanden und entwickelten sich im Laufe von Jahrhunderten die Physik, die Chemie, die Biologie, die Psychologie, die Soziologie.
Innerhalb dieser Einzelwissenschaften vollzog sich zunächst eine Aufspaltung in Teildisziplinen und später eine Reduktion, Zusammenfassung und Vereinheitlichung auf der Grundlage tiefliegender gemeinsamer Gesetzmäßigkeiten.
4.11. Die durch die Evolution bedingte zeitliche Ordnung ist zugleich auch eine hierarchische Ordnung der empirischen Wissenschaften und ihrer Objekte. So wie die realen Systeme aufeinander aufbauen, bauen auch die Wissenschaftsdisziplinen aufeinander auf. Die Gesetze der hierarchisch untergeordneten Wissenschaften gelten uneingeschränkt auch in den übergeordneten Systemen, wobei in den übergeordneten System jeweils zusätzliche Regeln gelten, die für die untergeordneten Systeme völlig bedeutungslos sind.
5.1. Die Bevölkerungsexplosion, die Endlichkeit der Erdoberfläche und die Verdopplung des Wissens in jeweils 15 bis 20 Jahren stellen die Menschheit in absehbarer Zeit vor Probleme, deren Lösung derzeit noch nicht in Sicht ist. Eine genetische Weiterentwicklung der Leistungsfähigkeit des Gehirns durch eine Mutation setzt sich nur im Laufe von zehn- bis zwanzigtausend Jahren durch. Der Mensch muß also mit der derzeitigen Ausstattung des Gehirns auskommen.
5.2. Möglichkeiten zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten zur Abbildung, zur Informationsspeicherung und zur Simulation ergeben sich durch eine bessere Ausnutzung der vorhandenen Kapazitäten des Gehirns durch bessere Lernmethoden und neue, lebenslange Lernstrategien, durch intersubjektive Zusammenarbeit der Individuen in übergeordneten Systemen (Teamwork) und durch Nutzung der Möglichkeiten von Computern.
5.3. Die Leistungsfähigkeit der Computer bezüglich Rechengeschwindigkeit, Speicherumfang und Umfang der zu bearbeitenden Programme verdoppelt sich etwa alle zwei Jahre. Im Prinzip bewältigt ein heutiger Computer bereits die drei Hauptfunktionen des menschlichen Denkens, die Gedächtnisfunktion, die Abbildfunktion und die Simulationsfunktion, wenn auch in mancher Hinsicht noch wesentlich unvollkommener als das Gehirn. Wo seine Grenzen liegen, wissen wir noch nicht.
5.4. Der Computer wird es dem Menschen erleichtern, die Probleme der Zukunft zu simulieren, vorauszusehen und zu entscheiden. Es ist auch abzusehen, daß Computer im Wechselspiel mit Zufallsgeneratoren schöpferische Aufgaben werden lösen können. Empirische Forschung, Erkenntnisse der Logik und Erkenntnis der Natur reichen aber nicht aus, die Ziele der Evolution abzuleiten, ethische Werte vorzugeben und festzulegen, was Fortschritt ist. Ethische Normen, Gebote und Verbote können nicht von der Wissenschaft positiv gesetzt, sondern höchstens als nicht widerspruchsfrei oder in ihren logischen Folgerungen kritisiert werden.